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       # taz.de -- Studienplätze für Menschen mit Behinderung: Es geht auch ohne Abi
       
       > Die Hochschule im niedersächsischen Ottersberg gibt Menschen mit
       > Behinderungen erstmals die Chance auf ein reguläres Studium der Kunst und
       > Kultur.
       
   IMG Bild: Will sich nicht in eine Werkstatt abschieben lassen: Schauspielerin Amelie Gerdes
       
       Bremen taz | [1][Ole Bramstedt] möchte Schauspieler werden. Und er war ja
       auch schon mal im Bremer Tatort zu sehen: „Und immer gewinnt die Nacht“
       hieß der, 2021 lief er im Fernsehen. Dass Bramstedt ein professionell
       ausgebildeter Schauspieler wird, war gesellschaftlich bisher trotzdem nicht
       vorgesehen: Er gehört zu den Menschen mit Lernschwierigkeiten. Und bei so
       was endet in aller Regel die Inklusion – mindestens, was ein Studium
       angeht.
       
       Trotzdem kann Bramstedt seit dem Wintersemester ganz offiziell „Tanz und
       Theater im Sozialen“ an der Fachhochschule im bremennahen Ottersberg
       studieren, nachdem er zuvor schon Gasthörer dort war. „Es macht mich stolz
       und glücklich, überhaupt über den Campus gehen dürfen“, sagt Bramstedt:
       „Ich träume davon, dass es für mich wie auch für andere mehr berufliche
       Möglichkeiten gibt.“
       
       Er ist einer von vier Menschen mit Lernschwierigkeiten, die nun in Vollzeit
       an der Hochschule für Künste im Sozialen (HKS) studieren. Drei lernen
       dasselbe wie Bramstedt, die vierte Studierende wurde für „Freie Bildende
       Kunst“ immatrikuliert. Alle vier bestanden die Begabten-Prüfung, die ein
       Studium auch ohne Abitur erlaubt. Ihr Ziel: ein Bachelor-Abschluss.
       
       Möglich wurde das durch das zunächst auf drei Jahre angelegte
       [2][Pilotprojekt „Artplus“], initiiert von [3][„Eucrea“], einem
       deutschsprachigen, in Hamburg ansässigen Dachverband zu Kunst und
       Behinderung. Allerlei namhafte Ausbildungsinstitutionen beteiligen sich
       daran – neben Niedersachsen sind auch Hamburg, Bremen und
       Nordrhein-Westfalen bei der Initiative dabei, die neue Chancen der
       beruflichen Qualifizierung für Menschen mit Behinderung schaffen will. „Das
       stärkt einerseits Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein“, sagt Bramstedt,
       „andererseits wird man dadurch immer selbstständiger.“
       
       ## „Ein Paradigmenwechsel“
       
       „Der Weg, den wir gehen, stellt einen Paradigmenwechsel im Hochschulbetrieb
       dar“, sagt Angela Müller-Giannetti, Projektleiterin von Artplus. „Bis vor
       Kurzem ist man noch davon ausgegangen, dass Menschen mit
       Lernschwierigkeiten nicht bildungsfähig sind und ihnen daher auch keine
       Hochschulbildung zusteht.“ Amelie Gerdes etwa hat nicht nur kein Abitur,
       sie hat auch Trisomie 21. Trotzdem will sie sich nicht einfach in die
       schlecht bezahlte Arbeit einer Werkstatt abschieben lassen: „Da würde ich
       unter meinen Fähigkeiten bleiben“, sagt sie. Und sie war ja auch schon bei
       den Jungen Akteur:innen im [4][Theater Bremen] zu sehen. Und in der ARD.
       
       Alles in allem fördert Artplus derzeit 16 Studierende in den Bereichen
       Musik, bildende und darstellende Künste in insgesamt neun
       Ausbildungsstätten. Die Studierenden mit Beeinträchtigung an der HKS
       bekommen Assistierende zur Seite gestellt, die auch selbst dort
       eingeschrieben sind. „Wissenschaftliches Arbeiten ist die größte
       Herausforderung“, sagt Hans-[5][Joachim Reich, Professor für Performance,
       Tanz, Bewegung] – theoretische Inhalte müssten ganz anders vermittelt
       werden. „Die Arbeitsweise muss deutlicher rübergebracht werden“, sagt
       Bramstedt dazu, „damit ich sie leichter verstehe.“
       
       Reich hat für das Studium im Fach „Bewegungsanalyse“ für abstrakte Begriffe
       wie Kraft, Raum und Zeit Bilder herausgesucht. Die Frage, wie
       wissenschaftliche Texte verständlich gemacht werden können, ist aber noch
       nicht ganz beantwortet: „Ich finde es schön, dass die Studierenden sehen,
       dass wir noch nicht fertig sind“, sagt Reich. „Es ist eine gemeinsame
       Aufgabe, das hinzukriegen.“
       
       Die HKS gehört europaweit zu den größten Ausbildungsstätten für
       Kunsttherapie und bietet insgesamt vier Bachelor- und einen
       Master-Studiengang an. Die Ottersberger Absolvent:innen arbeiten in
       Kliniken, in der Jugend-, Behinderten- und Altenhilfe, mit Suchtkranken und
       Straffälligen, in soziokulturellen Projekten, Theatern und als freie
       Künstler:innen und Kunsttherapeut:innen. Nun hat man sich an der HKS zum
       Ziel gesetzt, inklusive Hochschule zu werden.
       
       Doch selbstständige Kreative mit Behinderungen sind in der deutschen
       Kulturlandschaft „noch immer eine Ausnahme“, sagt Müller-Giannetti – es
       gebe kaum Angebote für eine künstlerische Qualifikation für sie. So bleiben
       sie meist auf künstlerische Jobs innerhalb der Behindertenhilfe oder
       ehrenamtliche Angebote im Freizeitbereich beschränkt.
       
       „Künstlerische Ausbildungsinstitutionen haben häufig wenig Berührungspunkte
       mit Interessierten mit Behinderung“, heißt es bei Eucrea. Und sollte es
       doch mal zu einer Bewerbung kommen, „entstehen viele Fragen, die die
       Hochschulen alleine oft nicht beantworten oder leisten können“. Dabei hat
       sich Deutschland mit der Unterzeichnung der
       [6][UN-Behindertenrechtskonvention] verpflichtet, „ein inklusives
       Bildungssystem auf allen Ebenen zu errichten“. Auf „allen“ Ebenen, also
       auch in der akademischen Ausbildung.
       
       Doch entsprechende Angebote in der Kulturbranche gibt es in der Regel nur
       für Menschen mit physischen Beeinträchtigungen, auch den
       Inklusionsbeauftragten der Hochschulen fehlt es meist an den notwendigen
       Ressourcen. „Oft wird gesagt: Du hast schon eine Behinderung – und dann
       willst du noch in ein so extrem schwieriges Berufsfeld“, sagt
       Müller-Giannetti – diesen Menschen werde oft nicht zutraut, sich in der
       Gesellschaft behaupten zu können.
       
       Dabei sei die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt durchaus da, weiß die
       Projektleiterin: „Theater, Filmproduktionen, Tanz-Kompanien und andere
       kulturelle Institutionen möchten ihre Ensembles divers besetzen. Doch es
       fehlt an professionell ausgebildeten Kunstschaffenden.“
       
       Amelie Gerdes will das ändern, sie wirkte als Schauspielerin auch schon in
       der Komödie „[7][Geheimkommando Familie“] mit. Jetzt träumt sie davon, so
       wie Bramstedt auch mal in einem „Tatort“ mitspielen zu können. „Ich brauche
       Herausforderung“, sagt sie.
       
       An der HKS geht man davon aus, dass die Studierenden mit
       Lernschwierigkeiten eher neun bis zehn Semester brauchen, die
       Bachelorarbeit könnte vielleicht durch eine Performance oder mündliche
       Prüfungen ersetzt werden. Gerdes ist sich sicher, dass sie das alles
       schafft: „Ich habe so einen Sturkopf“, sagt sie. „Und ich weiß ganz genau,
       was ich will.“
       
       28 Feb 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.eucrea.de/sitemap/beitraege/102-hp-nachrichten-artplus/1168-neue-folge-artplus-perspektiven
   DIR [2] https://www.eucrea.de/artplus-ausbildung-2021-2024/studieren-mit-behinderung
   DIR [3] https://eucrea.de/aktivitaeten/strukturprogramme/artplus-ausbildung-2021-2024
   DIR [4] https://www.theaterbremen.de/de_DE/programm/give-me-ten-seconds.1301697#ensemble
   DIR [5] https://www.hks-ottersberg.de/hochschule/lehrende/Reich.php
   DIR [6] https://www.behindertenrechtskonvention.info/
   DIR [7] https://www.festival-des-deutschen-films.de/filme/geheimkommando-familie
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jan Zier
       
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