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       # taz.de -- Kriegsflüchtlinge in Berlin: Viel Engagement,viel Frust
       
       > Die Zivilgesellschaft leistet viel für Ukrainer*innen. Doch oft arbeiten
       > Bürokratie und Politik gegen sie, klagen Flüchtlingshelfer*innen.
       
   IMG Bild: Früher „Tor zur Welt“, heute Notunterkunft für tausende Ukrainer*innen: der Ex-Flughafen Tegel
       
       Berlin taz | In diesem ersten Jahr des Ukrainekriegs, der bislang gut
       60.000 Menschen nach Berlin vertrieb, hat sich die Berliner Politik immer
       wieder auf die Schulter geklopft. Wie schnell und „professionell“ habe man
       reagiert, als Tausende an den Bahnhöfen ankamen! Wie toll habe man in Tegel
       binnen kürzester Zeit ein Ankunftszentrum aufgebaut, von dem aus
       Flüchtlinge bundesweit verteilt werden konnten! Wie hilfsbereit seien die
       Berliner*innen – und wie großartig unterstütze sie die Politik! Wie
       hart arbeite das Landesamt für Geflüchtete (LAF), um ganz schnell viele
       neue Unterkünfte zu beschaffen! Und wie stolz sei man, keine Turnhallen
       requirieren zu müssen – obwohl noch mehr Menschen gekommen seien als
       2015/16 beim Syrienkrieg!
       
       Hat Berlin in dieser Krise also alles richtig gemacht? Läuft alles rund bei
       der Unterbringung der Geflüchteten?
       
       Wer sich anschaut, was gerade im Ankunftszentrum Tegel passiert, muss daran
       zweifeln. Doch die Öffentlichkeit bekommt von den Zuständen dort so gut wie
       nichts mit, womöglich ist das auch so beabsichtigt. Das Flughafengelände
       ist weiträumig abgesperrt, Security kontrolliert den Zugang – nur mit
       Termin und Begleitung sind Besuche möglich.
       
       Der Flüchtlingsrat kritisiert das scharf: Eine unabhängige Beratung sei so
       nicht möglich, sagt Georg Classen, Beschwerden von Bewohner*innen, etwa
       über mangelnde Hygiene und unzureichende Sozialberatung, könnten nicht
       überprüft werden. Regina Kneiding, die Sprecherin des Deutschen Roten
       Kreuzes, das Tegel betreibt, erwidert, in so einer großen Unterkunft müsse
       man „schon aus Sicherheit für die Bewohner“ den Zugang kontrollieren.
       Flüchtlingsrat und andere Initiativen könnten aber „geführte Rundgänge“
       machen.
       
       ## „Jegliche Privatsphäre fehlt“
       
       Auch Günther Schulze vom Willkommensbündnis für geflüchtete Menschen in
       Steglitz-Zehlendorf kritisiert die Abgelegenheit von Tegel.
       Zivilgesellschaftliche Organisationen, die den Geflüchteten gerne helfen
       würden, kämen schon aufgrund der Lage gar nicht nach Tegel. „Bei den
       Turnhallen sahen die Leute das Elend in ihrer Nachbarschaft und haben sich
       gekümmert. In Tegel sind die Menschen aus den Augen, aus dem Sinn.“
       
       Dass der Senat dennoch an dem Standort festhält, findet der Flüchtlingsrat
       falsch. „Trotz der völlig isolierten Lage, des Fehlens jeglicher
       Privatsphäre und weiterer schwerer Defizite wird diese menschenunwürdige
       Notunterkunft immer weiter ausgebaut“, sagt Classen. Er fordert, der Senat
       müsse einen Plan zur umgehenden Schließung des Ankunftszentrums vorlegen.
       
       Aber Tegel dichtmachen? Wie soll das gehen? Hören wir nicht täglich in den
       Nachrichten, dass es in Berlin und anderswo keinen Platz und erst recht
       keine Wohnungen gibt? Weder für Geflüchtete noch für Deutsche mit geringem
       Einkommen?
       
       Schon, sagt Günther Schulze, aber das müsse nicht sein: „Wir bräuchten ein
       mittel- bis langfristiges Konzept für die gesamte Unterbringungssituation –
       von Geflüchteten, armen Menschen, Studierenden für die nächsten 20 Jahre.“
       
       ## Die meisten Flüchtlinge kommen privat unter
       
       Bei einer anderen Politik, davon ist Classen überzeugt, wären
       Massennotunterkünfte wie Tegel nicht nötig. „Der Senat muss endlich mit
       oberster Priorität den Zugang zu privaten Wohnungen unterstützen“, sagt er
       – „durch mehr spezifische Beratungsangebote, Sofortprüfung von
       Mietangeboten durch Sozialbehörden, mehr Unterstützung für private
       Wohnungsgeber.“ Das müsse für Kriegsflüchtlinge und Asylsuchende
       gleichermaßen gelten.
       
       Tatsächlich wohnt der überwiegende Teil der Ukrainekriegsflüchtlinge
       ohnehin in privaten Unterkünften: Nach einer Studie des Instituts für
       Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), [1][die vorige Woche vorgestellt
       wurde], leben bundesweit 74 Prozent in einer privaten Wohnung oder einem
       Haus, darunter 26 Prozent bei Familie, Freunden und Bekannten, 15 Prozent
       bei einer „anderen Person“.
       
       Auch in Berlin wohnen von 60.000 Ukrainer*innen nur 4.200 in
       Unterkünften des LAF. Von Beginn des Krieges an war die Hilfsbereitschaft
       der Bevölkerung immens: Tausende haben über Initiativen wie
       #UnterkunftUkraine, die Gruppe [2][Berlin Arrival Support (BAS]), die seit
       Kriegsbeginn auch an den Bahnhöfen das Ankommen organisierte, sowie über
       bereits bestehende Vereine wie „Moabit hilft“ und „Schöneberg hilft“ Zimmer
       und Wohnungen angeboten.
       
       Doch dieses Engagement der Zivilgesellschaft, so die Kritik, werde bis
       heute erschwert. So habe es in den ersten Kriegsmonaten viele Initiativen,
       unter anderem von Kirchengemeinden, gegeben, die kleinere
       Geflüchtetenunterkünfte anbieten wollten – fast alle seien jedoch vom LAF
       abgelehnt worden, weil das Amt auf große Massenunterkünfte setze, sagt
       Anne-Marie Braun von „Schöneberg hilft“.
       
       ## Vom Senat alleingelassen
       
       Auch sonst gebe es viel zu wenig Unterstützung für private
       Gastgeber*innen, klagt sie. „Warum gibt es in Berlin, anders als in
       anderen Kommunen, zum Beispiel keine Energiekostenpauschale für
       Gastgeber*innen?“ Die Angst, auf hohen Energiekosten sitzen zu bleiben,
       habe viele Menschen abgeschreckt, Ukrainer*innen bei sich aufzunehmen.
       Diana Henniges von „Moabit teilt diese Kritik und fragt: „„Warum gibt es
       keine Unkostenpauschale für Hosts, die keinen offiziellen Untermietvertrag
       abschließen können oder wollen?“
       
       Auch Maria und Lu von housing.berlin, einer Gruppe innerhalb des Netzwerks
       BAS, erfahren in Gesprächen mit privaten Gastgeber*innen oft, dass
       diese sich [3][vom Senat alleingelassen fühlen]. Die Gruppe hat seit
       Kriegsbeginn tausende Berliner*innen mit Ukrainer*innen
       zusammengebracht. „Es ist auch deswegen sehr schwierig geworden, neue
       Gastgeber*innen zu finden“, sagt Maria. housing.berlin überlege daher
       gerade, sich neu auszurichten, beispielsweise in Richtung eines Forums, in
       dem private Gastgeber*innen ihre Geschichten erzählen und Erfahrungen
       weitergeben können. „Es fehlt ein Resonanzraum für die Zivilgesellschaft,
       die bislang eben nicht gehört wird.“
       
       Ein weiterer Kritikpunkt, den vor allem Henniges und Braun betonen, ist,
       dass es nach wie vor kein vom Land organisiertes Beratungsangebot gebe, wo
       man sich über seine Rechte als Flüchtling und als Gastgeber*in
       informieren kann. Denn oft, so berichten sie übereinstimmend, würden sich
       Mitarbeiter*innen in Sozialbehörden mit der Rechtslage nicht auskennen
       und gäben etwa falsche Auskünfte (etwa dass man auch bei offizieller
       Untervermietung keine Miete vom Jobcenter bekomme).
       
       Ständig gingen Dokumente verloren, die man mühsam wieder besorgen (und so
       lange auf sein Geld warten) müsse, oft würden völlig unnötige Nachweise
       gefordert – „etwa Kontoauszüge oder Rentenbescheide aus der Ukraine“, so
       Henniges. Auch Braun hat ein schönes Beispiel für Bürokratie-Irrsinn: „Für
       einen Antrag auf Kindergeld wurde die Unterschrift des Vaters verlangt –
       obwohl der in der Ukraine an der Front ist!“
       
       ## „Rechtskreiswechsel“ heißt Rennerei
       
       Einhellig kritisieren Flüchtlingshelfer auch den Zuständigkeitswirrwarr bei
       Berliner Behörden: Erst sind die bezirklichen Sozialämter für die
       Flüchtlinge zuständig, nach Erteilung der Aufenthaltserlaubnis die
       Jobcenter. Weil es keine elektronischen Akten gibt, bedeutet dieser
       „Rechtskreiswechsel“ für Geflüchtete und ihre Gastgeber*innen meist
       viel Rennerei, wochenlang kein Geld und keine Entscheidungen, etwa über
       Mietkostenübernahmen. Auch Umzüge über Bezirksgrenzen hinweg würden
       erschwert. „Verwaltungstechnisch liegt wirklich viel im Argen in Berlin“,
       fasst Henniges zusammen. „Wenn das besser wäre, wären Tegel und die Heime
       zumindest viel leerer.“
       
       Sozialsenatorin Katja Kipping (Linke) weist die Kritik weitgehend zurück.
       „Oberstes Ziel war und ist es, die Obdachlosigkeit von Geflüchteten zu
       verhindern“, sagt sie – dies sei durch Zusammenarbeit aller Verwaltungen,
       der Bezirke „und dank des großartigen Engagements der Zivilgesellschaft
       erreicht“ worden. Die Verwaltung habe aus 2015/16 „die richtigen Lehren
       gezogen, schnell gehandelt und mit ehrenamtlichen Helfer*innen und
       Geflüchtetenorganisationen kooperiert“.
       
       Versäumnisse in puncto Hilfen für Gastgeber*innen sieht Kipping nicht:
       Es gebe ja das Willkommenszentrum, wo man sich beraten lassen könne. Auch
       Erleichterungen bei der Wohnungssuche – etwa indem auch Geflüchtete bei
       entsprechenden Einkommensvoraussetzungen einen WBS bekommen, wie es der
       Flüchtlingsrat seit Jahren fordert – würden angesichts des angespannten
       Wohnungsmarkts „das Unterbringungsproblem nicht lösen“.
       
       Eine weitere Hürde für Geflüchtete auf dem Weg zur eigenen Wohnung würde
       auch Kipping gern aus dem Weg räumen, für die ist aber
       Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) zuständig: die sogenannte
       Wohnsitzauflage. Sie bestimmt, dass sowohl Asylbewerber*innen als auch
       ukrainische Kriegsflüchtlinge in dem Landkreis wohnen müssen, wo sie zuerst
       registriert wurden. Wer einmal in Berlin gemeldet ist, darf nicht nach
       Bernau oder Falkensee ziehen – auch wenn er dort günstig mieten könnte.
       
       24 Feb 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://doku.iab.de/grauepap/2022/gesamtbroschuere_ukraine.pdf
   DIR [2] /Unterbringung-von-Gefluechteten-in-Berlin/!5887611
   DIR [3] /Ukrainische-Gefluechtete-in-Berlin/!5878031
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Susanne Memarnia
       
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