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       # taz.de -- Alltag in Russland: Wunsch nach „Normalität“
       
       > In Russland ist der Krieg kaum noch präsent im öffentlichen Raum.
       > Vielleicht auch, um den Menschen Stabilität in unsicherer Zeit
       > vorzugaukeln.
       
   IMG Bild: Kriegssymbolik wie das „Z“ sieht man in Moskau immer seltener
       
       Im Januar habe ich mich mit meiner langjährigen Freundin getroffen. Sie
       lebt jetzt in Ostsibirien. Wir hatten uns acht Jahre nicht gesehen und nur
       wenig Kontakt. Ich folge ihr kaum in den sozialen Medien und sie mir auch
       nicht. Bei unserem Treffen sprachen wir zunächst ziemlich angespannt über
       persönliche Dinge, aber nicht über den Krieg. Natürlich ging es dann
       trotzdem bald um unsere Haltung zu dem, was gerade passiert.
       
       Nachdem wir beide antimilitaristische Ansichten geäußert hatten, sagte sie
       mit einem Seufzer der Erleichterung: „Puh, ich dachte schon, du seist eine
       von denen.“ „Und ich dachte, du“, erwiderte ich. Und ich verstand, dass die
       Leute heute einfach Angst haben zu sagen, was sie denken und was sie am
       meisten beunruhigt.
       
       [1][Mitte Oktober 2022 haben Soziologen des unabhängigen Projekts
       „Chronicles“ 1.685 Menschen in Russland befragt] und dabei erfahren, dass
       89 Prozent der Umfrageteilnehmer keine Verbesserung ihrer materiellen
       Situation im nächsten halben Jahr erwarten. 52 Prozent der Befragten müssen
       aufgrund der Preiserhöhungen am Essen sparen, 50 Prozent sagten, dass die
       Wohnnebenkosten erheblich gestiegen seien. 16 Prozent gaben an, dass
       wichtige Medikamente nicht mehr verkauft werden, und immerhin 9 Prozent
       erzählten, dass Familienmitglieder arbeitslos geworden seien oder Verwandte
       ihren Betrieb aufgeben mussten.
       
       ## Keine Änderung zum Besseren
       
       Das betrifft auch mich und meine Freundin aus Sibirien und Millionen
       weitere Russen. Aufgrund der sich verändernden wirtschaftlichen Lage ändern
       wir nach und nach unser Leben – und es sind häufig keine Änderungen zum
       Besseren. Um mit dem gesellschaftlichen Stress umzugehen und sich mit der
       öffentlichen Meinung zu befassen, verändern die Moskauer Behörden auch die
       Stadt ein bisschen.
       
       Oft werden im Internet Fotos aus Moskau gepostet, [2][auf denen man die
       symbolischen Buchstaben „Z“ und „V“ sieht], die die städtischen Beamten an
       verschiedenen Stellen der Stadt angebracht haben. Aber diese
       „Kriegssymbolik“ muss man in der Stadt schon ziemlich suchen, sie ist nicht
       mehr allgegenwärtig.
       
       Auf den Reklamebildschirmen in der Metro sieht man sie nicht, die
       Zeitungskioske haben „patriotische Abzeichen und Schleifen“, die noch im
       Sommer verkauft wurden, aus den Schaufenstern genommen. Auf den
       Hauptstraßen im Stadtzentrum (zum Beispiel der Twerskaja) gibt es solche
       Symbole überhaupt nicht: Die städtischen Beamten machen das vermutlich
       absichtlich, um das Interesse der Moskowiter an militärischen
       Angelegenheiten zu verringern. Als ob die Einwohner der Stadt, wenn es
       keine Plakate und Symbole gibt, auch gar nicht auf das aufmerksam werden,
       was passiert, und sich für den wirklichen Stand der Dinge auch nicht
       interessieren.
       
       Es ist dieses Unbeteiligtsein an den realen Verhältnissen, das den Menschen
       in Moskau und anderen Städten ein imaginäres Gefühl von „Normalität“ und
       „Stabilität“ vermittelt.
       
       Aus dem Russischen [3][Gaby Coldewey] 
       
       Finanziert von der [4][taz Panter Stiftung]. 
       
       Das Tagebuch ist beim [5][Verlag edition.fotoTAPETA] als Sammelband
       erschienen und kostet 10 Euro.
       
       10 Mar 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.chronicles.report/en
   DIR [2] /Alltag-in-Moskau-nach-fuenf-Monaten-Krieg/!5865818
   DIR [3] /Gaby-Coldewey/!a23976/
   DIR [4] /Osteuropa-Projekte/!vn5913530
   DIR [5] https://www.edition-fototapeta.eu/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Xenia Babich
       
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