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       # taz.de -- Theaterstück über DDR-Jugendwerkhöfe: Wieder mal der schlimme Osten
       
       > Das Schauspiel Leipzig zeigt ein Dokumentartheaterprojekt über
       > DDR-Jugendwerkhöfe. Das Stück mit dem Titel „Letzte Station Torgau“
       > bleibt einseitig.
       
   IMG Bild: Kittelschürzen, Stoffturnschuhe: Die Attribute stimmen in „Letzte Station Torgau“
       
       Zwei Stunden lang Zoni-Horror-Show. Dankbares Thema Jugendwerkhöfe in der
       DDR, voran das Jugendzuchthaus Torgau. Stimmt nicht ganz, denn bei allem
       Betroffenheitskitzel ist nichts zur makabren Show aufgegruselt worden in
       der Diskothek, dem Kammertheater des Schauspiels Leipzig. Ehemalige
       Insassen haben in dem Dokumentartheaterstück „Letzte Station Torgau. Eine
       kalte Umarmung“ authentisch berichtet, alles ist belegbar und von
       Spezialisten des dokumentarischen Theaters gekonnt inszeniert worden. Und
       es wirft dennoch 33 Jahre nach der formalen Einheit die zuvor in der DDR
       beliebte parodierende Frage auf: Was lernt uns das, Genossen?
       
       Seit 22 Jahren arbeiten Regine Dura und Hans-Werner Kroesinger auf dem Feld
       des Recherche- und Dokumentartheaters zusammen. Aber können sie ob ihrer
       westdeutschen Prägung tatsächlich als unvoreingenommen gelten? Halten wir
       zunächst fest, dass in dem Korridor, in dem sich das Drama bewegt, Gültiges
       dokumentiert und packend in Szene gesetzt wird. Ein Blumenwiesenidyll auf
       der Leinwand und eine Wippe suggerieren eine frohe Kinderwelt. Noch nicht
       bedrohlich klingt auch der Leittext „Ihr Kind gehört uns allen“, der eine
       Erziehung auf das Ideal einer kriegsfreien, glücklichen kommunistischen
       Zukunft hin propagiert.
       
       Doch dann bricht schnell herein, was an Brechts Nachgeborenen-Gedicht
       erinnert: „Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit, konnten
       selber nicht freundlich sein.“ Drastische Geschichten der Einweisung in
       einen Jugendwerkhof werden erzählt, vom Entzug des elterlichen Sorgerechts
       durch die Jugendhilfe, so genannte Konfliktkommissionen oder Richter.
       
       ## Demütigung mischt sich mit Hackordnungsritualen
       
       Was mit den Halb- oder Viertelwüchsigen in diesen Quasi-Arbeitslagern und
       vor allem im geschlossenen Werkhof Torgau als Ultima Ratio geschah, kennt
       allerdings weltweit Beispiele. Demütigungen durch die Aufseher mischen sich
       mit Hackordnungsritualen unter den Insassen. Wobei das Schlagen von
       Jugendlichen in Werkhöfen interessanterweise eigentlich verboten war.
       
       Die Schikanen werden von den sechs Spielern anschaulich geschildert,
       manchmal mit verteilten Rollen gespielt. Das Verbot von Schreibzeug, jeder
       geistigen Beschäftigung, von Freundschaften, Gruppenbildung, der
       Arbeitszwang, sportlicher Drill, sexuelle Übergriffe, speziell im Arrest in
       Torgau.
       
       Die Methoden in der DDR waren auch von ideologischen Umerziehungsabsichten
       nach dem sowjetischen Muster des [1][berüchtigten Pädagogen Makarenko]
       geleitet. Also das Zerbrechen junger Menschen und deren fügsamer
       Wiederaufbau nach einem „Schockerlebnis“. Anstaltsleiter Horst Kretzschmar
       war ein besonders raffinierter Ausführender dieser Technik, in der
       Inszenierung die einzige Dauerrolle für Christoph Müller.
       
       Auch die Attribute stimmen, typische Kittelschürzen, Stoffturnschuhe.
       Melancholische bis depressive Lieder schaffen Stimmung. Da wird es nur für
       den Kenner komisch, wenn er eine Staatsjugendliedmelodie wieder hört, die
       damals mit „Scheiße“-Strophen in der Kultur- und Kirchennische parodiert
       wurde. Mit denen konnte man wiederum einen FDJ-Singeklub von der Bühne
       jagen.
       
       ## Multiperspektive und Kontextualisierung fehlen
       
       Was völlig fehlt, sind Multiperspektive und Kontextualisierung. Der
       Verdacht einer bloßen Nachinszenierung des westdeutschen Master-Narrativs
       drängt sich auf. Nicht alle Renitenten waren Regimegegner. Und allein wegen
       des Westfernsehens kam niemand in den Jugendwerkhof. [2][Torgau war ein
       KZ], das wusste man in der DDR. Aber in der spießigen Bevölkerung genossen
       Maßnahmen gegen „Asoziale“ auch einige Unterstützung. Wer um 1970 lange
       Haare trug, weiß das.
       
       Für viele Kinder und Jugendliche aus schwierigsten familiären Verhältnissen
       waren Jugendwerkhöfe tatsächlich die letzte Auffangebene. Zum Beispiel im
       thüringischen Hummelshain, mit 190 Plätzen der zweitgrößte Jugendwerkhof
       der DDR namens „Ehre der Arbeit“. Die Führerin durch das mittlerweile
       verfallende Schlösschen mit Park berichtet, dass sich bis heute damalige
       Erzieher und Zöglinge dankbar treffen. Der MDR sendete 2016 Filmdokumente
       eines Lutz König. „In Hummelshain wurde man als Mensch behandelt“, titelt
       ein Artikel darüber.
       
       Kein Wort auch zu vergleichbaren Verhältnissen in westdeutschen
       Kinderkasernen, zu traumatisierten Insassen katholischer Internate etwa.
       Erst das Programmheft weist etwa auf die [3][Haasenburg GmbH] hin. „Was
       lernt uns das?“ Als die mit Schulprojekten erfahrene Nancy Aris vor zwei
       Jahren das Amt der sächsischen Beauftragten für die SED-Opfer antrat,
       prägte sie die Wendung „Weder Grusel- noch Heldengeschichten“. Denn beides
       schaffe in der Geschichtsvermittlung Distanz bei der nachfolgenden
       Generation.
       
       13 Mar 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Bartsch
       
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