URI: 
       # taz.de -- Filmempfehlungen für Berlin: Keine Routine
       
       > Dominik Grafs Doku über Autor:innen im NS fokussiert auf
       > Bücherverbrennung und Opportunismus. Bei Chantal Akerman geht es um
       > Mutterschaft und Prostitution.
       
   IMG Bild: Beim Critics Poll die Nr. 1: Chantal Akermans „Jeanne Dielman, 23 quai du Commerce, 1080 Bruxelles“
       
       Was bewegte deutsche Schriftsteller:innen – darunter einige von ihnen,
       die dem Nationalsozialismus deutlich ablehnend gegenüberstanden – dazu, in
       der Zeit von 1933 bis 1945 nicht zu emigrieren und stattdessen in
       Deutschland zu bleiben? Wie lavierten sie sich durch? Und was löste das in
       ihnen aus? Wie blickt man heute auf sie? Das fragt sich Dominik Graf in
       seinem neuen Dokumentar-Essay „Jeder schreibt für sich allein“ („Melting
       Ink“), oder besser gesagt: Eigentlich fragte es sich der Schriftsteller
       Anatol Regnier, der ein gleichnamiges Buch im Jahr 2020 veröffentlichte,
       auf das sich der Film nun stützt. Regnier selbst ist präsent, führt als
       ausgesprochen kompetenter „Reiseführer“ durch Biographien und an Orte, an
       die sich die Porträtierten (darunter Hans Fallada, Ina Seidel und der
       aggressive Nationalsozialist Will Vesper) einst zurückzogen.
       
       Zu den berühmten Gebliebenen zählt zweifellos Gottfried Benn, der nach der
       Machtübernahme der Nazis erst ganz begeistert war von der „nationalen
       Revolution“ und später dann schwer enttäuscht und deprimiert. An seinem
       Beispiel diskutiert der Film die Frage, ob bedeutende Künstler auch „gute“,
       empathische und reflektierte Menschen sein müssten, oder ob das nicht – wie
       es hier einmal jemand formuliert – ein „Kinderglaube“ sei.
       
       Obwohl er der öffentlichen Verbrennung seiner Bücher beigewohnt hatte,
       blieb auch der Pazifist und Gesellschaftskritiker Erich Kästner in
       Deutschland. Den großen Gesellschaftsroman über das „Dritte Reich“, für den
       er quasi vor Ort Recherchen durchführte, schrieb er nie, und auch die
       Legende vom 12-jährigen Berufsverbot, an die er sich zeitlebens klammerte,
       ist bekanntlich löchrig, weil er zugleich unter Pseudonym weiter
       veröffentlichen konnte.
       
       Doch die Grundidee dieser verschieden umfangreichen Recherchen ist es,
       einer selbstgerechten Schwarzweiß-Malerei die Grautöne entgegen zu setzen:
       Die Zeit und die Umstände, in denen die Autor:innen lebten, waren
       letztlich so komplex wie ihre Persönlichkeiten. Zur Metapher für die
       Sinnlosigkeit dieses Denkens werden deshalb hier die Rohrschachtests, die
       ein US-amerikanischer Wissenschaftler und Autor bei den Hauptangeklagten
       des Nürnberger Prozesses vornehmen ließ. Man wollte „das Böse“ in der
       Persönlichkeit der Nazi-Verbrecher erkennen, fand aber letztlich nur die
       Komplexität des menschlichen Wesens. Die interpretierten Ergebnisse wurden
       nie veröffentlicht… (18.2., 16 Uhr, [1][Hackesche Höfe Kino]).
       
       ## Unverstandene Persönlichkeiten
       
       Ein zentrales Werk filmischer Jugendrebellion: Mit „…denn sie wissen nicht,
       was sie tun“ (1955) wurde James Dean für einige Jahrzehnte zu einer Ikone
       der unverstandenen Teenager in aller Welt. Komplettes Desinteresse der
       Erwachsenen und gefährliche Bandenrituale als Mittel der Selbstbestätigung
       steuern direkt auf eine Katastrophe zu. Wim Wenders hat den Film seines
       alten Freundes Nicholas Ray für die Berlinale-Retrospektive „Young at
       Heart“ ausgewählt; zu sehen ist der Klassiker in der Akademie der Künste
       (17.2., 19.30 Uhr, [2][Akademie der Künste Hanseatenweg]).
       
       Ein Hauptwerk feministischen Filmschaffens hat das Lichtblick-Kino im
       Programm: Chantal Akermans „Jeanne Dielman, 23, quai du Commerce, 1080
       Bruxelles“ zeigt mit großer formaler Strenge drei Tage im Leben einer von
       Delphine Seyrig verkörperten Mutter und Prostituierten, deren Alltag streng
       geregelt und gleichförmig verläuft. Störungen dieser Abläufe irritieren sie
       zutiefst, was schließlich zu einem blutigen Drama führt. In einer Umfrage
       der britischen Filmzeitschrift Sight & Sound unter Kritiker:innen nach
       den besten 100 Filmen landete Chantal Akermans Werk kürzlich auf Platz Eins
       (19.2., 16.45 Uhr, [3][Lichtblick Kino]).
       
       16 Feb 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.hoefekino.de/#default
   DIR [2] https://www.adk.de/de/besucherinformation/hanseatenweg/index.htm
   DIR [3] https://lichtblick-kino.org/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lars Penning
       
       ## TAGS
       
   DIR Kino Berlin
   DIR taz Plan
   DIR Kolumne Frisch gesichtet
   DIR Filmkritik
   DIR taz Plan
   DIR Schwerpunkt Berlinale
   DIR taz Plan
   DIR taz Plan
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Kinoempfehlungen für Berlin: In bester Erinnerung
       
       Eine Retrospektive im Kino Arsenal würdigt den „Meister eines poetischen
       Pessimismus“ Julien Duvivier. Im Babylon Mitte ruft der Berg.
       
   DIR In Erwartung der Berlinale: Neustart auf der Baustelle
       
       Die Berlinale eröffnet am Donnerstag nach den Pandemiejahren wieder für
       viel Publikum. Manchmal erschwert ein Zaun den Weg zum Kino.
       
   DIR Kinotipp der Woche: Film zur Debatte
       
       Zur Berlinale lädt die Woche der Kritik internationale Gäste zu
       Fachgesprächen über Vorlieben, Nischen. Dazu gibt es eine ganze Reihe
       Arthouse-Filme.
       
   DIR Kinoempfehlungen für Berlin: Zwischen Doku und Fiktion
       
       Dorothee Wenner betrachtet die Klischees, die Europa über Afrika pflegt,
       Jens Meurer gibt humorvoll Einblick in den britischen Streit um den Brexit.