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       # taz.de -- Klage gegen Literaturzeitschrift: Ein Verlust für alle
       
       > Das Landgericht Berlin hat der Akademie der Künste untersagt, die
       > Literaturzeitschrift „Sinn und Form“ herauszugeben. Das hilft niemandem.
       
   IMG Bild: Die Literaturzeitschrift „Sinn und Form“ darf nicht mehr von der Akademie er Künste herausgegeben werden
       
       In der aktuellen Ausgabe der Kulturzeitschrift Sinn und Form, die nun
       möglicherweise die allerletzte Ausgabe sein wird, findet sich eine schöne
       nachgelassene Erzählung des wichtigen Drehbuchautors Wolfgang Kohlhaase
       („Solo Sunny“, „Sommer vorm Balkon“). Es finden sich darin Briefe, die der
       polnische Klassiker Witold Gombrowicz in den 60er Jahren über Berlin, wo er
       eine Zeitlang lebte, geschrieben hat. [1][Annie Ernaux erklärt ihre Poetik]
       des „transpersonalen Ich“. An den Buchkünstler Horst Hussel wird erinnert
       mit dem schönen ersten Satz: „Der Unsinn kommt, gemessen an seiner
       unverhohlenen Weltherrschaft, in der Literatur immer noch viel zu kurz.“
       Und, und, und.
       
       Für die Zeitschrift insgesamt gilt also, was die Autorin Jutta Person in
       der Ausgabe über die Literaturkritiken Lothar Müllers schreibt: Sie ist ein
       „mehrdimensionales Gebilde, das sich aus Milieus und Literaturtraditionen
       zusammensetzt – und keiner festgelegten Richtung folgt“. Die Bestürzung
       über das Verbot dieser Kulturzeitschrift ist auch deshalb jetzt zu Recht
       groß.
       
       Es ist eben keineswegs so, dass wir einen riesigen Schatz an
       hintergründigen Magazinen hätten, der Verluste leicht verkraften könnte. Es
       existiert gerade einmal, na, ein Dutzend solcher Periodika.
       
       Außerdem gibt es in der Kulturszene auch einen Schock darüber, dass das
       Weiterbestehen einer Zeitschrift nicht nur durch den Markt und das Internet
       gefährdet ist, sondern auch durch unsolidarisches Verhalten untereinander.
       Frank Berberich von Lettre International, der das Verbot von Sinn und Form
       gerichtlich betreibt und nun einen Teilsieg errungen hat, hat Züge des
       sprichwörtlichen Michael Kohlhaas angenommen, eines Menschen, der
       Gerechtigkeit auch auf Kosten des allgemeinen Untergangs durchsetzen will.
       
       ## Sinn und Form ist nicht FAZ oder Die Zeit
       
       Es stimmt natürlich, die Finanzierungsmodelle der einzelnen Zeitschriften
       sind unterschiedlich und etwa unter Coronabedingungen auch unterschiedlich
       stressig. Sinn und Form wird von der Berliner Akademie der Künste getragen,
       die Zeitschrift für Ideengeschichte gleich von sechs Institutionen, die
       Zeitschrift Kulturaustausch vom Institut für Auslandsbeziehungen, der
       Merkur von einer privatwirtschaftlichen Stiftung, die Zeitschrift Sprache
       im technischen Zeitalter vom Literarischen Colloquium Berlin. Lettre
       dagegen muss sich am Markt finanzieren und ihr wurden Coronahilfen von der
       Bundeskultur verweigert mit Hinweis darauf, dass der Staat
       verfassungsrechtlich der Presse gar nicht helfen darf.
       
       Frank Berberich klagte also auf Gleichbehandlung und darauf, dass dann eben
       auch anderen Zeitschriften die staatliche Förderungen, welcher Art auch
       immer, zu entziehen seien.
       
       Nun ist [2][das Gebot der Staatsferne tatsächlich unverzichtbar], weil nur
       so das Wächteramt der Presse und ihre Unabhängigkeit gewährleistet werden
       können. Nur sind solche Zeitschriften wie Sinn und Form nicht in dem Sinne
       Presse, wie es die FAZ oder die Zeit, die SZ, Welt oder auch die taz sind.
       Es ist eine Publikation, die von einer gesellschaftlichen Institution – in
       die der Staat keineswegs einfach hineinregieren kann – getragen wird.
       Diese Institution wird vom Staat gefördert, um die kulturelle Infrastruktur
       vielfältig und tragfähig zu halten. Wenn diese Institution nun vollkommen
       zu Recht meint, dass dazu eine Zeitschrift hilfreich ist, dann ist das doch
       keine [3][„Staatspresse“, wie Berberich polemisch meint.]
       
       Außerdem hätte Lettre von einem Verbot von Sinn und Form gar nichts. Dass
       deren Leser*innen nach einer Einstellung in Scharen zu Lettre überlaufen
       würden, ist auszuschließen; dafür sind die Profile zu unterschiedlich. Zu
       hoffen ist also, dass die Akademie der Künste eine gerichtsfeste
       Möglichkeit findet, Sinn und Form weiter herauszugeben. Und man sollte auch
       die Hoffnung nicht aufgeben, dass klar wird: Es hilft niemandem, wenn in
       dem diffizilen Geflecht der deutschen Kulturzeitschriften die einzelnen
       Beteiligten aufeinander losgehen.
       
       Bei Buchverlagen und Buchhandlungen hat die Bundeskulturpolitik zuletzt
       einige Fantasie bewiesen, um den Bereichen zu helfen. Was spricht
       eigentlich gegen einen Preis für Kulturzeitschriften nach dem Modell der
       Verlagspreise oder gegen Übersetzerförderungen, die für die Lettre mit
       ihrer internationalen Ausrichtung ja nicht uninteressant wären?
       
       2 Mar 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Literaturnobelpreistraegerin-Annie-Ernaux/!5882552
   DIR [2] /Staatliche-Pressefoerderung/!5708594
   DIR [3] https://www.lettre.de/staatspresse-oder-pressefreiheit?fbclid=IwAR04L2nh9zPvRXg5Z1nLtwYGXAi3qGOo36tAQ-Go48Cz6RCvlQRpFS7Msu0
       
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