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       # taz.de -- Postkoloniales Berlin: Erinnern ist wie ein Tanz
       
       > Wie kann ein dekoloniales Erinnerungskonzept für Berlin aussehen? Die
       > Zivilgesellschaft berät seit Monaten. Nun wurden erste Ergebnisse
       > vorgestellt.
       
   IMG Bild: Koloniales Erbe und Protest in Berlin
       
       Berlin taz | Wie soll (sich) Berlin an den Kolonialismus erinnern? Die
       Zeiten, da Herrscher und Beherrschte in der Hauptstadt gleichermaßen stolz
       auf deutsche „Schutzgebiete“ und „Besitztümer“ in Afrika und Asien geblickt
       haben, nach den Eroberern Straßen benannt und die Bewohner*innen der
       Kolonien in „Völkerschauen“ angegafft haben, sind vorbei.
       
       Auch in der weißen Mehrheitsgesellschaft setzt sich mehr und mehr das
       Bewusstsein durch, dass der Kolonialismus ein zutiefst rassistisches
       Unrechtssystem war, dessen Wirkungen bis heute spürbar sind. Aber was
       machen wir dann mit unserer Geschichte – und wer ist eigentlich „wir“? An
       welche Menschen und Ereignisse wollen wir uns wie erinnern, auch um daraus
       für die Zukunft zu lernen? Kurz: Wie kann ein dekoloniales
       Erinnerungskonzept für Berlin aussehen?
       
       All diese Fragen zu klären ist seit vier Jahren politisches Programm.
       [1][„Berlin übernimmt Verantwortung für seine koloniale Vergangenheit“,
       beschloss das Abgeordnetenhaus 2019] – und beauftragte den Senat, ein
       gesamtstädtisches Aufarbeitungs- und Erinnerungskonzept zu erarbeiten. Und
       zwar mithilfe jener kleinen Zivilgesellschaft aus vor allem afro- und
       asiadiasporischen Organisationen, die seit über 30 Jahren den Kolonialismus
       und seine Spuren in der Stadt hinterfragen.
       
       Seit gut sieben Monaten sind diese Gruppen – darunter Adefra, Afrikarat,
       Decolonize Berlin e.V., Korientation – inzwischen am Werk, haben in fünf
       Arbeitsgruppen bestimmte Aspekte des Themas genauer beleuchtet. Bei einer
       Veranstaltung Anfang März in der Akademie der Künste am Parier Platz wurden
       erste Ergebnisse präsentiert. Die lassen sich grob so zusammenfassen: Noch
       sind viele Fragen offen, bis zu einem politisch umsetzbaren
       Erinnerungskonzept ist es noch ein weiter Weg.
       
       ## Ein offenes Konzept
       
       Oder wird es am Ende womöglich gar kein „fertiges“ Konzept geben – weil
       Erinnerung niemals „fertig“ ist und fixiert werden kann? Diese Frage schien
       viele Diskutant*innen umzutreiben. Niemand wisse, was genau ein
       Erinnerungskonzept ist, sagte Renée Eloundou, Leiterin der vom Senat
       eingesetzten Koordinierungsstelle Aufarbeitungskonzept.
       
       Eloundou leitete die erste AG, die sich mit der Frage beschäftigte: Was ist
       ein Erinnerungskonzept zum Thema Kolonialismus? „Es gibt keine Formel, die
       man fertig entwickelt. Aber wir können festlegen, was uns wichtig ist“,
       sagte sie. Später ergänzte Fogha Mc Refem, der in der Arbeitsgruppe 4 zur
       Frage arbeitete, welche Erwartungen an das Berliner Erinnerungskonzept es
       in den ehemals deutschen Kolonien gibt: Vielleicht müssten wir versuchen,
       Erinnerung als eine „Praxis wie einen Tanz“ zu entwickeln. „Erinnerung ist
       offen. Vielleicht brauchen wir keine Antwort, sondern Offenheit.“
       
       Eine Frage, die ebenfalls viel diskutiert wurde: Wer darf überhaupt am
       Tisch sitzen und mitreden? Dies war vor allem Thema in Arbeitsgruppe 2,
       deren Ergebnisse Sacks Stuurman, Vorstandsmitglied im Afrikarat,
       vorstellte. „Wir haben uns schwergetan mit der Frage“, erklärte er. „Wir
       kommen nicht umhin, jemanden auszuschließen, wir müssen selektiv sein, aber
       wie? Das wird eine heiße Diskussion werden.“
       
       Zudem wolle man auch bestimmte Meinungen, „die nur die herrschende
       Auffassung weiterspinnen wollen“, nicht zulassen. Auf taz-Nachfrage
       präzisierte Stuurman später: Er werbe dafür, im Diskussionsprozess keine
       Position zuzulassen, „die das Projekt Dekolonisierung als solches ablehnt“.
       Sie zu erkennen sei jedoch nicht leicht, denn oft seien solche Positionen
       nur „unterschwellig“ spürbar. „Das muss man ausloten.“
       
       Auch in anderen Arbeitsgruppen war die Frage „Wer wird gehört, wer (noch)
       nicht?“ zentral: Wie kann man etwa dafür sorgen, dass auch Angehörige aus
       den ehemaligen Kolonien beteiligt sind – sowohl konzeptionell als auch
       physisch durch Visa und Reisemöglichkeit? Dass das Ganze nicht nur ein
       Konzept für Berliner*innen werden soll, darin bestand Einigkeit. Aber
       wie kann man bislang vernachlässigte Perspektiven, etwa aus dem asiatischen
       Raum – Stichwort „deutsche Südsee“ und China – einbeziehen? Die Dokumente,
       die man in Berlin dazu finde, zeigten vorwiegend die „deutsche, weiße
       Perspektive“, sagte Kimiko Suda von der AG 5, die sich mit der
       Globalgeschichte des Kolonialismus beschäftigte. „Wir müssten in andere
       Länder reisen.“ Aber ob für solche Forschungsvorhaben Geld vorhanden sei?
       
       Alles in allem, bilanzierte [2][Ibou Diop, Leiter des Projekts
       Erinnerungskonzept], sei er „überwältigt von der Präzision und Sensibilität
       der Antworten“. Und seine Rede vor den gut 150 Teilnehmer*innen sollte
       wohl bereits als Teil des Konzepts gelesen werden, das der
       Literaturwissenschaftler in naher Zukunft aus dem Input der
       Zivilgesellschaft entwickeln wird.
       
       Diop stellte fest: Mit der Unterdrückung bestimmter Erinnerungen und
       Perspektiven auf deutsche Geschichte sei es vorbei. „Postkoloniales
       Erinnern heißt, die unerzählten Geschichten, die von der
       Mehrheitsgesellschaft erfolgreich marginalisierten Geschichten, die
       Geschichte des Widerstands gegen Kolonialismus und Unterdrückung, als Teil
       der nationalen Geschichte anzuerkennen und in einem europäischen
       Zusammenhang zu sehen“, so Diop.
       
       Allerdings sei die Kolonialgeschichte noch nicht vollständig Geschichte,
       „sondern setzt sich in den Politiken des Neoliberalismus und
       Neokolonialismus fort“. Dies erkläre die Ablehnung, den Widerstand von
       Teilen der weißen Mehrheitsgesellschaft gegen ein dekoloniales
       Erinnerungskonzept. „Die Erinnerungspolitik, an der wir hier gemeinsam
       arbeiten“, werde dieses Machtgefüge nicht von einem Tag auf den anderen
       abschaffen – aber sie sollte dazu beitragen, „eine Zukunft zu entwickeln,
       die von allen geprägt ist“, zeigte er sich optimistisch.
       
       In Diops Vision hätten alle etwas von dieser neuen Erinnerungskultur –
       sowohl die Nachfahren der Kolonisierten als auch die der Kolonisateure.
       „Postkoloniale Erinnerung transzendiert Zugehörigkeiten.“ Noch sei es aber
       nicht so weit. Und es sei die Aufgabe der Regierenden unserer Zeit, jene
       zusammenzubringen, „die gemeinsam diese Welt gestalten müssen“. Dies sei
       keine Frage des Wollens, sondern des Müssens, so Diop. „Wir müssen diese
       Welt gemeinsam (um)gestalten. Oder sie wird nicht bleiben.“
       
       ## Was wird mit Schwarz-Rot?
       
       Herauskommen sollte dabei ein Blick auf Geschichte, der sich nicht mehr
       „für eine positive Identifikation mit Deutschland eignet“, zitiert Diop den
       Publizisten Max Czollek – sondern die „Untröstlichkeit“ über das Geschehene
       fokussiert. „Die gemeinsame Untröstlichkeit darüber, dass die Geschichte so
       passiert ist, wie sie eben passierte, erlaubt, die Vergangenheit so zu
       erinnern, dass alle daran teilhaben können.“
       
       Ob sich ein solches Erinnerungskonzept nach dem angekündigten
       Regierungswechsel noch realisieren lässt, muss sich zeigen. Zweifelsohne
       ist die Idee der Untröstlichkeit mit konservativen Vorstellungen von
       „Nationalstolz“ kaum übereinzubringen. Und so mahnte der scheidende
       Kultursenator Klaus Lederer (Linke) die Anwesenden in der Akademie nicht
       ganz unberechtigt, „darauf zu achten, dass der Wechsel im Roten Rathaus
       nicht zur Rolle rückwärts wird“.
       
       12 Mar 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Dekolonisierung-in-Berlin/!5702686
   DIR [2] /Literaturwissenschaftler-ueber-Kolonialismus/!5876119
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Susanne Memarnia
       
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