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       # taz.de -- taz zwei auf Klausur in Brandenburg: Die Dialektik des Chaos
       
       > Beim Geschirreinräumen entstehen Konflikte. Die Älteren sehnen sich nach
       > Ordnung, während die Jüngeren jede vorhandene Leerstelle mit Chaos
       > füllen.
       
   IMG Bild: Bitte noch mal spülen
       
       Kürzlich war ich mit meinem Ressort zwei Tage auf Klausur in
       [1][Brandenburg]. In einem schönen Haus am Dorfrand wollten wir neue Ideen
       entwickeln und alte vertiefen; und soweit ich das beurteilen muss, hat das
       hervorragend geklappt. Bei so einer Veranstaltung geht es auch ums Essen,
       Trinken, [2][Rauchen], Kochen und Saubermachen – um das Miteinander eben;
       und da ist es gut, wenn es einen Antagonisten gibt, gegen den sich die
       Gruppe positionieren kann, um sich so ihrer gerade anwachsenden
       Zusammengehörigkeit zu versichern, die sich im beruflichen Kontext ja
       keineswegs von selbst versteht.
       
       Unser Gegner war der [3][Vermieter des Häuschens], der uns nicht nur eine
       kaputte Spülmaschine überließ – aber zusammen handspülen und abtrocknen
       kann so teambildend sein! –, sondern auch jeweils Fotos in die
       Küchenschränke geklebt hatte, um so deren korrekte Befüllung nach erfolgter
       Reinigung des Geschirrs und der Kochutensilien sicherzustellen. Meine
       Kollegas konnten sich gar nicht genug beeumeln über die zwangsneurotische
       Bebilderungsorgie des Häuslebesitzers.
       
       Und ich? Tja, ich lächelte. Nicht dass in meiner Wohnung auch solche irren
       Bilder kleben würden! Aber klar habe ich mich schon geärgert, wenn wir nach
       einem Ferien-Wohnungstausch zurückkamen und der Mixer unauffindbar war,
       weil eben falsch abgelegt!! Auch meine Kinder sind im Einräumen nicht immer
       korrekt!!!
       
       ## Leerstellen mit Chaos füllen
       
       Ich bin im Kollegium der mit Abstand Älteste, und ich konnte mich den
       inneren Nöten unseres Vermieters einfach nicht völlig entziehen. Es
       geschieht nämlich uns beiden das, was Horkheimer/Adorno (H/A) in einem
       Abschnitt ihrer „Dialektik der Aufklärung“ als „Anzeichen von
       Dekomposition“ des reiferen Menschen bezeichnen: „Unter den gegebenen
       Verhältnissen führt der Vollzug der bloßen Existenz bei Erhaltung einzelner
       Fertigkeiten, technischer oder intellektueller, schon im Mannesalter zum
       Kretinismus“, schreiben sie, und: „Es ist, als ob die Menschen zur Strafe
       dafür, daß sie die Hoffnungen ihrer Jugend verraten haben und sich in der
       Welt einleben, mit frühzeitigem Verfall geschlagen würden.“
       
       Immer wenn ich der Jugend begegne – und das tue ich täglich im Familien-
       und Arbeitsumfeld –, dann spüre ich diese „Inferiorität der Erwachsenen“
       (H/A), also im konkreten Fall: meine Inferiorität. Der einzige Witz, den
       ich darin entdecken kann, ist, dass es vor allem das Bevatern, Bekochen,
       Bespaßen meiner Kindlein ist, der Haushalt und das Hinterherräumen eben,
       was mich als Mensch, siehe oben, dekompostiert. Wenn ich intellektuell
       tätig sein darf, erhole ich mich meist.
       
       Mein Verständnis für unseren Vermieter – mal davon abgesehen, dass er als
       Cleverle schlicht ein von den Gästen selbst perfekt aufgeräumtes Gästehaus
       haben möchte – hat damit zu tun, dass junge Menschen jede Leerstelle, die
       man ihnen lässt, mit Chaos füllen: was auch exakt ihre Aufgabe als junge
       Menschen ist.
       
       20 Mar 2023
       
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