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       # taz.de -- Roman über Leichenfundortreiniger: Überzeugend auf dünnem Eis
       
       > Letzte Fragen: Milena Michiko Flašar schickt in ihrem Roman „Oben Erde,
       > unten Himmel“ einen japanischen Leichenfundortreinigungstrupp los.
       
   IMG Bild: Gibt Hinweise auf die Leichenliegedauer: die blaue Schmeißfliege
       
       Eine Großstadt in Japan. Suzu hat ihr Studium abgebrochen und meidet ihre
       Familie. Eine Liebesbeziehung ist gescheitert und sie kann sich nicht an
       Freundschaften erinnern. Der letzte Arbeitgeber hat ihr gekündigt: Sie
       solle sich einen Job ohne Menschenkontakt suchen; immerhin könne sie gut
       mit dem Mopp umgehen. Suzu landet in einer Putzkolonne, deren Chef sich auf
       Kodokushi-Fälle spezialisiert hat: Das sind Menschen, die allein in ihren
       Wohnungen sterben.
       
       Wenn der Tote nach einiger Zeit bemerkt und abtransportiert wird, beginnt
       die Arbeit der „Leichenfundortreiniger“: Sie beseitigen Blut, Exkremente,
       Schädlinge, Schmutz. Der Chef des Putztrupps, Herr Sakai, stellt neben Suzu
       einen weiteren jungen Loser ein: Takada, der ein Internetcafé mit
       Übernachtungsmöglichkeit als Zuhause bezeichnet.
       
       Milena Michiko Flašar, Jahrgang 1980, ist eine japanisch-österreichische
       Autorin, die sich auch in vorausgehenden Büchern mit den besonderen
       Verwerfungen in der japanischen Kultur beschäftigte. Suzu und Takada haben
       diverse Entscheidungsspielräume und erleben diese Freiheit so wie viele
       ihrer Generation als Bindungslosigkeit, Beliebigkeit und Leere.
       
       Wenn alles geht, geht nichts; beziehungsweise es geht gerade noch der neue
       Job bei dem gestrengen Chef. Sakai und seine Leute betreten die Wohnung
       eines Toten. Sie verbeugen sich vor seinem Geist, stellen sich vor und
       erklären, dass sie seine Wünsche nach einem leidlich würdigen Abgang
       verstehen und ausführen wollen. Dann geht es an die Auflösung der
       Wohnungen, die oft von Maden und Fliegen wimmeln; immer herrscht ein
       süßlicher Leichengeruch.
       
       Sakai verteilt Schutzanzüge, Atemmasken und Kotztüten. Der Roman skizziert
       die Säuberungsarbeiten, ohne in ekelhaften Details zu baden; er wälzt sich
       überhaupt nicht im Morbiden. Der Putztrupp organisiert die sinnvolle
       Weitergabe von Besitz, stellt Erinnerungsboxen für die Angehörigen oder
       auch nur für das eigene Depot zusammen. Es geht vor allem darum, aus dem
       „Nichtort“ der Toten wieder einen Ort für lebendige Menschen herzurichten.
       
       ## Suzu wird kontaktfähiger
       
       Flašar schildert in kleinen Szenen, wie Suzu durch die Arbeit in der Gruppe
       allmählich kontaktfähig wird. Nach Feierabend zwingt Sakai seine Leute ins
       Badehaus; einmal nötigt er sie zur Teilnahme am traditionellen
       Frühlingsfest, das Suzo schlechtgelaunt als „Kirschblütenschnickschnack“
       bezeichnet. Als Takada krank wird, sorgt der Chef dafür, dass Suzu sich um
       ihn kümmert; sie besucht sogar ihre Familie.
       
       Auch ihr negatives Selbstbild bröckelt: Offenbar war sie nicht immer nur
       ein isolierter, abweisender Mensch und ist auch nicht dazu verdonnert,
       einer zu bleiben. Es gibt in diesem Buch einige Einsichten, die mit
       erhobenem Zeigefinger vorgetragen werden; das ist überflüssig, denn man
       versteht den Impuls des Textes sehr bald.
       
       „Oben Erde, unten Himmel“ ist ein Entwicklungsroman: Angesichts des Todes
       lernt ein Mensch, zu leben. Das klingt verdächtig nach dem treuherzigen
       Glauben, wonach der Weg durch Nacht zum Licht verläuft. Natürlich lechzen
       wir in der Realität danach – aber in der Literatur führt spätestens das
       gelingende, harmonische Dasein leider oft zum Kitsch.
       
       Die Autorin bewegt sich also auf einem dünnen Eis. Aber sie erzählt
       entwaffnend spröde und lakonisch; und zwischen den Zeilen entfaltet sich
       oft eine feine Komik. Zusammen mit der widerspenstigen Heldin lernt man
       eine Reihe lebender oder verstorbener Leute kennen, die man normalerweise
       desinteressiert oder, vornehm gesagt, diskret ignorieren würde.
       
       [1][Nicht nur in Japan herrschen Einsamkeit, Anonymität und ein Mangel an
       Sinn und Selbstbewusstsein.] Suzu sagt sich am Anfang des Buchs: „Wieder
       ein Tag vorbei und keinem zur Last gefallen.“ Soll das vielleicht alles
       sein? Hat der Mensch vielleicht doch ein Wesen, das sich entfalten möchte?
       
       ## Wie ist ein Mensch gemeint?
       
       Flašar nimmt dankenswert profane Umwege, um sich solchen existenziellen
       Fragen zu nähern: Da kauft der Chef neues Werkzeug; seine Ansprüche sind
       klar: Eine Zange muss ihre Funktion erfüllen, muss leicht und doch robust
       sein, gut in der Hand liegen und sogar möglichst schön aussehen; er sagt,
       sie muss als Ganzes zangenhaft sein. Wann ist eine Suzu „suzuhaft“? Wie ist
       ein Mensch gemeint und wie meint er sich selbst?
       
       Die einzelnen Episoden des Romans zeigen die Bedeutung sozialer
       Beziehungen. Während einem in der Realität die floskelhafte Forderung nach
       Empathie und gegenseitigem Respekt oft auf die Nerven geht, entfaltet das
       Buch diese Floskeln. Man liest mit Neugier und Sympathie, wie die blasse,
       mürrische Suzu aufblüht und Farbe bekommt. Eine eingängige, wohltuende
       Lektüre.
       
       27 Feb 2023
       
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