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       # taz.de -- Eine polnische Mutter in Berlin: Disziplin und Süßes
       
       > Als polnische Mutter in Berlin habe ich viel über die Deutschen gelernt.
       > Vor allem über Gemeinsamkeiten jenseits der Grenzen und Mentalitäten.
       
   IMG Bild: Die Nachbarin hängt süße Geschenke an die Tür, mit einem Zettel: „Bitte nur eine Schokolade pro Tag!“
       
       Die „polnische Mutter“ ist ein Begriff, der die traditionelle Rolle der
       Frau in Polen als Beschützerin ihrer Kinder beschreibt: fürsorglich,
       geduldig und mit ganzem Herzen bei der Sache. Der Begriff wird sogar über
       die Grenzen hinweg verwendet. Meine israelischen Freundinnen sagen: „Sei
       nicht so eine polnische Mutter“, und meinen damit: „Sei keine
       Helikoptermutter.“
       
       Ich selbst bin weit davon entfernt, eine überbehütende Mutter zu sein. Ich
       habe mein Berufsleben nie für meine Kinder geopfert, was nicht heißt, dass
       ich mich nicht um sie kümmere. Es ist jetzt 12 Jahre her, dass ich meine
       beiden Söhne zur Welt gebracht habe. Es war sowohl eine Zeit, in der ich
       mich sehr intensiv [1][um die Kinder gekümmert] habe, als auch die meiner
       größten beruflichen Erfolge. Ob es eine „Work-Life-Balance“ gibt, bezweifle
       ich – aber das hält mich nicht davon ab, eine Art Gleichgewicht zu suchen.
       Und da es schwierig ist, alles richtig zu machen, gehen meine Kinder oft
       ohne Mütze oder mit offener Jacke aus dem Haus, was sie aber nicht daran
       hindert, glücklich zu sein.
       
       Auch wenn ich das Klischee der „polnischen Mutter“ nicht mag, bin ich
       sowohl Polin als auch [2][Mutter.] Deshalb ist es für mich sehr
       interessant, Deutsche – deutsche Mütter – zu treffen und zu erfahren, wie
       sie die Rolle der Frau und die Kindererziehung verstehen. Das Nachdenken
       über Fragen der Kindererziehung, über Elternrollen ist ein Schlüssel dafür,
       zu erkennen, was uns auf beiden Seiten der Oder und Neiße verbindet und was
       uns trennt.
       
       Die besten Soziologen sind Fremde, sagte der Berliner Soziologe Georg
       Simmel. Ständiges Reisen, die Präsenz in verschiedenen kulturellen und
       geografischen Ordnungen, ein Lebensstil, der durch die Anzahl der Reisen
       etwas nomadisch ist – all das charakterisiert den Fremden aus dem berühmten
       gleichnamigen Aufsatz Simmels. Wenn das der Fall ist, spiele ich schon
       lange eine solche Fremden-Rolle.
       
       Seit 2021 lebe ich in Berlin, vorübergehend mit nur einem Sohn. Mit dem
       anderen lebt sein Vater in Warschau, also bauen wir beide sozusagen zwei
       Denkmäler der selbstständigen oder manchmal auch alleinerziehenden
       Elternschaft. Durch die ständigen Reisen nach Berlin und Warschau fühlen
       wir uns als Bürger*innen zweier Städte, und diese Erfahrungen bilden
       unsere Identität als Familie.
       
       Meine erste Erfahrung, wenn es um deutsche Kinder und ihre Erziehung ging,
       war … Stille. Polnische Kinder, so hat man den Eindruck, sind sehr laut,
       und sie sind überall. In den Kindergärten werden sie ausgiebig betreut,
       sodass sie, wenn sie in die Schule kommen, noch nicht so weit sind, ihr
       eigenes Verhalten und ihre Gefühle zu regulieren. Die Erfahrung der
       deutschen Einschulung war für mich in dieser Hinsicht äußerst lehrreich.
       All die Sechsjährigen, die entschlossen ihre Rucksäcke nehmen und ins
       Klassenzimmer marschieren, waren ziemlich beeindruckend. Die meisten
       Kinder, die in Polen aufgewachsen sind – unsere Schule ist deutsch-polnisch
       –, hatten ein kleines Problem mit dieser Selbstständigkeit. Sie mussten sie
       erst noch lernen.
       
       Schwer zu sagen, welcher dieser Ansätze besser ist. In Polen, vor allem in
       Großstädten und an privaten Schulen, haben wir eine Entwicklung
       durchgemacht, die in Deutschland gerade erst ankommt und über die Der
       Spiegel kürzlich ausführlich geschrieben hat. Es ist eine Verschiebung weg
       von der Disziplin, hin zu einer demokratischeren Erziehung. In der Praxis
       bedeutet das oft mehr Chaos, aber die Kinder haben mehr Freiheit.
       
       Eltern aus Polen finden es oft schwierig, sich im Berliner Schulsystem
       zurechtzufinden. All die Gymnasien ab der fünften oder ab der siebten
       Klasse und der Lateinunterricht ab 11 Jahren, oder auch nicht – all das
       kann sehr undurchsichtig erscheinen. Dazu der Zweifel, ob ein Schulwechsel
       nach der vierten Klasse nicht zu anstrengend ist für die Kinder. Aber als
       Mutter habe ich auch viel Hilfe von den Schulen erfahren, an denen ich
       meine Kinder anmelden wollte.
       
       Antiautoritäres Polen? Nun ja: Die polnische Stiftung Dajemy Dzieciom Siłę
       (Wir geben Kindern Macht) hat vor Kurzem eine Studie veröffentlicht, aus
       der hervorgeht, dass mehr als 40 Prozent der polnischen Kinder zu Hause
       Gewalt ausgesetzt sind und 57 Prozent Gewalt durch Gleichaltrige erfahren.
       Dazu kommt [3][sexuelle Gewalt], die in Polen in Form von Skandalen nach
       und nach ans Licht der Öffentlichkeit kommt. Auch in Deutschland werden
       regelmäßig alarmierende Studien und Polizeistatistiken zu diesem Problem
       veröffentlicht.
       
       Wir haben noch weitere gemeinsame Probleme auf beiden Seiten der Grenze.
       Depressionen und Suizide unter Kindern und Jugendlichen sind heute eine
       echte Zivilisationskrankheit. Ob das nun eine Auswirkung der sozialen
       Medien ist oder der Klimakrise oder letztendlich die verzögerte Wirkung der
       Pandemie – schwer zu sagen, aber es hilft, zu erkennen, dass dies in Polen
       und Deutschland gleichermaßen schlimm ist. So können wir Erfahrungen
       austauschen und uns gegenseitig helfen.
       
       Meine zweite grundlegende Erfahrung war die Art, in der hier die Kinder
       angesprochen werden. Die Deutschen sind dafür bekannt, dass sie sich
       gegenseitig auf die Finger schauen und schonungslos kritisieren. Das
       passiert einer Mutter mit einem Kind oft, auch in der Öffentlichkeit, und
       für mich war es schwer, mich daran zu gewöhnen. Doch während mich in Polen
       die Passanten auf der Straße ansprechen („Bitte sagen Sie Ihrem Kind, dass
       es beim Fahrradfahren vorsichtig sein soll!“), ist das in Deutschland
       anders: Die Passanten sprechen das Kind meist direkt an – Kinder werden
       hier also als eigenverantwortliche Subjekte betrachtet.
       
       Meine dritte wichtige Erfahrung war die Art, wie ich als Mutter behandelt
       wurde. Hier habe ich zwei Arten von Erfahrungen gemacht, und paradoxerweise
       sind dabei „Polentum“ und „Mutter sein“ getrennt. Einerseits sind Klischees
       und Vorurteile gegenüber Polen weit verbreitet, die oft aus einem völligen
       Mangel an Wissen resultieren. Ich begegne diesen Stereotypen oft, zum
       Beispiel wenn jemand, der von meiner Nationalität gerade erfahren hat, den
       unbändigen Drang verspürt, mir einen Witz über polnische Autodiebe zu
       erzählen. Auf der anderen Seite kann aber eine alleinerziehende Mutter hier
       auf viel menschliches Mitgefühl und Hilfe zählen. Auch wenn ich noch nicht
       lange genug hier bin, um zu wissen, ob dies das Ergebnis der deutschen
       „Willkommenskultur“ ist, die sich über Jahrzehnte entwickelt hat, oder
       etwas anderes – erwähnenswert ist es allemal.
       
       Ein Vorurteil über die Deutschen dagegen stimmt: Sie mögen keinen Lärm.
       Dafür sind sie berüchtigt, und Kinder stören sie oft. Von allen
       Erfahrungen, die ich in den letzten zwei Jahren gemacht habe, war jedoch
       nur eine wirklich negativ. Es war eine Nachbarin, die an meine Wohnung
       klopfte, mich regelmäßig ermahnte, dass mein Sechsjähriger zu laut sei, und
       einmal, als er in Quarantäne war, drohte, deswegen die Polizei zu rufen.
       
       Expert*innen für das menschliche Gehirn sagen, dass wir uns aus
       evolutionären Gründen besser an negative Erfahrungen erinnern, und
       sicherlich hat mich diese unangenehme Begegnung monatelang gestresst. Aber
       die Summe meiner positiven Erfahrungen übersteigt die negativen bei Weitem.
       Lasst uns also der Gerechtigkeit Genüge tun und über eine andere Nachbarin
       schreiben, die gerne Überraschungen macht, indem sie kleine süße Geschenke
       für meinen Sohn an die Klinke meiner Haustür hängt (zusammen mit Blättern,
       zum Beispiel: „Pass auf deine Zähne auf! Bitte iss nur eine Schokolade pro
       Tag“).
       
       Oder die Frau, die mich vermeintlich auf der Straße anpöbelte, als mein
       Sohn hysterisch wurde. Sie fragte erst, ob ich Deutsch spreche, und sagte
       dann: „Tut mir leid, dass ich Sie störe, ich wollte Ihnen nur sagen, dass
       meine Tochter sich auch so benahm als Kind und es wirklich vorbeigehen
       wird, bitte halten Sie durch.“ Für jemanden, der ein sechsjähriges Kind als
       wichtigsten täglichen Begleiter hat, allein am Anfang seines Aufenthalts in
       einem fremden Land, bedeutet ein solches Zeichen von Empathie sehr viel.
       Die Frau blieb mir monatelang in Erinnerung.
       
       Polen und Deutsche haben mehr gemeinsam, als man denkt – auch politisch
       stehen wir vor einer Reihe gleicher Probleme: Beides sind große Länder in
       der Mitte Europas, die viele gemeinsame Interessen und eine gemeinsame
       Grenze haben. Und doch sind unsere Beziehungen in der letzten Zeit eher
       unbefriedigend. Wir haben einen langen Prozess der Versöhnung hinter uns –
       und seit einem Jahr haben wir außenpolitisch das gemeinsame Ziel, der
       Ukraine zu helfen. Und trotzdem sah es, was unser Verhältnis angeht, lange
       nicht mehr so schlecht aus, und das ist nicht nur eine Frage der
       populistischen Propaganda der polnischen Regierung.
       
       Es mangelt nicht nur an Wissen übereinander. Der Versöhnungsprozess
       zwischen beiden Ländern bestand bislang vor allem aus Treffen zwischen
       hochrangigen Politiker*innen, Beratungen zwischen Akademiker*innen,
       unterstützt durch Jugendaustausch. Doch all das reicht in unseren
       unsicheren Zeiten, Zeiten der sozialen Medien und des schnellen
       gesellschaftlichen Wandels, nicht mehr aus, um einander näherzukommen.
       
       Wo fangen wir an, um unsere Beziehungen zu verbessern? Das ist eine Frage,
       die mir in letzter Zeit viele Leute gestellt haben. Vielleicht sollten wir
       bei den Kindern anfangen. Dadurch würden wir unsere Unterschiede besser
       verstehen, aber auch die Herausforderungen, die uns vereinen. Ein erster
       Schritt könnte die Einrichtung neuer deutsch-polnischer Kindergärten und
       Schulen sein, von denen es derzeit nur sehr wenige gibt.
       
       11 Mar 2023
       
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