URI: 
       # taz.de -- Betroffene über Armut: „Wie eine Decke, die dich erdrückt“
       
       > Daniela Brodesser erzählt in ihrem Buch „Armut“ von der eigenen Erfahrung
       > eines prekären Lebens. Ein Gespräch über Verzicht, Angst und Prägungen.
       
   IMG Bild: Daniela Brodesser hat ein Buch darüber geschrieben, wie es ist, in Armut zu leben
       
       Die Armut kam in Daniela Brodessers Leben mit der Geburt ihres vierten
       Kindes, das mit einer Lungenkrankheit zur Welt kam. Daniela Brodesser
       konnte nicht mehr als Bürokauffrau arbeiten, sondern pflegte ihr Kind.
       Dafür arbeitete ihr Mann mehr – bis zum Burnout. Heute lebt die Familie
       wieder über der Armutsgrenze. Doch sicher fühlt sie sich noch lange nicht.
       In ihrem ersten Buch „Armut“ erzählt Daniela Brodesser von ihrer Erfahrung. 
       
       taz: Wenn es um Armut geht, [1][reden wir immer über Existenzielles],
       Essen, Wohnen. Sie beginnen in Ihrem Buch aber mit einem anderen Thema:
       Fotografie. 
       
       Daniela Brodesser: Die Fotografie hat mich durch den Alltag gerettet. Wenn
       du in Armut lebst, verzichtest du eh auf alles. Ja, es geht um die Wohnung
       und ums Essen. Aber es geht noch um mehr. Unser Gehirn braucht Belohnungen.
       Meine Belohnung war das Fotografieren in Kombination mit dem
       Spazierengehen. Als das Fotografieren weggefallen ist, bin ich in ein Loch
       gefallen. Damals war eine Stromnachzahlung fällig, die wir nicht zahlen
       konnten. Für die Kamera haben wir 300 Euro bekommen und konnten damit die
       Rechnung zahlen.
       
       Wie lange mussten Sie auf das Fotografieren verzichten? 
       
       2015 habe ich meine Kamera verkauft, jetzt habe ich wieder eine. Allerdings
       kann ich heute nicht mehr fotografieren. Ein Psychologe würde vermutlich
       sagen: Aus Angst, dass ich es wieder verlieren könnte. Ich kann mich nicht
       mehr drauf einlassen.
       
       Armut prägt. Selbst, wenn sie nicht mehr aktuell ist. 
       
       Armut ist wie eine irrsinnig schwere Decke, die auf dir liegt – und die
       dich erdrückt. Ich habe einfach funktioniert und so wenig Gefühle wie
       möglich zugelassen. Ich habe mir Vorfreude verboten. Mit traurigen Gefühlen
       war es ähnlich: Ich habe mich nicht vor die Kinder gesetzt und geheult. Für
       mich war es überlebenswichtig, meine Gefühle zu verdrängen. Ich wäre sonst
       komplett zerbrochen. Oder das Faulsein: Ich habe mir gedacht, ich darf
       tagsüber nicht auf der Couch liegen. Denn dann denken alle, ich liege nur
       faul rum. Dabei braucht das jeder Mensch, Entspannung und Ruhe. Mir
       überhaupt Sachen zu gönnen, das fällt mir bis heute schwer.
       
       Dabei hätte das ja niemand gesehen, wenn Sie tagsüber zu Hause auf dem Sofa
       liegen. 
       
       Ja, aber man hat es so verinnerlicht. Man übernimmt irgendwann die
       Beschämung von außen. Man glaubt das, was über Armutsbetroffene geredet
       wird. Dass sie faul seien oder dass sie selbst schuld seien.
       
       Sie erzählen Ihre Geschichte, „weil unsere Gesellschaft nur dann aufmerksam
       zuhört, wenn sie Geschichten und Schicksale vorgeführt bekommt. Wenn sie
       nachempfinden kann, ohne je selbst in der Situation gewesen sein zu
       müssen.“ War es eine schwierige Entscheidung, das Buch zu schreiben und
       damit Objekt von Voyeurismus zu sein? 
       
       Auf der einen Seite nicht, weil ich seit Jahren auf Twitter schreibe und
       die Öffentlichkeit so schon etwas gewöhnt bin. Auf der anderen Seite aber
       schon, weil ich weg davon will, meine eigene Geschichte zu erzählen. Ich
       möchte mehr auf die strukturellen Aspekte hinweisen. Aber Menschen brauchen
       Geschichten mit Bildern im Kopf. Und ich möchte den Bildern aus Trash
       TV-Formaten etwas entgegensetzen. Aber es ist ein schmaler Grat.
       
       Fast ein Viertel aller Armutsgefährdeten sind Kinder. Von Kindern, die in
       Ein-Eltern-Haushalten leben, [2][ist sogar fast die Hälfte
       armutsgefährdet]. Was bedeutet es für Kinder, in Armut zu leben? 
       
       Kinder lernen, dass es keine Perspektiven gibt. Sie sehen von Anfang an, wo
       ihre Grenzen sind. Wie willst du Kindern erklären, sie sollen für jedes
       Ziel kämpfen, wenn sie sehen, dass die Ziele nicht erreichbar für sie sind?
       Ich kenne es von vielen Kindern und von meinen, dass sie sich schwertun,
       Wünsche zu formulieren. Weil sie wissen, die Wünsche sind nicht erfüllbar.
       „Eigentlich wünsche ich mir nichts, ich bin glücklich so, wie es ist.“ Sie
       werden dann von ihrem Umfeld dafür belohnt, dass sie so genügsam sind.
       Dabei sollen Kinder doch Visionen und Ziele und Träume haben.
       
       Welche Wünsche haben Ihre Kinder aktuell? 
       
       Urlaub. Jedenfalls die beiden großen, denn sie haben noch einen
       Familienurlaub erlebt. Aber Urlaub zu fünft, das ist bei uns noch nicht
       drin. Und selbst wenn das Geld da wäre, ich traue mich nicht, es für Urlaub
       auszugeben. Ich hätte zu viel Angst, dass doch wieder etwas passiert, das
       Auto kaputtgeht oder so.
       
       Die Armut ist in Ihrer Familie eng mit Krankheit verknüpft. 
       
       So, wie unsere Gesellschaft organisiert ist, bedeutet Krankheit oft Armut.
       Bei uns war es eine körperliche Erkrankung meiner Tochter und eine
       psychische Erkrankung meines Mannes. Es sollte in Deutschland und
       Österreich nicht so sein, dass man deshalb in Armut fällt. Wir haben dieses
       Bild von Armut: Wer arm ist, ist selbst schuld. Dabei liegt es an den
       strukturellen Bedingungen. Wenn ich ein Kind pflege, kann ich nicht 40
       Stunden arbeiten. Bis heute kann ich nicht Vollzeit arbeiten. Die Jüngste
       hat noch immer eine eingeschränkte Lungenfunktion. Ich muss sie jeden Tag
       von der Schule abholen, weil der Weg sonst zu anstrengend für sie wäre. Ein
       normaler Job wäre so für mich noch immer nicht machbar. Wir sind nur über
       der Armutsgrenze, weil ich mittlerweile als Autorin und Speakerin von zu
       Hause aus arbeiten und mir die Arbeit gut um die Care-Arbeit rund um meine
       Tochter aufteilen kann.
       
       Was hätten Sie in der schwierigen Zeit gebraucht? 
       
       Menschen, die wirklich zugehört hätten. Ohne Ratschläge und ohne Vergleiche
       wie „Die Cousine meines Freundes hat auch ein krankes Kind daheim und
       schafft das“. Ja, schön, wenn es bei einigen funktioniert, aber es klappt
       nicht bei allen. Wenn man sagt: Ich kann nicht mehr, ich bin am Limit, ich
       weiß nicht, was ich machen soll – dass das nicht runtergespielt wird. Armut
       ist Dauerstress und kräftezehrend. Irgendwann hast du keine Kraft mehr,
       dich zu rechtfertigen. Ich verstehe alle Menschen, die nicht öffentlich
       darüber sprechen, weil sie ihre Kraft für ihren Alltag brauchen.
       
       Was hätten Sie strukturell gebraucht? 
       
       Mehr Geld. (lacht) Wesentlich bessere und mehr Kinderbetreuung, damit ich
       mehr hätte arbeiten können. Kinderbetreuung, die über 16 Uhr hinausgeht.
       Ansonsten können Eltern, die einen Pendelweg haben, ja gar nicht Vollzeit
       arbeiten, selbst mit einem gesunden Kind. Und eine Betreuung für erkrankte
       Kinder gibt es auch nicht. Meine Tochter schafft keine ganze Schulwoche und
       es gibt keine Unterstützung für uns – beziehungsweise würde die
       Unterstützung dann so viel kosten, dass ich gar nicht mehr arbeiten
       bräuchte. Ich arbeite also, mache Unterricht, obwohl ich keine Pädagogin
       bin – das geht alles nicht auf. Und es gibt so viele Eltern, die kranke
       Kinder betreuen müssen.
       
       Warum ärgert Sie die Aussage „Aber Sie wirken gar nicht, als wären Sie
       arm?“ 
       
       Es spiegelt das Bild wider, das wir von Armut haben. Man soll mit
       zerlumpten Klamotten daherkommen. Aber wenn man normale Klamotten trägt,
       sich stylt, dann passt man nicht in das Bild von Armut. Das ärgert mich.
       Und diese Vorurteile gibt es sogar von Menschen, die es eigentlich besser
       wissen sollten. Bei einer Sozialberatungsstelle erklärte ich, dass wir die
       Miete zwar zahlen können, es aber nicht für Lebensmittel reicht. Die Dame
       von der Sozialberatung sagte: Sie schauen ja gar nicht aus, als seien Sie
       arm. Das hat mich echt geschockt, wie verfälscht selbst dort das Bild von
       Armut ist.
       
       Neben der Armut gibt es auch viel Geld in Deutschland und Österreich. Rund
       zwei Drittel des weltweiten Vermögenszuwachses ging [3][seit der Pandemie
       an das reichste Prozent der Weltbevölkerung]. Was denken Sie, wenn Sie
       diese Statistiken sehen? 
       
       Die Diskussionen um Vermögens- oder Erbschaftssteuer ärgern mich. Zum
       Beispiel die Einführung einer Erbschaftssteuer ab einer Million Euro.
       Menschen aus der unteren Mittelschicht setzen sich gegen diese Forderung
       ein. Obwohl sie niemals davon betroffen wären. Das verstehe ich einfach
       nicht. Wir könnten so viel Geld wesentlich besser umverteilen, wenn es
       diese Erbschaftssteuer geben würde und eine Vermögenssteuer.
       
       Sie beschreiben Armut so: “Stellt euch vor, [4][keine Träume mehr zu
       haben], weil sie noch nie in Erfüllung gegangen sind.“ Welche Träume haben
       Sie heute? 
       
       Die Frage habe ich mir selbst noch überhaupt nicht gestellt. Ich habe das
       jahrelang ausgeblendet. Erstmal wünsche ich mir, dass die Kinder die
       Ausbildung machen können, die sie wollen. Damit sie sehen: Wir können alles
       erreichen. Und ich möchte nie wieder solche Ängste haben. Dann bin ich
       schon zufrieden.
       
       23 Mar 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Verringerung-von-Armut/!5920788
   DIR [2] https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/armut-alleinerziehende-und-ihre-kinder-besonders-haeufig-betroffen-a-7a016e53-5498-47eb-b338-709ccaba6f72
   DIR [3] https://www.zdf.de/nachrichten/wirtschaft/oxfam-gewinner-krise-davos-100.html
   DIR [4] /Einkommen-in-Deutschland/!5041292
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Mareice Kaiser
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Armut
   DIR Armutsbekämpfung
   DIR Krankheit
   DIR Sozialstaat
   DIR Selbstermächtigung
   DIR Schwerpunkt Armut
   DIR Familie
   DIR Ampel-Koalition
   DIR Schwerpunkt Armut
   DIR Kindergrundsicherung
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Kein Geld für Reisen: Hauptsache Tapetenwechsel
       
       Für mehr als 20 Prozent der Deutschen ist schon eine Woche Urlaub
       unbezahlbar. Unsere Autorin schlägt alternativ vor: solidarisches Besuchen.
       
   DIR Unterstützung für Stiefmütter und -väter: Her mit dem Unterhalt!
       
       Als Stiefmutter trägt unsere Autorin Verantwortung für zwei kleine Menschen
       – auch finanziell. Doch der Staat behandelt sie, als sei sie kinderlos.
       
   DIR Ampelparteien zur Kindergrundsicherung: Knete für die Kids
       
       Die Ampelkoalition will arme Familien besser unterstützen – und streitet.
       Was plant die Familienministerin? Was kostet es? Und ist es der große Wurf?
       
   DIR Steigende Armut in Berlin: Immer weniger für immer mehr
       
       Berlin hat die zweithöchste Armutsquote der Republik, die Inflation dürfte
       die Lage verschlimmern. Senats-Maßnahmen konnten den Trend nicht umkehren.
       
   DIR Linken-Konzept für Kindergrundsicherung: 328 Euro Kindergeld für alle
       
       Die Linkspartei legt ein Konzept für eine Kindergrundsicherung vor. Kosten:
       26 Milliarden Euro. Die sollen auch durch eine Vermögenssteuer reinkommen.