URI: 
       # taz.de -- Nach offenem Brief an „New York Times“: Nicht ohne Haltung
       
       > Es wird wieder leidenschaftlich über Journalismus und Aktivismus
       > diskutiert. Aber wer legt fest, was objektiv und was ideologisch ist?
       
   IMG Bild: Die Räumung in Lützerath im Januar 2023 wird von der Presse beobachtet
       
       Dürfen Journalist*innen wählen gehen oder [1][FC-Bayern-Fan] sein? Ja,
       klar, würden die meisten antworten. Können sie vor dem Bundestag gegen die
       AfD demonstrieren oder bei [2][Fridays for Future] aktiv sein? Diese Frage
       würden deutlich weniger bejahen. Denn das Gebot des Journalismus ist
       Neutralität, auch wenn es keine Einigkeit darüber gibt, was damit gemeint
       ist. Denn es scheinen nicht für alle dieselben Regeln zu gelten.
       
       Aktuell wird mal wieder über die Frage diskutiert, wie viel Aktivismus der
       Journalismus verträgt. Auslöser [3][ist ein offener Brief,] den Mitte
       Februar tausend Mitarbeiter*innen der New York Times an die Zeitung
       adressiert haben. Sie kritisieren die tendenziöse Berichterstattung über
       trans und nichtbinäre Menschen. Obwohl ein Großteil der Texte fair sei,
       würden sie sich „ernste Sorgen über redaktionelle Voreingenommenheit“
       machen. Die Unterzeichner*innen sehen eine transfeindliche Agenda,
       eine Mischung aus „Pseudowissenschaft und euphemistischer Sprache“.
       
       Ihre Vorwürfe gegen die renommierte US-Tageszeitung untermauern sie mit
       Beispielen. In einem Text, wird ein trans Kind „Patient Null“ genannt, eine
       Bezeichnung, die man bei tödlich ansteckenden Krankheiten nutzt. [4][Die
       NGO Glaad] veröffentlichte zur selben Zeit einen Brief, in dem sie die NYT
       aufforderte, keine Anti-Trans-Texte mehr zu veröffentlichen. Ein Sprecher
       der NYT wies die Vorwürfe von sich, die Berichterstattung sei „nuanciert
       und fair“.
       
       In den USA befeuerten beide Briefe eine generelle Debatte über Objektivität
       und Aktivismus im Journalismus. Etwas später ist diese auch in Deutschland
       angekommen. Der US-Politikwissenschaftler Yascha Mounk [5][schreibt in der
       Zeit], dass es nicht nur um den journalistischen Umgang mit trans Menschen
       gehe, sondern um „die Rolle und die Zukunft des Journalismus“. Denn früher
       hätten Journalist*innen „die Welt dargestellt, wie sie eben ist“, heute
       seien sie „Verteidiger der Demokratie und Minderheitenrechte“.
       
       ## Der Aktivismusvorwurf als Beleidigung
       
       Ähnlich sieht [6][das René Pfister im Spiegel,] der einen neuen
       Journalismus ausmacht, der sich von der Objektivität verabschiedet habe.
       Das ist für ihn nicht nur „die Blüte des woken Amerika“, auch in
       Deutschland sieht er den objektiven Journalismus in Gefahr.
       
       Als Beispiel führt er den Stern an, der eine Ausgabe in Zusammenarbeit mit
       Fridays for Future veröffentlicht hat, sowie die taz, die einen Vertrag von
       ProQuote unterschrieben hat, dass bei gleicher Qualifikation bevorzugt
       Frauen in Führungspositionen eingestellt werden sollen. Ein letztes
       Beispiel ist Sara Schurmann, die zur Wissenschaftsjournalistin des Jahres
       gewählt wurde, und das obwohl (wie Pfister sagen würde) sie gefordert hat,
       dass alle Journalist*innen das 1,5-Grad-Ziel einfordern sollten.
       
       Der Aktivismusvorwurf ist für viele Journalist*innen eine Beleidigung.
       Denn wer aktivistisch ist, mache seinen Job nicht richtig. Einen ähnlich
       schlechten Ruf hat der „Haltungsjournalismus“.
       
       ## Themen und Gespräche haben eigens formulierte Relevanz
       
       Dabei machen alle Journalist*innen Haltungsjournalismus: Geprägt durch
       ihre Identität und Erfahrung suchen sie nach eigens formulierten
       Relevanzkritieren für Themen und Gesprächspartner*innen, setzen
       Schwerpunkte und lassen Aspekte, die ihnen irrelevant erscheinen, weg. Wenn
       ich als Redakteurin gezielt darauf achte, weibliche Personen zu Wort kommen
       zu lassen, gilt das als aktivistisch. Wenn ein Redakteur in seiner Arbeit
       nur mit Männern spricht, gilt das als normal.
       
       Denn Aktivist*innen, so scheint es, sind immer nur die anderen. Kein Wunder
       also, dass vor allem migrantischen, jungen oder linken Journalist*innen
       dieser Vorwurf gemacht wird. Ihre Herkunft, ihr Alter oder ihre politische
       Ausrichtung stellt sie automatisch unter Aktivismusverdacht, als hätten
       andere Journalist*innen keine Herkunft, kein Alter oder keine
       politische Ausrichtung.
       
       Es ist kein Zufall, dass bei Pfisters Beispielen
       Klimajournalist*innen auftauchen, aber eine Person wie
       Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt fehlt. Dieser hat sich durch seine Texte
       und Tweets immer wieder als Verbrennungsmotoraktivist hervorgetan. Doch in
       der Debatte geht es um die Frage: Wie viel Klimaaktivismus verträgt der
       Journalismus? Und nicht um die Frage: Wie viel Anti-Klimaschutz-Aktivismus
       verträgt der Journalismus?
       
       ## Angst vor Verlust von Diskurshoheit
       
       Es lohnt sich zu diskutieren, wo Journalismus aufhört und Aktivismus
       anfängt. Doch Pfister, Mounk und Co wollen keine Grenzen ausloten. Vielmehr
       wird durch ihre Texte eine Angst vor Verlust von Diskurshoheit sichtbar.
       Guter Journalismus „erkundet komplexe Sachverhalte ohne ideologische
       Vorbehalte“, schreibt Mounk. Doch was sind „ideologische Vorbehalte“?
       
       Für viele gilt der Einsatz für die Pressefreiheit als
       Selbstverständlichkeit und nicht als Aktivismus. Wenn ich mich allerdings
       dafür stark mache, dass Menschenrechte auch für trans Menschen gelten –
       dann bin ich Aktivistin? Wer hat denn festgelegt, was ein objektiver und
       was ein ideologischer Zugang ist?
       
       Aktivismus verfolgt politische Ziele, Journalismus will Informationen
       zugänglich machen. Das muss kein Widerspruch sein, kann sogar Hand in Hand
       gehen. Der Unterschied ist: Journalist*innen verpflichten sich einem
       Handwerk und dem Pressekodex. Klar ist aber auch: Wir alle gehen mit
       Haltungen und Erfahrungen an Themen heran. Das lässt sich nie verhindern.
       Wer das aber anerkennt und transparent macht, der hat viel gewonnen. Mehr
       als der vermeintlich objektive Journalismus, der nur bestehende
       Verhältnisse fortschreibt.
       
       6 Mar 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Inlandsfluege-im-deutschen-Fussball/!5913775
   DIR [2] /Protokolle-von-Klimastreikenden/!5917623
   DIR [3] https://nytletter.com/
   DIR [4] https://www.glaad.org/new-york-times-sign-on-letter-from-lgtbq-allied-leaders-and-organizations
   DIR [5] https://www.zeit.de/zustimmung?url=https%3A%2F%2Fwww.zeit.de%2F2023%2F10%2Fnew-york-times-transgender-berichterstattung
   DIR [6] https://www.spiegel.de/ausland/aktivisten-in-den-medien-wie-man-das-vertrauen-in-den-journalismus-zerstoert-kolumne-a-2c758f2e-0008-42d4-9c0d-2026e9dbaa3c
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Carolina Schwarz
       
       ## TAGS
       
   DIR New York Times
   DIR Aktivismus
   DIR Konstruktiver Journalismus
   DIR GNS
   DIR Kolumne Die Nafrichten
   DIR New York Times
   DIR Schwerpunkt LGBTQIA
   DIR EU-Kommission
   DIR künstliche Intelligenz
   DIR Schwerpunkt Stadtland
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Abschied von „Nafrichten“: Genug Meinung! Zeit für Recherche
       
       Nach 79 Folgen „Nafrichten“ ist Schluss – hoffentlich folgt jetzt eine
       Stärkung von neugierigem, analytischen Old-School-Journalismus.
       
   DIR Kein Sport mehr bei „New York Times“: Mehr als Spielergebnisse
       
       Die Sportredaktion der US-Zeitung „New York Times“ wird aufgelöst. Dabei
       hatte sie Sport stets als gesellschaftliches Phänomen begriffen. Was ist da
       los?
       
   DIR Vorwürfe gegen „Jungle World“: Transfeindlichkeit im Jungle?
       
       In einem offenen Brief kritisieren Autor*innen Transfeindlichkeit bei
       der Wochenzeitung „Jungle World“. Die Redaktion widerspricht.
       
   DIR Streit um Infos über Impfstoffdeal: „New York Times“ verklagt EU
       
       Kommissionschefin Ursula von der Leyen gerät unter Druck. Sie hält Details
       über den Milliarden-Deal mit dem Corona-Impfstoffhersteller Pfizer geheim.
       
   DIR Ideologie und künstliche Intelligenz: Geschichten von morgen
       
       Auch wenn sie tolle Texte schreiben, KIs haben ein Problem: Sie werden
       vorwiegend mit westlichen Quellen trainiert. Mehr Diversität ist nötig.
       
   DIR Journalistik-Professor über Zeitungen: „Nicht nur vom Sterben sprechen“
       
       Man müsse über staatliche Förderung sprechen, meint Journalistik-Professor
       Klaus Meier. Weil Journalismus auch eine Infrastruktur der Demokratie ist.