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       # taz.de -- Zuspitzung im Nahost-Konflikt: Am Kipppunkt
       
       > Es brennt in den besetzten Gebieten. Ein Besuch in der jüdischen Siedlung
       > Yitzhar und dem Dorf Huwara, in dem es gerade heftige Ausschreitungen
       > gab.
       
       Rauchwolken hängen am Nachthimmel über dem palästinensischen Dorf Huwara,
       Dutzende Häuser und Autos stehen in Flammen. So ist es kurz darauf auf
       Fotos in den sozialen Medien zu sehen. Geschäfte brennen, Steine fliegen in
       dieser Nacht. Ein Palästinenser wird getötet, Hunderte werden verletzt.
       
       [1][Am vergangenen Sonntag hatte zunächst ein Palästinenser zwei Israelis
       in Huwara getötet], Siedler aus einer nahe gelegenen Siedlung, die im Auto
       die Hauptstraße entlangfuhren. Wenige Stunden später dringt eine Gruppe
       israelischer Siedler*innen in das Dorf ein, um Rache zu nehmen. Die
       Armee greift erst spät in der Nacht ein.
       
       „Ich habe solche Angst um meine Familie“, schreibt per Whatsapp Shadeen
       Saleem, die wir zwei Wochen zuvor in Huwara getroffen haben: „Meine Brüder
       und meine Eltern sind in unserem Haus, Siedler greifen sie an.“ Saleem ist
       während des Angriffs nicht zu Hause, sie studiert im nahe gelegenen Nablus,
       doch die Stadt ist vom israelischen Militär abgeriegelt. Saleem hat keine
       Chance, zu ihrer Familie durchzukommen.
       
       Während Huwara brennt, tanzen nicht weit entfernt auf einem Hügel ein
       Dutzend Siedler*innen, Schulter an Schulter. In dieser Nacht haben sie
       einen neuen Außenposten besetzt. Der Knessetabgeordnete Zvi Sukkot ist
       einer von ihnen. „Tänze der Liebe zum Land. Tränen des Schmerzes und der
       Hoffnung vermischen sich“, schreibt er zu dem Video auf Twitter.
       
       Zwei Wochen zuvor liegen diese Ereignisse noch in der Zukunft – doch im
       Rückblick kann man sagen, sie standen schon wie Zeichen an der Wand.
       
       „Schade, dass es bewölkt ist“, sagt Zvi Sukkot und blickt Richtung Westen
       zum Mittelmeer: „Normalerweise kann man bis Netanja sehen.“ Er steht vor
       seinem Büro auf dem höchsten Punkt der Siedlung Yitzhar, auf der Spitze des
       Hügels. Von dem weißen Container aus hat er eine Rundumsicht auf das, was
       er „unser Land“ nennt.
       
       Er zeigt auf das Mittelmeer und Tel Aviv, dann dreht er sich im Halbkreis.
       Seine Hand gleitet über das Westjordanland hinweg, über arabische Dörfer,
       auch über Huwara. Über weitere jüdische Siedlungen, bis sein Zeigefinger
       auf der Grenze nach Jordanien ruht. Eine imperiale Geste, könnte man
       meinen, doch dafür ist sein Blick zu kritisch, seine Bewegung zu
       vorsichtig. Er gleicht eher einem Wächter, der sich in Abwesenheit des
       Besitzers um dessen Land sorgt.
       
       Sukkot trägt Schläfenlocken und Tzitziot, weiße Fäden, die religiöse Juden
       an den Oberteilen befestigen und an den Seiten der Hosen entlangfallen
       lassen. Auf dem Kopf hat er eine gehäkelte Kippa, Markenzeichen der
       Siedler.
       
       ## Steile Karriere in der Politik
       
       Er ist erst 32 Jahre alt und hat eine steile Karriere hingelegt: Zwei Tage
       nach dem Interview wird er für die rechtsextreme Partei Religiöser
       Zionismus als Nachrücker in die Knesset einziehen. Ihr Programm sieht unter
       anderem die Annexion von Land für Siedlungen im Westjordanland, die
       Ausweisung von Geflüchteten und eine Entmachtung des Obersten Gerichtshofs
       vor.
       
       In Sitzungszeiten wird er von nun an in der Knesset sein, den Rest der Zeit
       in seinem Büro in Yitzhar arbeiten – einem Büro, das sich nach
       internationalem Recht illegal dort auf der Hügelspitze befindet: Es liegt
       in den besetzten palästinensischen Gebieten.
       
       Im Westjordanland war das vergangene Jahr das blutigste seit dem Ende der
       Zweiten Intifada. 2022 starben mehr als 150 Palästinenser*innen durch
       israelische Sicherheitskräfte und Zivilist*innen. Siebzehn Israelis wurden
       bei Anschlägen von Palästinenser*innen getötet. Im Jahr 2023 sind
       allein in den ersten zwei Monaten bereits 61 Palästinenser*innen von
       israelischen Sicherheitskräften getötet worden.
       
       Der CIA und israelische Sicherheitsapparate warnen, dass eine dritte
       Intifada bevorstehen könnte. Noch gibt es keinen Aufruf der großen
       palästinensischen Fraktionen dazu. Doch viele sorgen sich, dass die neue
       rechtsextrem-religiöse Regierung Israels den Konflikt zwischen
       Siedler*innen und Palästinenser*innen weiter anheizt.
       
       Zvi Sukkot schließt die Tür zu seinem Containerbüro auf. Seine Zusage zu
       dem Interview kam prompt – anders als die meisten radikalen
       Siedler*innen ist er bereit, mit den Medien zu sprechen. Die Welt sei
       gegen die Siedler*innen, sagt er, er will das Image verbessern.
       
       Jüdische Israelis haben unterschiedliche Gründe, in eine Siedlung zu
       ziehen. Die meisten Siedler*innen leben in Pendlerstädten in der Nähe
       zum Kernland Israel oder in Ostjerusalem. Viele ziehen wegen der günstigen
       Mieten und der Lebensqualität dorthin. Aber wer nach Yitzhar zieht, macht
       das, um das Versprechen Gottes einzulösen: Dieses Land wurde den
       Jüd*innen von Gott versprochen, komplett, inklusive des Westjordanlandes
       – davon sind die Bewohner*innen Yitzhars überzeugt. Etwa 2.000 radikale
       Siedler*innen leben hier.
       
       [2][Bezalel Smotrich, Chef der Partei Religiöser Zionismus und neuer
       Finanzminister], war einmal in seinem Büro, erzählt Sukkot. Beide waren in
       der Hilltop-Jugend aktiv – hier sammeln sich junge extremistische
       Siedler*innen, die Gewalt für ein legitimes Mittel halten, und die
       sogenannte Außenposten im Westjordanland errichten, die auch nach
       israelischem Recht illegal sind. Die Hilltop-Jugend ist überzeugt davon,
       dass die Palästinenser*innen aus den palästinensischen Gebieten
       vertrieben werden müssen.
       
       Für Sukkot ist die Hilltop-Jugend eine Gruppe junger Menschen, die sich zum
       Ziel gesetzt haben, Gottes Versprechen einzulösen: die Besiedlung von Eretz
       Israel, dem gelobten Land. Dazu gibt es Lagerfeuer auf den Hügeln des
       Westjordanlandes, Zusammengehörigkeitsgefühl und Pioniergeist.
       
       Bis vor Kurzem waren die extremistischen Siedler*innen die Outlaws der
       israelischen Gesellschaft, die Troublemaker unter den 500.000
       Siedler*innen, die mittlerweile im besetzten Westjordanland leben. Nun
       lenken sie die Geschicke des Landes mit.
       
       ## Judäa und Samaria
       
       Benjamin Netanjahu hat die radikalen Siedlerparteien hoffähig gemacht und
       ihnen in den Koalitionsvereinbarungen weitreichende Zugeständnisse
       eingeräumt. Er, der derzeit in drei Korruptionsfällen vor Gericht steht,
       will vor allem eins: nicht ins Gefängnis. Immunität versprechen ihm seine
       Bündnispartner. Und die wissen, wie erpressbar Netanjahu ist. Zum ersten
       Mal in der Geschichte Israels steht das „exklusive und unbestreitbare Recht
       auf alle Teile des Landes“ in der Koalitionsvereinbarung, auch auf „Judäa
       und Samaria“ – die biblischen Namen für das besetzte Westjordanland.
       
       Aus einem Haufen grüner T-Shirts, die in einer Ecke seines Büros liegen,
       zieht Sukkot eines hervor. „Mein Herz brennt für Josef“, steht darauf.
       Zurückkehren zu können an das Grab des jüdischen Stammvaters Josef – auch
       das ist eines der Ziele von Sukkot. Derzeit dürfen jüdische Israelis nur
       mit Spezialgenehmigung dorthin, an den Stadtrand von Nablus: Für Israelis
       gilt die palästinensische Stadt als Terrornest, für Palästinenser als eine
       Zentrale des Widerstands. „Manchmal lassen sie uns dorthin“, sagt Sukkot.
       Dann werden sie vom Militär eskortiert, es kommt dabei regelmäßig zu
       heftigen Zusammenstößen.
       
       „Es kann doch nicht sein, dass wir uns nicht überall in unserem Land
       bewegen dürfen“, sagt Sukkot. Der Ort ist für ihn nicht nur in religiöser
       und politischer Hinsicht wichtig, auch privat. Im Oktober 2000, kurz nach
       dem Beginn der Zweiten Intifada, wurde der Vater seiner heutigen Frau am
       Josefsgrab von Palästinenser*innen getötet. Man fand ihn erschossen
       am Stadtrand von Nablus. Sukkots Frau war damals acht Jahre alt. Im
       Wohnzimmer über einem Bücherregal hängt ein Bild von ihrem Vater. Ein Mann
       mit spitzem Bart und Nickelbrille liest in der Bibel. Er war Rabbiner und
       36 Jahre alt, als er starb. Mehr erzählt Sukkot dazu nicht.
       
       Fragen nach Gefühlen scheinen ihm nicht zu behagen. Überhaupt private
       Fragen. „Mh?“, antwortet er, scheinbar abgelenkt, und kaut seinen Kaugummi
       fester. Über seine Eltern ist wenig aus ihm herauszukriegen: Er ist in
       einem ultraorthodoxen Elternhaus aufgewachsen. Damit ist das Thema
       erledigt.
       
       Politische Fragen beantwortet er geduldig, mehr oder weniger freundlich.
       „Als Knessetabgeordneter will ich dafür sorgen, dass alle Terroristen
       entweder im Knast oder tot sind“, sagt Sukkot. Die Palästinensische
       Autonomiebehörde ist für ihn eine Terrororganisation. In anliegende
       palästinensische Städte und Dörfer fahre er nicht. „Die wollen uns
       umbringen.“
       
       Zvi Sukkot sorgt sich um seine fünf Töchter. Seine Waffe liegt auf dem
       Nachttisch in seinem Schlafzimmer. Wenn er die Siedlung verlässt, trägt er
       sie am Gürtel. Doch die besetzten Gebiete zu verlassen und seine Kinder in
       einer weniger konfliktgeladenen Gegend aufzuziehen, kommt für ihn nicht
       infrage.
       
       Für ihn wäre das Verrat, und Verrat – oder das, was er dafür hält – hat ihn
       nach Yitzhar gebracht. Sukkot war 15, als die israelische Armee nach dem
       Abkoppelungsplan des damaligen Ministerpräsidenten Ariel Scharon die
       Siedler*innen aus den Siedlungen im Gazastreifen evakuierte. Sukkot
       konnte nicht fassen, was er im Fernsehen sah: Soldaten, die ihre Landsleute
       aus ihren Häusern trugen und in Tränen ausbrachen. Bulldozer, die Häuser
       zerstörten, Männer, die ihre Haare rauften und zum Himmel beteten, Frauen,
       die mit ihren Babys im Arm von Soldaten aus den Häusern eskortiert wurden –
       für sie viel mehr als eine Bleibe. Der Inbegriff dessen, woran sie glaubten
       und wofür sie kämpften: Gott zu gehorchen, sein Erbe anzunehmen.
       
       „Sie haben unser Land einfach der Hamas überlassen“, sagt Sukkot. Noch
       heute spürt man die Wut darüber in ihm. Nach diesem Ereignis beschloss er,
       seinen Weg zu ändern: Aus dem ultraorthodoxen Studenten wurde ein
       nationalreligiöser Zionist. Er schloss sich der Hilltop-Jugend an und zog
       nach Yitzhar.
       
       ## Preisschild-Aktionen
       
       In den palästinensischen Dörfern um Yitzhar herum fürchten Bauern um ihre
       Olivenhaine und Gläubige um ihre Moscheen. Yitzhar ist bekannt für
       sogenannte Preisschildaktionen. Preisschild, weil die Siedler diese
       Aktionen als Vergeltung für palästinensische Gewalt betrachten.
       
       Zvi Sukkot stand schon vor Gericht, wegen des Verdachts, an einer solchen
       Aktion beteiligt gewesen zu sein. Ihm wurde vorgeworfen, als 20-Jähriger im
       Dezember 2009 gemeinsam mit anderen Hilltop-Jugendlichen eine Moschee in
       einem palästinensischen Dorf angezündet zu haben. Aus Mangel an Beweisen
       wurde er jedoch freigelassen. Wegen Aktionen gegen israelische
       Sicherheitskräfte und Palästinenser*innen blieb Sukkot aber im Visier
       des israelischen Inlandsgeheimdienstes Shin Bet.
       
       An seiner Ideologie hat sich in den vergangenen Jahren wenig geändert.
       Möglicherweise aber an der Form. Er gibt sich versöhnlicher. Wenn vor der
       Knesset Zehntausende gegen die Justizreform protestieren, mit der unter
       anderem der Oberste Gerichtshof entmachtet werden soll, spricht er mit
       ihnen, twittert, dass er ihre Sorgen ernst nehme, diese aber unberechtigt
       seien.
       
       „Selbstjustiz darf nicht sein“, sagt er, wenn man ihn fragt, was er von
       Siedlergewalt gegen Palästinenser*innen halte. Aber der Vergleich sei
       schief. Auf der einen Seite stünden die Palästinenser*innen, die den Staat
       Israel zerstören wollten. Auf der anderen Seite nur eine Handvoll Leute.
       
       Bis Jüd*innen ohne Einschränkung im ganzen biblischen Israel leben
       können, werde er kämpfen. Er blickt über die steinige Hügellandschaft. Ob
       die Regierung das umsetzen wird, was er als seinen Traum bezeichnet? „Es
       gibt viele, die uns Steine in den Weg legen“, sagt Sukkot. „Aber Schritt
       für Schritt werden wir dahin kommen.“ Dann lächelt er und verabschiedet
       sich. Bald beginnt der Schabbat.
       
       Ein paar Hundert Meter unterhalb von Yitzhar liegt das palästinensische
       Huwara. Shaden Saleem steht dort am Rand eines kleinen Vergnügungsparks.
       Das Riesenrad steht still. Bewegungslos hängen die Gondeln in der Luft.
       Auch das Karussell dreht sich nicht. Vor sechs Monaten habe der Besitzer
       alles geschlossen, erzählt Saleem. Die Siedler hätten das Gelände immer
       wieder angegriffen, Steine auf die Gondeln geworfen. Bis keine Gäste mehr
       kamen.
       
       Immer wieder blickt Saleem den Hügel hinauf, über den steinigen Boden mit
       seinen Olivenbäumen und schmalen Zypressen hinweg in Richtung Yitzhar.
       
       Wenige Meter entfernt, auf der anderen Straßenseite, hängen verkohlte
       Dachbalken über einer Terrasse. Das Café dort ist abgebrannt. An einem
       Morgen im Oktober 2022 hatten Siedler es angezündet. Verletzt wurde
       niemand. „Es kamen schon lange keine Gäste mehr in das Café“, sagt Shaden
       Saleem, „aus Angst vor den Siedlern“.
       
       Saleem studiert Englische Literatur und Übersetzung an der Universität in
       Nablus, nur wenige Autominuten von Huwara entfernt. Sie hat Angst, zu lange
       an dem Café zu verweilen. „Sie kommen, wenn sie uns hier sehen“, ruft sie.
       „Wir müssen weiter.“ Sie steigt von einer kleinen Mauer, streicht über ihr
       Kopftuch und zieht den Wintermantel enger. Dann winkt sie uns Richtung
       Auto. Ein Stacheldrahtzaun zieht sich an der Straße entlang ins Zentrum des
       Dorfs. Vor Kurzem habe ihn jemand zum Schutz vor Angriffen hier angebracht.
       Ob er helfe? Saleem schüttelt den Kopf. „Sie kommen trotzdem.“
       
       Fast alle Häuser, die an der Straße am Stacheldrahtzaun entlang stehen,
       sind von Siedlergewalt betroffen. Ein zweistöckiges Familienhaus hat keine
       Fensterscheiben in der oberen Etage. „Der Besitzer hat aufgegeben“, sagt
       Saleem. Immer wieder seien die Scheiben eingeworfen worden.
       
       Auch Saleem selbst wurde schon angegriffen. Im Oktober ging sie mit ihrer
       Schwester die Hauptstraße entlang, erzählt sie, als ihr Siedler vom Auto
       aus Pfefferspray ins Gesicht sprühten. Sie wurde im Krankenhaus behandelt.
       Seitdem hat sie Angst, allein das Haus zu verlassen. Wenn sie einen Siedler
       sieht, schreckt sie zusammen. Aber sie versuche, ihre Angst zu überwinden,
       sagt sie.
       
       Huwara ist seit Langem ein Brennpunkt der Gewalt im Westjordanland. Es ist
       einer der wenigen palästinensischen Orte, durch die Israelis regelmäßig
       fahren, um Siedlungen im nördlichen Westjordanland zu erreichen.
       
       Saleem ist zwanzig Jahre alt und zierlich. Sie liebt es, mit ausländischen
       Gästen zu sprechen. Sie kann dann ihr Englisch trainieren und gleichzeitig
       über „die Sache der Palästinenser“ reden.
       
       Nur wenn die Sprache auf Israel kommt, wird sie einsilbig. Israelis, die
       keine Siedler*innen oder Soldat*innen sind, kennt sie durch die
       Trennungspolitik nicht. Keine Gleichaltrigen, die nur wenige Kilometer von
       ihr entfernt leben und vielleicht den gleichen Traum haben wie sie:
       Übersetzerin und Hochschuldozentin zu werden.
       
       Bei einem Haus etwas außerhalb von Huwara steigen wir aus dem Auto. „Wann
       auch immer die Siedler kommen – sie gehen niemals, ohne dieses Haus
       anzugreifen.“ Die obere Etage ist nicht fertig gebaut, aus den Außenwänden
       ragen Eisenstangen. „Salaam“, ruft ein Junge, der sich als Ibrahim
       vorstellt. Er ist 13 Jahre alt. Ibrahim führt uns Richtung Olivenhain: „Von
       hier kommen sie.“ Dann läuft er zurück und öffnet die Haustür, seine Mutter
       und zwei Brüder, der 23-jährige Abdallah und der 19-jährige Ahmed, sitzen
       im Wohnzimmer. Ihr Nachname soll nicht genannt werden.
       
       Ihr Vater besitzt eine Autowerkstatt, Ahmed und Abdallah arbeiten dort. Oft
       geht es in ihren Erzählungen darum, dass sie die Autos davor bewahren
       wollen, beschädigt zu werden. Manchmal kämen die Siedler, kurz nachdem es
       einen Anschlag auf Israelis gegeben hat, oft sei es aber willkürlich,
       erzählen sie.
       
       Ob die Angriffe schlimmer geworden sind seit Antritt der neuen Regierung?
       Die Mutter wirft die Arme in die Luft, die Brüder nicken heftig. Vor einer
       Woche seien sie wieder dagewesen, erzählen sie. Männer mit schwarzen Masken
       warfen Steine auf das Haus. Abdullah und Ahmed liefen auf das Dach und
       warfen Steine zurück. Kurz darauf begannen die Siedler zu schießen.
       
       Abdullah und Ahmed haben keine Waffe. „Wir dürfen keine besitzen“, sagt
       Abdullah. Im Westjordanland gibt es zwei Rechtssysteme. Eines gilt für die
       Siedler*innen. Für die Palästinenser*innen aber gilt das
       Militärrecht. Demzufolge ist das Tragen einer Waffe ein krimineller Akt.
       Das heißt nicht, dass es keine Waffen hier gibt. Einige auf dem
       Schwarzmarkt kommen aus Nachbarländern, andere sind aus dem Arsenal der
       israelischen Armee gestohlen. Dem israelischen Sicherheitsapparat bereiten
       die Waffen Sorgen. Viele Anschläge der letzten Monate haben
       Palästinenser*innen mit Schusswaffen verübt.
       
       In der Regel interessieren sich die meisten Palästinenser*innen nur
       wenig für israelische Innenpolitik. Doch Itamar Ben Gvir, der neue
       rechtsextreme Minister für Nationale Sicherheit, hat es geschafft, sie in
       Alarmstimmung zu versetzen. Auch Ahmed und Abdullah sind gut über seine
       Pläne informiert. Zum Beispiel darüber, dass Ben Gvir es für
       Soldat*innen erleichtern will, das Feuer zu eröffnen. Oder dass er für
       Israelis das Genehmigungsverfahren für Waffenscheine beschleunigt hat.
       Seitdem ist die Zahl der neu ausgestellten Waffenscheine um das Fünffache
       angestiegen.
       
       Ahmed und Abdullah wollen nicht zur Waffe greifen. Sie hängen an ihrem
       Leben. Aber bei dem Namen „Die Höhle des Löwen“ hellen sich ihre Gesichter
       auf. [3][Im August 2022] wurde die militante Gruppe in Nablus gegründet.
       Unter Palästinenser*innen hat sie mit ihren Anschlägen auf
       israelisches Militär und Siedler*innen im Westjordanland schnell an
       Beliebtheit gewonnen. Es sind vor allem junge Männer um die 20.
       
       „Sie verteidigen unser Land“, sagt Abdullah. Indirekt dürften auch viele
       der Anschläge auf Zivilist*innen innerhalb Israels auf das Konto der
       „Höhle des Löwen“ gehen. Über die sozialen Medien dürften sie manche dazu
       motiviert haben.
       
       Als zwei Wochen nach dem Besuch ein Palästinenser in Huwara zwei Israelis
       erschießt, soll er ein T-Shirt mit den Insignien der Gruppe getragen haben.
       Wenige Stunden später setzen Siedler*innen den Ort in Brand. Viele
       sprechen von einem Pogrom. [4][Am Mittwoch fordert der israelische
       Finanzminister Bezalel Smotrich, Huwara müsse „ausradiert werden“.] Der
       Staat Israel müsse das aber tun, nicht Privatleute.
       
       Am Freitag hindert das israelische Militär dann linke israelische
       Aktivist*innen daran, eine Solidaritätskundgebung in Huwara abzuhalten.
       Soldaten sollen den Aktivist*innen den Weg blockiert haben.
       
       Bei unserem Besuch liegt diese Eskalation noch in der Zukunft. Ibrahim
       bringt zum Abschied Schokoriegel für alle. Haben sie jemals daran gedacht,
       hier wegzuziehen? „Wohin?“, sagt die Mutter. Dann lächelt sie und begleitet
       uns zur Tür.
       
       4 Mar 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Neue-Gewalt-im-Westjordanland/!5915765
   DIR [2] /Israels-Finanzminister-Bezalel-Smotrich/!5915764
   DIR [3] /Militanter-im-Westjordanland-getoetet/!5870504
   DIR [4] https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/israel-finanzminister-fuer-ausradierung-palaestinensischer-stadt-18715589.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Judith Poppe
       
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