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       # taz.de -- Notunterkunft für Ukrainer*innen: „Das System ist scheiße“
       
       > Ein Jahr nach Kriegsbeginn weiß Berlin nicht, wohin mit den Geflüchteten.
       > Das Ankunftszentrum in Tegel wird für Viele ein „Zuhause“ auf Monate.
       
   IMG Bild: Leere Bänke, leerer Magen: Viele finden das Essen im Ankunftszentrum Tegel ungenießbar
       
       Berlin taz | Es ist Mittagszeit, doch die Schlange an der Essensausgabe ist
       kurz. Höchstens die Hälfte der Tische, an denen knapp 300 Menschen sitzen
       könnten, ist besetzt. Nur wenige essen die Reis-Tomaten-Gemüse-Suppe, die
       heute im Ukraine-Ankunftszentrum Tegel serviert wird. Manche haben Brot,
       Aufschnitt und Obst aus Supermarkttüten auf den Tisch gepackt, andere
       sitzen einfach nur da, unterhalten sich leise oder starren auf ihr Handy.
       
       Als die Reporterin einzelne Menschen in der gut beheizten Leichtbauhalle
       anspricht und nach ihren Erfahrungen als Kriegsflüchtling in Berlin
       befragt, verbreitet sich das wie ein Lauffeuer. Immer mehr Frauen kommen
       und wollen erzählen. Die Verständigung ist schwierig, nur eine junge Frau
       spricht etwas Englisch und übersetzt, andere benutzen Google.
       
       Der Tenor ist leicht zu verstehen: Alle finden das Essen schlecht bis
       ungenießbar. „Die Kinder spucken es wieder aus“, sagt eine Frau. Eine
       andere berichtet, dass sie ihr ganzes weniges Geld für Essen ausgeben
       müsse, weil ihre Kinder vom hiesigen Angebot „krank“ würden. Alle beklagen,
       dass sie schon zu lange hier seien, manche zwei, manche drei Monate – und
       dass keiner ihnen sage, wann sie eine Wohnung bekommen. Alle beschweren
       sich über fehlende, verzögerte oder nur teilweise Geldzahlungen von
       Sozialamt oder Jobcenter.
       
       Regina Swetlana Berezhina hat in ihren drei Monaten in Tegel schon etwas
       Deutsch gelernt. Beim Sozialamt habe sie anfangs etwas Geld bekommen, aber
       das Jobcenter in Marzahn, bei dem sie alle Papiere abgegeben habe, rühre
       sich einfach nicht. Sie habe keine BVG-Karten und Angst, weil sie
       „schwarzfahren“ muss. Dass sie am „Info-Point“ Tickets bekommen kann,
       solange sie noch nicht im „Leistungsbezug“ ist, wie die Sprecherin des
       Betreibers Deutsches Rotes Kreuz auf Anfrage mitteilt, weiß sie offenbar
       nicht. Auch wie man Arbeit findet, wüsste Berezhina gerne, aber niemand
       könne es ihr erklären.
       
       ## „Alles ist Stress“
       
       [1][Eigentlich dürfen Ukrainer*innen ab ihrem ersten Tag in der Stadt
       arbeiten] – und eigentlich gibt es in Tegel die Johanniter, die für
       Beratung, Betreuung und Sprachmittlung zuständig sind und unter anderem
       Sozialberatung bei Fragen zu Aufenthalt, Leistungen oder
       Arbeitsmöglichkeiten anbieten.
       
       Aber auch das ist offenbar zu Berezhina noch nicht durchgedrungen. „Alles
       ist Stress“, sagt sie. Und das nach der Flucht aus Cherson, wo sie alles
       hatte, eine schöne Wohnung, bis drei Bomben auf ihr Haus fielen. Eigentlich
       bräuchte sie Ruhe, müsste Kraft schöpfen für den Neuanfang – doch das geht
       in Tegel nicht, sagt sie.
       
       Zum Beweis will sie der taz ihre „Schlafwabe“ zeigen. Rechts und links der
       Aufenthaltshalle, wo es außer dem Essensbereich auch abschließbare Spinde,
       einen WLAN-Raum mit Handy-Ladestationen und einen Kinder-Spielraum mit
       Betreuung gibt, führen überdachte Durchgänge in die Schlafhallen. In jeder
       von ihnen gibt es 360 Betten; je zwei Schlafhallen plus eine
       Aufenthaltshalle und top-moderne Sanitärhalle ergeben einen Block.
       
       Vier solcher Blöcke – A, B, D, E – stehen nun vor Terminal C und bieten
       Platz für 3.200 Menschen. Ein fünfter Block F ist im Aufbau. Dazu gibt es
       knapp 1.000 Plätze im Terminal selbst, wo auch die Registrierung
       stattfindet und es eine Kleiderkammer gibt, einen Kiosk, eine „Pet-Station“
       für Haustierbesitzer*innen. Derzeit leben in Tegel nach Behördenangaben
       rund 2.100 Menschen.
       
       Die Flughafenterminals A und B, wo kurz nach Beginn des Ukrainekrieges das
       erste Ankunftszentrum vor allem als bundesweiter Verteil-Hub aufgebaut
       wurde, sind inzwischen geräumt, sie waren der Beuth-Hochschule als
       Erweiterungsbau zugesagt worden. Der zuständigen Sozialsenatorin Katja
       Kipping (Linke) und dem Landesflüchtlingsamt (LAF) passte das gar nicht: In
       einer Zeit, wo sich täglich bis zu 150 Ukrainer*innen im Ankunftszentrum
       melden, von denen knapp die Hälfte eine Berlin-Zuweisung bekommt, mussten
       rund 2.000 Betten abgebaut werden.
       
       ## „Zwischen Ankommen und Bleiben“
       
       Jetzt ist der Umzug vollbracht: Auch zwei provisorische Zelte neben
       Terminal C mit 800 Betten, aber ohne Spinde, Aufenthaltsmöglichkeiten und
       WLAN sowie mit schlechteren Sanitäranlagen, habe man leer gezogen, erklärt
       die stellvertretende Einrichtungsleiterin Christina Färber. Die neuen
       Leichtbauhallen seien ein echter Fortschritt, findet sie: „Die Stimmung ist
       deutlich besser, seit die Menschen aus den Zelten hierher ziehen konnten.“
       Eines der beiden Zelte würde Färber gerne zum „Ausnüchterungszelt“
       umwidmen, erzählt sie.
       
       Denn „natürlich“ gebe es ein Problem mit Bewohner*innen, die zu viel
       trinken, „wohl als Folge dieses Zwischenlebens hier, zwischen Ankommen und
       Bleiben“. Es komme bisweilen auch zu Gewalt unter Bewohner*innen. Bislang
       habe man das händeln können, so Färber, „bei Vorfällen ist jemand vom
       Leitungsteam 24/7 erreichbar“.
       
       Berezhina führt die taz in ihre Schlafhalle in Block D. Mit Leichtbauwänden
       und Vorhangtüren abgeteilt stehen hier in jeder „Wabe“ sieben
       Doppelstockbetten und ein Stahlregal. Das sei für die Koffer gedacht, hatte
       Christina Färber zuvor erklärt. In Berezhinas Wabe sind die Regale
       allerdings mit Ikonen, Hygieneartikeln und Wäschestapeln gefüllt. Die
       Koffer stehen davor und machen den Raum noch enger.
       
       Berezhina teilt sich das Doppelstockbett hinten rechts mit ihrer
       halbwüchsigen Tochter, die mit Kopfhörern auf dem oberen Bett sitzt und den
       Besuch zu ignorieren versucht. Gegenüber auf dem unteren Bett liegt
       Berezhinas Lebensgefährte, sitzen kann er dort nicht, dafür ist das Bett zu
       niedrig. Vor Berezhinas Bett steht ein Hundekorb, Mischling Joy springt
       sein Frauchen an, Katze Mars bleibt gleichgültig auf dem Bett liegen. „Man
       kann hier nicht schlafen, zu laut“, sagt die Ukrainerin und zeigt auf die
       dünnen Wände. Wenn ihr nur jemand sagen würde, wann sie hier rauskommt …
       
       Doch genau das kann zurzeit niemand. Ein Jahr nach Kriegsbeginn weiß Berlin
       nicht, wohin mit den Flüchtlingen. Insgesamt leben inzwischen rund 60.000
       [2][Ukrainer*innen in Berlin], wie Sozialsenatorin Katja Kipping (Linke)
       am Dienstag mitteilte. Erste Schätzungen aus dem vorigen Jahr, wonach es
       rund 100.000 seien, haben sich damit als deutlich zu hoch erwiesen. Wohl
       auch, so Kipping, weil nicht wenige trotz des Krieges wieder zurückgegangen
       seien. Einen Platz finden mussten dazu noch über 14.000 Asylbewerber*innen,
       die 2022 nach Berlin verteilt wurden – 50 Prozent mehr als 2021.
       
       ## Provisorisches „Zuhause“
       
       Zwar ist die überwiegende Mehrheit der Ukrainer*innen privat
       untergekommen, bei Freunden oder Familienangehörigen, engagierten
       Gastgeber*innen oder „normalen“ Vermietern, sodass derzeit nur rund
       4.200 von ihnen in LAF-Heimen leben müssen: Dennoch komme das Amt bei den
       hohen Zugangszahlen einfach nicht hinterher, sagt Sprecher Sascha
       Langenbach: „Wir können derzeit nur die Erstaufnahme sichern, die Menschen
       sicher und warm versorgen, aber wir sind weit entfernt von den Standards
       unserer qualitätsgesicherten Unterkünfte.“
       
       Auch solche hat das Amt im letzten Jahr geschaffen: 10.000 neue Plätze in
       modularen Neubauten, reaktivierten Containerdörfern, umgebauten Hotels.
       Insgesamt sind es mittlerweile gut 32.000 Plätze, aber alle sind belegt.
       
       Und so bleiben die Neuankömmlinge immer länger in neuen Notunterkünften
       hängen: die Ukrainer*innen in Tegel, die Asylbewerber*innen im
       [3][Ankunftszentrum Reinickendorf] und im Hangar 2 des Ex-Flughafens
       Tempelhof. „Zwischen 3 und 13 Wochen“, gibt Langenbach die Verweildauer für
       Tegel an, wobei nach den Berichten der Geflüchteten eher Letzteres
       zutreffen dürfte.
       
       Als Regina Berezhina die taz an der Vorhang-„Tür“ ihrer Schlafwabe
       verabschiedet, möchte sie eine Sache unbedingt noch loswerden: „Die
       Menschen, die hier arbeiten, sind alle sehr nett und hilfsbereit. Aber das
       System ist scheiße!“
       
       24 Feb 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Susanne Memarnia
       
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