URI: 
       # taz.de -- Konsumkritik mit Leerstellen: Chili satt bis zum Armageddon
       
       > Minimalismus ist nicht nur schick, sondern auch praktisch. Dass er aber
       > wirklich Probleme löst, ist leider trotzdem nicht mehr als ein hehrer
       > Wunsch.
       
   IMG Bild: Sie eh nicht alle lesen zu können, ist noch lange kein Grund, die Bücher nicht zu kaufen
       
       Wer die kleine Stadtwohnung [1][gegen ein ländliches Haus] eintauscht, der
       hat mehr Platz – sollte man meinen. Es ist nur leider auch nicht wahrer als
       vieles andere, das man so glaubt, ohne es ausprobiert zu haben. Am Anfang
       sieht es aber so aus, wenn sich die plötzlich winzig scheinenden
       Umzugskartons in leeren Zimmern verteilen: zwei oder drei in der Küche,
       zwei leere Flure später noch einer im Wohnzimmer, ein paar Klamotten im
       jetzt viel größeren Schrank. Und selbst für die Bücherkisten wird sich
       jetzt endlich eine Lösung finden. Man hat ja jetzt Platz.
       
       Mehr als ein paar Monate ging das nicht gut. Man braucht unerwartete neue
       Dinge und wirft auch weniger entspannt weg als früher. Werkzeuge füllen
       Regale, Ersatzdachpfannen warten auf den nächsten Sturm. Übrig gebliebene
       Fliesen lehnen neben ein paar restlichen Eichendielen. Weil: Wer weiß?
       
       Es hat auch wirklich mit dem Land zu tun: Weil Flohmärkte hier selten und
       schlecht bestückt sind, stapeln sich Kinderklamotten eben zu Hause, bis der
       Nächste reinwächst. Kurz gesagt: Das Haus ist auch nicht leerer, als es die
       Wohnung mal war.
       
       ## Minimalismus hat Grenzen
       
       Es ist nicht so, als hätte ich nicht aufgepasst: Circa 300 Bücher habe ich
       seit der Stadtflucht verkauft, verschenkt und weggeworfen. Ich mache auch
       trotz Frusterfahrungen weiter damit, obwohl etwa neue Theaterspielpläne
       jedes Jahr wieder neue Leseaufträge bedeuten und ich inzwischen 20 unter
       Tränen abgestoßene Bücher wieder neu beschaffen musste. Schließlich steht
       die gutsortierte Bibliothek nun eine gefühlte Tagesreise entfernt in der
       Stadt.
       
       Dummerweise wirkt auch [2][das ideologische Gegengift] für solche
       Sinnkrisen bei mir nicht. Der seit Jahren mit missionarischem Eifer
       beworbene Minimalismus à la [3][Marie Kondō] macht mich ausgesprochen
       misstrauisch. Ich hatte wahrscheinlich nicht genug Angst vor den Dingen, um
       einen ernsthaften Exorzismus zu wagen.
       
       Aber: Dass ich nie alle lesen werde, ist mir beim Blick ins Bücherregal
       natürlich auch klar. Nur woher soll ich wissen, welche? Da haben
       schließlich Kulturbetrieb und gesamtgesellschaftlicher Wahnsinn ein
       Wörtchen mitzureden. Und es sind auch nicht nur Bücher.
       
       ## Palettenweise Hülsenfrüchte
       
       Ich komme überhaupt nur aufs Platzproblem zu sprechen, weil ich gestern aus
       Frust über das Wetter und zu viele Vollidiot:innen [4][an der
       Supermarktkasse] meine Vorräte aufgefüllt habe und jetzt vor dem Problem
       stehe, dass ich zwischendurch mein Zelt im Hamsterkeller deponiert und es
       da vergessen hatte. Und jetzt stehen sie immer noch anklagend in der Küche,
       die drei Paletten Kidneybohnen, eine mit Mais und vier mit Dosentomaten.
       Also Chili satt bis zum Armageddon. [5][Drei Kilo Espressobohnen] müssen
       auch noch irgendwo hin.
       
       Ich schiebe das gern aufs Lockdowntrauma, aber ehrlich gesagt war mir die
       volle „Speisekammer“ schon ein Kindheitstraum. Nicht dass wir eine gehabt
       hätten damals, aber ich las den „Kleinen Hobbit“ und den „Herrn der Ringe“.
       Die Schlachten hatte ich überflogen, mich dafür aber sattgelesen an den
       Vorräten von Bilbo, Tom Bombadil und Beorn, dem honigsüchtigen Werbär.
       
       Kondō und Co fahren eine andere Linie: Bleib flexibel, hau raus, kauf nach,
       wenn wieder Platz ist – dein Kulturzeug am besten eh nur digital gemietet.
       Dann ist es billiger und höchstens weg, wenn unser Dienst pleite macht oder
       wir die Rechte verzocken. Ich kann meinen Fetischismus beim besten Willen
       nicht verrückter finden als das.
       
       15 Mar 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Umzug-von-der-Stadt-aufs-Land/!5803934
   DIR [2] /Besser-leben-durch-Verzicht/!5883703
   DIR [3] https://de.wikipedia.org/wiki/Marie_Kond%C5%8D
   DIR [4] /Linksradikale-Hauswirtschaftler/!5881457
   DIR [5] /Therapeutin-ueber-Messie-Syndrom/!5871155
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jan-Paul Koopmann
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Stadtland
   DIR Kolumne Speckgürtelpunks
   DIR Konsum
   DIR Kolumne Zu verschenken
   DIR Online-Shopping
   DIR Kolumne Speckgürtelpunks
   DIR Marie Kondo
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Konsum und Nachhaltigkeit: In der Welt des Überflusses
       
       Was schenkt man Menschen, die schon alles haben? Vor allem, wenn die im
       Grunde kaum etwas haben, sondern einfach nur sehr wenig brauchen.
       
   DIR Die Digitalisierung ändert einfach alles: Haben ist auch wieder relativ
       
       Wenn teuer gekaufte Filme oder Musik plötzlich vom Rechner verschwinden,
       kann das ärgerlich sein. Oder inspirierend. Fast wie im realen Leben.
       
   DIR Linksradikale Hauswirtschaftler: Die fetten Jahre sind vorbei
       
       In der Krise heißt es, Gürtel enger zu stellen, oder wenigstens das Geld
       gelegentlich mal zu zählen. Das bringt mitunter ungeahnte Erkenntnisse
       hervor.
       
   DIR Therapeutin über Messie-Syndrom: „Pathologische Horter schämen sich“
       
       Viele Menschen hängen an ihren Sachen, aber einigen fällt das Loslassen
       besonders schwer. Warum ist das so? Ein Gespräch mit Messie-Expertin
       Veronika Schröter.