URI: 
       # taz.de -- Pannen vor Amoktat gegen Zeugen Jehovas: Polizeichef muss sich korrigieren
       
       > Hamburgs Polizeipräsident Ralf Martin Meyer äußert sich widersprüchlich
       > über Ermittlungen im Vorfeld. Die Linke fordert deswegen nun seinen
       > Rücktritt.
       
   IMG Bild: Selbstzweifel? Polizeichef Meyer bei einem Symposium mit Polizeigewerkschafter:innen
       
       Berlin/Hamburg taz | Der Druck auf Hamburgs Polizeipräsidenten Ralf Martin
       Meyer wächst nach der [1][Amoktat gegen eine Gemeinde der Zeugen Jehovas],
       der sieben Menschen zum Opfer fielen. Immer mehr Details kommen über Pannen
       der Polizei im Vorfeld der Tat ans Licht – und gravierende
       Kommunikationsdefizite innerhalb der Polizei.
       
       Wie eine Kleine Anfrage des Linken-Abgeordneten Deniz Celik ergab, haben
       Beamte der bei der Polizei angesiedelten Waffenbehörde im Vorfeld eines
       Hausbesuchs bei dem späteren Täter Philipp F. auf dessen Website gesehen,
       dass dieser [2][ein Buch mit dem Titel „The Truth about God, Jesus Christ
       an Satan“] veröffentlicht hatte. In einem anonymen Hinweisschreiben war die
       Polizei auf eine mögliche psychische Erkrankung von Philipp F., dessen
       „Hass“ auf die Zeugen Jehovas und ganz konkret auch auf das Buch
       hingewiesen worden, das voller wirrer, religiös überfrachteter
       Geschichtsdeutungen ist.
       
       Polizeipräsident Meyer hatte noch vor einer Woche in der
       Landespressekonferenz behauptet, die Beamten hätten nach dem Buch im
       Internet [3][aktiv gesucht und es nicht gefunden]. Nun also die Kehrtwende:
       Die Beamten hätten den Buchtitel auf F.s Website zwar unter „Publications“
       gesehen, weil der Inhalt des Buches „nicht frei zugänglich“ gewesen sei,
       aber nichts Weiteres unternommen, heißt es in der Antwort des Senats auf
       Celiks Anfrage.
       
       Obwohl das Buch beim Onlinehändler Amazon als E-Book für 9,99 Euro
       erhältlich war, hätten sich die Beamten „nicht entschieden, das Buch zu
       kaufen“, teilt die Hamburger Polizei mit. Und auch das eine Mischung aus
       Verwirrtheit und Größenwahn atmende mehrseitige Vorwort des
       englischsprachigen Buchs, das bei Amazon als Leseprobe kostenlos verfügbar
       war, haben die Beamten offenbar nicht gelesen.
       
       ## Recherche nur zur Vorbereitung der „Aufbewahrungskontrolle“
       
       In der Senatsantwort wird das damit begründet, dass die Internetrecherche
       „vor allem der Vorbereitung der geplanten Aufbewahrungskontrolle“ gedient
       habe. Die Beamten hätten deshalb neben der Rubrik „Publications“ nur F.s
       Selbstdarstellung zur Kenntnis genommen – in erster Linie, um etwaige
       weitere Adressen von F. zu ermitteln.
       
       Anders als von Meyer zunächst dargestellt, waren seine Leute nicht unfähig,
       eine simple Internetrecherche anzustellen, sondern sie haben die Hinweise
       aus dem anonymen Warnbrief nicht ernst genug genommen, um ihnen gründlich
       nachzugehen.
       
       Eine weitere zumindest eigenwillige Darstellung Meyers dekonstruiert die
       Senatsantwort auf die Linken-Anfrage: Meyer hatte in der
       Landespressekonferenz in der vergangenen Woche mehrfach die anonyme
       Warnung vor Philipp F. mit der Behauptung entwertet, die Polizei bekomme
       zahlreiche solcher Hinweise, teilweise in denunziatorischer Absicht, und
       könne nicht allen mit der gleichen Intensität nachgehen.
       
       ## Nur „gelegentlich“ Hinweise auf bedenkliche Waffenhalter
       
       In der Senatsantwort heißt es nun, es gebe lediglich „gelegentlich“
       Hinweise auf Bedenken gegen eine waffenrechtliche Erlaubnis. Zuletzt war
       demnach im September ein solcher Hinweis bei der Polizei eingegangen, also
       drei Monate vor dem anonymen Hinweis auf F. Nach einer Überprüfung habe die
       Waffenbehörde der betreffenden Person seinerzeit „die Waffenbesitzkarte
       widerrufen, die Waffen wurden sofort sichergestellt und ein Waffen- und
       Munitionsbesitzverbot erteilt“, so der Senat.
       
       Für den Linken-Abgeordneten Celik ist Meyers Misskommunikation nun Anlass
       genug, den Rücktritt des Polizeipräsidenten zu fordern: „Entweder Meyer hat
       die Öffentlichkeit bewusst getäuscht oder er weiß nicht, was innerhalb der
       Polizei vor sich geht – so oder so ist er dadurch als Polizeipräsident
       nicht mehr tragbar“, schreibt Celik in einer Pressemitteilung.
       
       Meyer selbst hat unterdessen einen Befreiungsschlag versucht: Dem Hamburger
       Abendblatt hat er einen „Fünf-Punkte-Plan“ unterbreitet, um bei der Polizei
       „zukünftige Arbeitsabläufe bei ähnlich gelagerten Fällen zu optimieren“.
       Herzstück ist, dass die Waffenbehörde künftig frühzeitig das
       Landeskriminalamt hinzuziehen soll, unter anderem dort tätige Spezialisten
       für Internetrecherche und Polizeipsychologen. Auch das steht im Widerspruch
       zu Meyers Äußerungen in der Landespressekonferenz: Dort hatte Meyer gesagt,
       Polizeipsychologen wären im Fall Philipp F. keine Hilfe gewesen. „Dazu
       brauchen Sie Polizeipsychiater, und die haben wir nicht.“
       
       Nach der Amoktat hat die Hamburger Polizei zwei Gutachten über Philipp F.
       beauftragt: ein psychiatrisches und eines zur „extremistischen Einordnung“.
       Letzteres hat der Sicherheitsforscher Peter Neumann verfasst, gestützt auf
       F.s Buch. Er attestiert dem 35-Jährigen „starke Hinweise auf eine Art
       religiöse Ideologie“. F. offenbare einen „Hass auf christliche
       Religionsgemeinschaften“, der „ein plausibles Motiv für die Tat“ sei, so
       Neumann, der am Londoner King’s College lehrt.
       
       In dem Buch hatte Philipp F. auf gut 300 Seiten über „Gott, Jesus und
       Satan“ sinniert, über die er erstmals „die Wahrheit“ erkannt haben will.
       Dabei äußerte er sich auch frauenfeindlich oder lobte Adolf Hitler und
       Wladimir Putin. Laut Neumanns Gutachten, das der taz vorliegt, legt das
       Buch zwar „einige Hinweise auf antidemokratische Tendenzen“ von Philipp F.
       offen – insbesondere die abgelehnte Gleichberechtigung von Männern und
       Frauen oder den Hinweis, dass Gesetze, die dem göttlichen Willen
       widersprächen, geändert werden müssten. Auf ein rechtsextremistisches
       Weltbild von F. lasse sich dennoch nicht schließen.
       
       Denn F.s Ideen wurzelten letztlich alle in seinem Religionsverständnis,
       wenn auch mit „brachialer Sprache“ und „wirren Theorien“, so Neumann. Im
       Buch lehne F. nirgends das Grundgesetz ab, rufe auch nicht zur Gewalt auf.
       Ein Gesellschaftsumsturz stehe „zumindest nicht im Vordergrund“. Selbst
       dass er die Verfolgung der Juden als „himmlischen Akt“ bezeichnet, sei
       nicht klar antisemitisch, da F. die Juden an anderer Stelle in Schutz
       nehme. Und es gebe keine Hinweise darauf, dass er mit der Incel-Bewegung,
       die Hass auf Frauen kultiviert, „in Kontakt stand oder überhaupt von ihr
       wusste“.
       
       Laut Neumann übt Philipp F. vielmehr „harsche Kritik“ an christlichen
       Religionsgemeinschaften, denen es nur „um Macht und Geld“ gehe – ohne
       jedoch die Zeugen Jehovas namentlich zu nennen. Hier liege das „stärkste
       und plausibelste“ Tatmotiv. Neumann betont aber auch, dass er über die
       psychische Gesundheit von Philipp F. kein Urteil fällen könne.
       
       22 Mar 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Toedliche-Schuesse-auf-Zeugen-Jehovas/!5921094
   DIR [2] /Amok-Attentaeter-von-Hamburg/!5921159
   DIR [3] /Manifest-des-Amoklaeufers-von-Hamburg/!5918796
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jan Kahlcke
   DIR Konrad Litschko
       
       ## TAGS
       
   DIR Polizei Hamburg
   DIR Zeugen Jehovas
   DIR Amoklauf
   DIR Waffen
   DIR Waffenrecht
   DIR Schwerpunkt Polizeikontrollen in Hamburg
   DIR Zeugen Jehovas
   DIR Zeugen Jehovas
   DIR Polizei
   DIR Amoklauf
   DIR Waffenrecht
   DIR Amoklauf
   DIR Amoklauf
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Hamburgs neuer Polizeipräsident: Von Posten zu Posten
       
       Falk Schnabel verlässt Köln und wird Hamburgs neuer Polizeipräsident. Er
       steht für eine Polizei, die im öffentlichen Raum Präsenz zeigt.
       
   DIR Nach Amoktat in Hamburg: Grote rüstet Waffenbehörde auf
       
       Nach der Amoktat gegen Zeugen Jehovas präsentiert Hamburgs Innensenator
       Reformen bei der Waffenbehörde. Die Reaktionen sind geteilt.
       
   DIR Hamburger Amoktat: Innenbehörde stellt sich Ausschuss
       
       Abgeordnete befragen Polizei und Behörde zu den tödlichen Schüssen auf
       Zeugen Jehovas. Beamte müssen Nebentätigkeit in Schießklub aufgeben.
       
   DIR Schwerverletzter in Hamburg: Blauer Block eskaliert 1. Mai-Demos
       
       Der Tag der Arbeit endete in Hamburg mit einem Schwerverletzten. Die
       Organisatoren der Demos kritisieren die Taktik der Polizei.
       
   DIR Amoktat bei Zeugen Jehovas in Hamburg: Polizei und Schießklub im Visier
       
       Verdacht auf fahrlässige Tötung und gefälschte Urkunden: Ermittler
       durchsuchten die Wohnungen eines Polizisten und dreier
       Schießklub-Mitglieder.
       
   DIR Nach den Schüssen auf Zeugen Jehovas: Die Waffen nieder?
       
       Nach den tödlichen Schüssen auf Zeugen Jehovas in Hamburg wird übers
       Waffenrecht diskutiert. Die Fronten sind verhärtet – mal wieder.
       
   DIR Manifest des Amokläufers von Hamburg: Polizei muss googeln lernen
       
       Hätte Hamburgs Polizei das Attentat auf Zeug:innen Jehovas verhindern
       können? Vielleicht, mit besserer Internetrecherche über mögliche Gefährder.
       
   DIR Amok-Attentäter von Hamburg: Ein misogyner Blender
       
       Der mutmaßliche Todesschütze lebte in einer beruflichen Scheinwelt – und in
       einem Gedankengebäude, in dem Frauen sich unterordnen sollten.