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       # taz.de -- Berliner Musikerin Güner Künier: „Da ist etwas, das raus muss“
       
       > Zwischen Postpunk, Riot Grrrl und Krautrock: Güner Künier legt ihr
       > Debütalbum „Aşk“ vor. Darauf erzählt sie von Emanzipation – und von der
       > Liebe.
       
   IMG Bild: „Der Wunsch, Musik zu machen, ist tief in mir drin“: Güner Künier
       
       Güner Künier ist in zwei sehr unterschiedlich temperierten Küstenstädten
       aufgewachsen: In der türkischen Millionenstadt İzmir lebte sie bis zu ihrem
       dritten Lebensjahr, ehe es ihre Familie Anfang der Neunziger in den Norden
       Deutschlands nach Flensburg verschlug.
       
       Beides Städte, die man nicht gerade mit Punk und Subkultur assoziiert, doch
       Künier ist seit Jugendtagen von Undergroundmusik, von Grunge, Postpunk und
       NoWave fasziniert: „Als ich anfing bewusst Musik zu hören, haben mir
       [1][Bands wie Sonic Youth], Meat Puppets oder Hole gefallen, diese ganzen
       Achtziger- und Neunziger-Jahre-Sachen“, sagt die 33-Jährige. „Für eine
       junge Deutschtürkin war das damals eher ungewöhnlich. So eine wie mich gab
       es eigentlich gar nicht.“
       
       Inzwischen lebt Güner Künier seit neun Jahren in Berlin. Erst hier endete
       eine lange künstlerische Suche, die zugleich eine Emanzipationserzählung
       ist. Nachdem Künier 2021 als Solomusikerin zunächst eine 5-Song-EP
       vorlegte, veröffentlichte sie kürzlich ihr [2][Debütalbum „Aşk“] („Aşk“ ist
       das türkische Wort für „Liebe“) auf Kassette und digital.
       
       In Berlin bewegt sich Güner Künier in einem äußerst spannenden
       künstlerischen Umfeld. Produziert hat das Album der Berliner Musiker Sid
       Vision, ihr Artwork macht Magnus Krüger, der auch bildender Künstler ist
       und bei der [3][Minimal-Wave-Band ÖPNV] spielt.
       
       ## Manches erinnert an Teenageheld:innen
       
       Künier trat überdies schon gemeinsam mit der umtriebigen Darkwaverin Cosey
       Mueller auf, auch mit Bands aus dem Kosmos [4][des D.I.Y.-Labels Mangel
       Records] ist sie befreundet. Die meisten dieser Künstler:innen stehen
       für eine frischen Neuentwurf der Frühachtziger-Genres Synthpunk und Minimal
       Wave.
       
       Auch auf „Aşk“ sind Synthpunk-Stücke zu hören, etwa „Dön Bak“ und
       „Excellent Choices“, doch Güner Künier bedient insgesamt ein breiteres
       stilistisches Spektrum. So setzt das Album auch gleich mit einem
       psychedelisch-mäandernden Track ein, der sich an den Sound von Dreampop und
       Shoegaze anlehnt („Seasons Of Dreams“).
       
       Daneben erinnert so manches Gitarrenriff, so manche Gesangslinie an Küniers
       Teenageheld:innen Sonic Youth („Pose On“), in „Excellent Choices“ kommt
       dann noch ein Schuss Riot Grrrl á la Le Tigre dazu. Ihr Sound, sagt Künier
       dann auch während des Gesprächs in eine Neuköllner Kneipe, speise sich aus
       vielen unterschiedlichen Einflüssen: „In letzter Zeit habe ich auch viel
       Krautrock gehört. Und ich habe begonnen, mich mit Anadolu Rock zu
       beschäftigen, zum Beispiel mit Barış Manço oder Cem Karaca. Als Kind habe
       ich dagegen Turkish Pop gehört, der bei uns zuhause lief.“
       
       ## Ein Studium des Wirtschaftsingenieurswesens
       
       Bis zu ihrem Debütalbum war es ein alles andere als geradliniger Weg.
       Künier hat zwar schon im Alter von zehn Jahren begonnen Gitarre zu spielen,
       sie hatte als Jugendliche in Flensburg bereits zwei Bands. Doch während
       ihres Studiums des Wirtschaftsingenieurswesens in Heide/Holstein und Berlin
       pausierte sie mit dem Musikmachen, haderte mit ihrem unkonventionellen
       Lebensstil.
       
       „Ich war damals noch nicht so weit, mich gegen kulturelle oder
       gesellschaftliche Erwartungen zu stellen. In vielen türkischen Familien
       sind die Rollenbilder auch noch traditioneller als in deutschen Familien“,
       sagt sie. „Spätestens in Berlin habe ich aber gemerkt: Der Wunsch, Musik zu
       machen, ist tief in mir drin. Da ist etwas, das raus muss.“
       
       An der Spree machte sie noch ihren Master zu Ende, schlug dann aber eine
       Karriere als Schauspielerin und Musikerin ein. Zunächst spielte sie in
       einem Girl-Duo namens Baby Spice. Nach der Auflösung der Band begann sie
       solo Musik zu machen, vor allem mit Synthesizern und Gitarre. Aktuell gilt
       dem Soloschaffen all ihre Konzentration.
       
       ## Akzeptiert und geliebt werden, so wie sie ist
       
       Der Zickzackkurs und die Zweifel sind auch Thema auf „Aşk“. In „Pose On“,
       einem zentralen Track, singt Künier zunächst im Staccato-Duktus die Worte:
       „Straight Pose On“, ehe sie von Loslösung, von Selbstfindung und von
       (gewonnenen) Kämpfen singt: „Mom and dad/ How are you looking at me now/
       Cash cash gone/ I've been working on my own/ (…) Struggling all/ and all
       the nights/ Taking me down/ and all the fights“.
       
       Der Wille zur Selbstermächtigung und Neuorientierung klingt auch in
       „Places“ an: „No one told me where to go/ I belong to all this places“,
       heißt es in dem Song, der musikalisch an den Dark-Pop der [5][Berliner
       Britin Anika] erinnert. In einigen Stücken auf „Aşk“ singt sie auch
       erstmals auf Türkisch, und der Albumtitel („Liebe“) hat vielleicht auch mit
       den eingangs beschriebenen Emanzipationsbestrebungen zu tun.
       
       „Mit dem, was ich mache, bewege ich mich ja eher am Rande der Gesellschaft.
       Ich will aber so akzeptiert werden, wie ich bin und so geliebt werden, wie
       ich bin“, sagt Künier.
       
       Dass die Musiclover dieser Welt für sie viel Liebe übrighaben werden, ist
       nicht ganz unwahrscheinlich, denn Künier bringt sehr viele verschiedene
       musikalische Sprachen in diesen zehn Songs zusammen. Sie ist auf nichts
       festgelegt. Außer vielleicht darauf, dass sie ihre eigene Chefin ist, in
       ihrer Kunst, in ihrem Leben.
       
       19 Feb 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Autobiografie-der-Sonic-Youth-Bassistin/!5015386
   DIR [2] https://guenerkuenier.bandcamp.com/album/a-k
   DIR [3] https://oepnv.bandcamp.com/
   DIR [4] /Portraet-des-Labels-Mangel-Records/!5828949
   DIR [5] /Album-Change-von-Anika/!5789282
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Uthoff
       
       ## TAGS
       
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