URI: 
       # taz.de -- Reichstagsbrand 1933: Die falschen Bilder vom Feuer
       
       > Eine Arte-Doku untersucht, wer für den Reichstagsbrand 1933
       > verantwortlich war. Sie entlastet Marinus van der Lubbe als Alleintäter.
       
   IMG Bild: Dieses Bild wird zwar oft für echt gehalten, doch hier brennt nur ein Modell
       
       Über den Reichstagsbrand wird seit Jahrzehnten gestritten. Lange sah es so
       aus, als wäre bewiesen, dass [1][Marinus van der Lubbe] den Reichstag
       allein angezündet hatte; [2][die Nazis] hätten den Brand anschließend „nur“
       virtuos genutzt, um über Nacht sämtliche bürgerliche Freiheiten
       abzuschaffen und tausende Oppositionelle zu verhaften. Mit dem Brand selber
       hätten sie demnach nichts zu tun gehabt.
       
       Diese Sichtweise verändert sich aber seit Jahren. Und so schließt auch die
       [3][Arte-Dokumentation] „Als der Reichstag brannte“ eine Alleintäterschaft
       van der Lubbes aus. Ein O-Ton eines Brandsachverständigen, der 1933 im
       Reichstagsbrandprozess aussagte, hält fest, dass eine Einzelperson zum
       Legen der Feuer „mindestens 20-25 Minuten Zeit benötigte – wenn das
       Material bereitstand. Es ist weiter festgestellt worden, das Kohlenanzünder
       mit Naphtalin mit selbstentzündlicher Flüssigkeit getränkt worden sind und
       die auf eine petrol- oder schwerbenzingetränkte Unterlage gelegt worden
       sind.“
       
       Folgte man dieser Aussage – es gibt weitere sehr ähnliche –, wäre es nie zu
       der jahrzehntelangen Auseinandersetzung um den Reichstagsbrand gekommen,
       denn van der Lubbe hatte keine Kanister mit derartigen Flüssigkeiten bei
       sich, als er in den Reichstag eindrang, sondern nur seine Kohlenanzünder,
       die er hier und da ablegte; sie hinterließen lediglich einige Brandflecken.
       
       ## Fehler in der bundesdeutsche Geschichtsschreibung
       
       Als van der Lubbe am Ende seines Laufs den Plenarsaal betrat, hatte er
       diese Kohlenanzünder längst verbraucht, sie hätten dieses Riesenfeuer auch
       nicht bewirken können. Doch nun, im Plenarsaal, entstand innerhalb weniger
       Minuten ein Riesenfeuer, das van der Lubbe nicht entfacht haben kann. Ihm
       fehlten dazu die Brandmittel und die Zeit, was von den Vertretern der
       Alleintäterthese standhaft ignoriert wird.
       
       Der Film, eine französische Produktion, stellt sachlich fest, dass es nicht
       so gewesen sein kann, wie es die bundesdeutsche Geschichtsschreibung seit
       Jahrzehnten unduldsam vertritt: Marinus van der Lubbe war kein Alleintäter.
       Aus ausländischer Sicht ist diese Feststellung leichter zu treffen als
       hierzulande; man ist ja nicht in diesen erbitterten Streit verwickelt, der
       in der Bundesrepublik seit einer Spiegel-Serie im Herbst 1959 (!), der
       Geburtsstunde der Alleintäterthese, schwelt.
       
       Doch auch diese Doku enthält Fehler. Selbst bei noch so intensiver
       Recherche ist es kaum möglich, das riesige Deutungsschlachtfeld, das der
       Reichstagsbrand hinterlassen hat, ganz zu überblicken. So irritiert die
       gebetsmühlenartig wiederholte Gleichsetzung von Kommunisten und
       Nationalsozialisten bis hin zu dem Satz, dass van der Lubbe der perfekte
       Sündenbock der Nationalsozialisten und der Kommunisten gewesen sei.
       
       ## Sensationellen O-Töne aus der Gerichtsverhandlung
       
       War es nicht vielleicht doch so, dass die Nazis auf den Sündenbock van der
       Lubbe zeigten und unter Bezugnahme auf seine Tat die Kommunisten
       einsperrten, folterten und ermordeten? Auch der Satz, dass der „letzte
       altersschwache Halt der Republik“ ausgerechnet Reichspräsident Hindenburg
       gewesen sein soll, hält einer Überprüfung nicht stand. Wer hatte denn
       Hitler zum Reichskanzler ernannt? Dem entspricht auch der Gebrauch des
       Wortes „Machtergreifung“, das man eigentlich schon fast glaubte vergessen
       zu dürfen.
       
       Die filmischen Mittel, die Archivfunde, die sensationellen O-Töne aus der
       Gerichtsverhandlung sind dicht und überzeugend eingesetzt – wobei die
       nachträgliche Kolorierung alter Schwarz-Weiß-Aufnahmen eher stört.
       „Wochenschau“-Material vom Brand und von der Gerichtsverhandlung wechselt
       sich ab mit Sequenzen aus dem 1955 gedrehten DEFA-Spielfilm „Der
       Teufelskreis“. Um den Brand dramatisch darzustellen, hatte man damals den
       gesamten Reichstag brennen lassen – als Modell. Tatsächlich hatte aber nur
       der Plenarsaal gebrannt, wie der Film an anderer Stelle korrekt berichtet.
       
       Doch diese Nachstellung für den Film „Teufelskreis“, der übrigens in der
       Bundesrepublik verboten war, ist so realistisch gelungen, dass ein Foto
       dieses brennenden Modells immer wieder als Originalfoto vom 27. Februar
       1933 bezeichnet wird. Aufgeklärt wird dieser Widerspruch in der Doku leider
       nicht; der Reiz, die „historischen Aufnahmen“ zu zeigen, war dann wohl doch
       zu groß.
       
       Uwe Soukup hat soeben im Heyne-Verlag das Buch „Die Brandstiftung – Mythos
       Reichstagsbrand. Was in der Nacht geschah, in der die Demokratie unterging“
       veröffentlicht.
       
       9 Mar 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Vermeintlicher-Reichstagsbrandstifter/!5915665
   DIR [2] /Buch-ueber-Verschwoerungserzaehlungen/!5808941
   DIR [3] /Doku-ueber-Val-Kilmer-bei-Arte/!5910750
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Uwe Soukup
       
       ## TAGS
       
   DIR Brandanschlag
   DIR Schwerpunkt Nationalsozialismus
   DIR Dokumentation
   DIR Reichstag
   DIR Verschwörung
   DIR Schwerpunkt Nationalsozialismus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Vermeintlicher Reichstagsbrandstifter: Sie sprechen von Leichenschändung
       
       Das Grab des vermeintlichen Reichstagsbrandstifters Marinus van der Lubbe
       in Leipzig wurde geöffnet. Das stößt bei seiner Familie auf Unverständnis.
       
   DIR Buch über Verschwörungserzählungen: Hitler in Frauenkleidern in Dublin
       
       Außerhalb rationaler Diskurse: Der Historiker Richard J. Evans hat Wesen
       und Inhalt von NS-Verschwörungstheorien untersucht.
       
   DIR NS-Gedenkort Papestraße in Berlin: An den Schrecken erinnern
       
       Auf einem ehemaligen Kasernengelände befand sich ein SA-Foltergefängnis.
       Seit zehn Jahren gibt es dort eine Gedenkstätte.