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       # taz.de -- Ukrainische Freiwillige an der Front: Nur Idioten haben keine Angst
       
       > In der Ukraine kämpfen auch Polizeieinheiten gegen die Invasoren. Eine
       > Gruppe der Kyjiwer Polizei kümmert sich in der Ostukraine um befreite
       > Dörfer.
       
   IMG Bild: Zerstörte Gebäude in Pisky-Radkiwski im Gebiet Charkiw zeugen von der russischen Besatzung
       
       Dichter Schneefall hängt über dem Dorfplatz. Ein grauer Tag, Mitte Februar,
       Temperaturen knapp unter dem Gefrierpunkt. Eine junge Frau füttert einen
       Straßenhund. Ein Mann nähert sich ihr stotternd: „Oh, sie füttern Hündchen.
       Darf ich auch mal?“ Er bekommt einen Hunde-Snack.
       
       Und beißt herzhaft hinein.
       
       Ein Uniformierter springt herbei: „Das müssen Sie nicht essen, gehen Sie
       ins Kulturhaus, dort bekommen Sie Lebensmittel.“ Der Mann dreht sich um,
       entdeckt in einiger Entfernung die Warteschlange. Er spuckt das Tierfutter
       aus und stellt sich an. Der Hund lässt das ausgeworfene Stück liegen.
       
       Der Uniformierte ist Oleksandr, sein Kampfname „Prapor“, ukrainisch für
       Flagge. Von aktiv Kämpfenden sollen nur Vor- und Kampfnamen veröffentlicht
       werden, um Familienangehörige zu schützen, falls diese in russische
       Besatzung geraten sollten. Oleksandrs Polizeieinheit begleitet heute einen
       Spendentransport in ein befreites Dorf.
       
       Pisky-Radkiwski liegt im Süden der Region Charkiw, direkt an der Grenze zur
       Oblast Donezk. In der Ferne donnern Schüsse, die Kampflinie ist in
       Artillerie-Entfernung, keine 40 Kilometer östlich von hier. Von April bis
       September herrschte in dem 1.500-Seelen-Dorf das russische Militär. Die
       Gemeindeverwaltung kollaborierte, sie floh später nach Russland.
       
       ## Bootsmann, Opa und Bär
       
       Entsetzt über den Hunger des Mannes, steht Oleksandr mit von Kälte
       gerötetem Gesicht neben seinen Kollegen der Polizeieinheit: Neben dem
       jungen Jaroslaw, Kampfname „Bootsmann“, der tiefe Ringe unter den großen
       hellen Augen hat, neben dem russischsprachigen Sergej, „Did“ (Opa), bei dem
       besorgte und ironische Mimik kaum zu unterscheiden sind, und neben dem
       kriegserfahrenen Kommandeur Oleh, „Medwed“ (Bär), ein großer Mann mit einem
       gutmütigen Lächeln.
       
       Alle tragen Militärkleidung, erdfarbene Mützen, kürzere und längere Bärte.
       Sie wirken gleichberechtigt, respektieren einander, veralbern sich auch
       gegenseitig. Gibt es eine Aufgabe, packen alle mit an. Dass Oleh der Chef
       ist, wird erst in Gesprächen deutlich: Er hat die Übersicht über die
       Truppe, er kennt alle Aufgaben und Zuständigkeiten. Wenn er spricht,
       unterbricht ihn niemand. Er übt auch mehr Kritik an den Umständen, am
       ständigen Munitionsmangel beispielsweise.
       
       Olehs Einheit hat im Laufe dieses Kriegsjahres schon dutzende Orte wie
       Pisky-Radkiwsi von russischer Besatzung befreit. Dabei sind sie keine
       Soldaten, sondern eine Freiwilligeneinheit der Kyjiwer Streifenpolizei.
       Seit März 2022 werden sie eingesetzt im Kampfgebiet. Etwa einmal im Monat
       begleiten sie wie heute Spendentransporte von Freiwilligen aus Deutschland
       und Kyjiw in frontnahe Orte, die kaum von großen NGOs beliefert werden. „Es
       ist wichtig für uns zu sehen, dass wir nicht vergessen werden“, hören sie
       dann oft.
       
       ## Ihre Unterkunft liegt im Hinterland
       
       Während der Autofahrt berichten sie von ihren Erlebnissen, zeigen Bilder
       und Videos. Sie erfreuen sich an funktionierendem Mobilfunkempfang,
       geöffneten Läden und Tankstellen. Ihre Aufgabe hat etwas Befriedigendes,
       Leben kehrt zurück in die Orte, die die Ukraine zurückerobert hat.
       
       In Pisky-Radkiwski machen sie eine Schneeballschlacht. Eine Abwechslung zum
       täglichen Verteidigungskampf. Denn die Hauptaufgabe aller ukrainischen
       Streitkräfte an der Front − auch der Polizisten − besteht darin, die
       russische Invasion abzuwehren. „Auch unser Ziel ist es, dass möglichst
       wenig russische Soldaten übrig bleiben“, sagt der Kommandeur ernst.
       
       Im Unterschied zu den Sturmeinheiten der Armee ist die Polizistentruppe nur
       zeitweise an der Nulllinie. Einsatzbefehle bekommen sie vom Stab, aktuell
       aus Isjum, oder direkt von Kommandeuren benachbarter Einheiten. Ihre
       Unterkunft liegt im Hinterland. Sie sitzen nicht wochenlang in
       Schützengräben unter russischem Dauerbeschuss wie die Frontsoldaten.
       
       ## Man hält sie für den Geheimdienst
       
       Vielmehr sind es Leute wie Oleksandr, „Flagge“, die Soldaten manchmal auch
       aus ausweglos erscheinenden Situationen retten: wenn beispielsweise deren
       Fahrzeuge zerstört wurden, sie selbst aber versteckt überleben konnten.
       Manchmal bringen sie auch spezialisierte Soldaten wie etwa Scharfschützen
       zur Zieleinheit an die Front. „Wenn wir Soldaten evakuieren, glauben die
       uns nie, dass wir Polizei sind“, sagt Oleksandr, „meistens hält man uns für
       Geheimdienst.“
       
       Seit die Polizeieinheit Drohnen hat, gehört auch Luftaufklärung zu ihren
       Aufgaben. Damit erkunden sie Stellungen der russischen Armee und deren
       Kriegstechnik, geben Koordinaten weiter an den Stab.
       
       Kommandeur Oleh erklärt beim Autofahren die Arbeit seiner Einheit. Der Jeep
       hüpft über die verschneite Dorfstraße, die aus Isjum hinaus nach Süden
       führt. Neben einem Fabrikgebäude steht noch ein Güterzug der russischen
       Eisenbahn. „Haben sie nicht geschafft mitzunehmen, als sie fortgejagt
       wurden“, sagt Oleh und die vier Polizisten lachen.
       
       ## Manchmal sind sie als Erste in befreiten Orten
       
       Bei Befreiungsoffensiven verstärkt ihre Einheit die Armee, bekämpft die
       Besatzer, nimmt gegnerische Soldaten gefangen. „Meist läuft es so: Wir
       gehen rein, nehmen einen Gefangenen und bekommen von ihm Informationen“,
       sagt Oleksandr. Später folgten Erstbefragungen von Bewohnern, auch Handys
       dürften sie kontrollieren. Bei dem Verdacht auf Kollaboration übergebe man
       an den Geheimdienst.
       
       Wenn die russische Armee vertrieben ist, nehmen Oleh und seine Männer auf,
       wer sich überhaupt noch in den Orten aufhält, wie viele Kinder, Verletzte,
       Bedürftige.
       
       Sind die Polizisten als Erste in befreiten Orten, entschärfen sie auch
       Minen. Sie zeigen ein Handyvideo, auf dem sie mit Reifen Straßenminen
       überrollen und sie so sprengen.
       
       „Bei manchen Ortsbefreiungen waren wir schon vor den Soldaten direkt in der
       Offensive“, sagt Oleh. „Wir haben auch mehr Waffen als normale Polizisten:
       Jeder hat eine Pistole, ein Sturmgewehr und einen Granatwerfer. Dazu kommt
       leichte Artillerie für die Einheit, Panzerfahrzeug und
       Mehrfachraketenwerfer.“ Insgesamt habe seine Einheit schon mehr als 1.000
       Gegner getötet, sagt Oleh. Tote in der eigenen Truppe habe es angeblich
       noch nicht gegeben, Verwundete schon.
       
       Viele Berichte über russische Rekruten hält Kommandeur Oleh aber für
       falsch: „Es gibt bei den Russen auch sehr gut ausgerüstete und geschulte
       Einheiten. Der Großteil sind einfache Leute. Aber Quantität wandelt sich
       mit der Zeit in Qualität.“ Wer überleben wolle, lerne zu kämpfen, sagt er.
       „Nur wofür die eigentlich kämpfen, das weiß ich noch immer nicht.“
       
       ## Jeder konnte sich bewerben
       
       Die Patrouillenpolizei als Abteilung entstand in der Ukraine 2015. Nach dem
       Euromaidan wurden Formationen wie „Berkut“, das unter dem damaligen
       Präsidenten Janukowitsch Demonstrierende beschoss und tötete, aufgelöst.
       Die Polizeistrukturen wurden jahrelang reformiert.
       
       Die Nationale Polizei kümmert sich nun um Verbrechensaufklärung, die
       Streifenpolizei um Straßenverkehr und Ordnung im öffentlichen Raum. In
       Großstädten wie Kyjiw sind das zwei getrennte Abteilungen mit je eigener
       Leitung, beide dem Innenministerium unterstellt.
       
       Als Russland am 24. Februar 2022 großflächig die Ukraine überfiel,
       organisierte auch der Chef der Kyjiwer Patrouillenpolizei eine eigene
       Freiwilligeneinheit, offizielle Bezeichnung: „kombinierte Abteilung der
       Streifenpolizei“. Jeder konnte sich bewerben.
       
       Auf einer Dienstreise in Tschechien sei der Kyjiwer Chef dafür von Kollegen
       kritisiert worden, erzählt Oleksandr, weil Polizisten im Krieg nicht zu
       kämpfen hätten. Das gehöre einfach nicht zu ihren Aufgaben. Er habe
       erwidert: „Wenn die Russen zu euch kämen, würdet ihr auch alle kämpfen.“
       
       ## Zuletzt arbeitete er als Pyrotechniker
       
       Kommandeur der Polizeieinheit wurde Oleh, der „Bär“. Er ist Freiwilliger
       wie alle anderen in der Einheit. Er ist groß, um die 50, spricht und bewegt
       sich ruhig. Er war schon in Afghanistan und im Irak als Vertragssoldat für
       die U.S. Army. Im zivilen Leben arbeitete er zuletzt als Pyrotechniker für
       Kino- und Netflixfilme wie „The last Mercenary“ mit Jean-Claude van Damme.
       
       Im März 2022 wählte er bei Trainingswochen in Kyjiw die Bewerber für die
       Fronteinheit aus. Die meisten von der Polizei, aber auch Anwälte, Ärzte,
       Unternehmer. „Wir sind alle schon etwas älter, mit stabilem Charakter und
       Einkommen.“ Bei den Übungen habe er gesehen, wer sich wie verhält. „Wer
       nicht geeignet schien, den haben wir nach Hause geschickt.“
       
       Ihr erster Einsatz war Ende März 2022 bei der Befreiung der Kyjiwer Vororte
       Butscha und Irpin. Über den Sommer waren sie im Gebiet Mikolajiw
       stationiert, seit Herbst bei Lyman im Gebiet Donezk. In ihr Lager dürfen
       keine Zivilisten oder Journalisten. Seit Anfang Februar ein amerikanischer
       Helfer in der Nähe getötet wurde, gelten strengere Sicherheitsvorkehrungen.
       
       Von Lyman aus waren sie bei der Befreiung der Gegend um Isjum beteiligt,
       starteten zu Einsätzen bei Bachmut. „Im Süden wurden wir oft herzlich und
       mit Flaggen begrüßt“, erinnert sich Kommandeur Oleh. „Hier im Donbass gibt
       es mehr prorussische Leute, wir nennen sie ‚Schduny‘, die ‚Wartenden‘ −
       Leute, die sogar unter Dauerbeschuss auf den ‚russischen Frieden‘ warten.“
       In Isjum sei das noch eine Minderheit gewesen, in Lyman schon etwa die
       Hälfte.
       
       ## Hier war ein Panzer im Fluss abgesoffen
       
       Es rumpelt. „Mist, bei dem Schnee sieht man die Schlaglöcher nicht“, sagt
       Oleh. Und Löcher haben die Straßen hier mehr als Asphalt. Dann bremst Oleh
       vor einer Brücke ab. Der Fluss heißt wie das Dorf: Oskil. Oleh erinnert
       sich an den Befreiungseinsatz im Herbst: „Hier neben der Brücke war ein
       russischer Panzer im Fluss abgesoffen.“
       
       Entlang der Straße und im Wald liegen noch immer Panzerskelette. „Neben
       einem lag damals ein blutender Soldat. Der hatte seine Tourniquets, die
       Aderpressen zum Stoppen von Blutungen, so fest an die Schutzweste
       geschnürt, dass wir sie nicht abbekamen und ihn damit nicht retten
       konnten.“
       
       Wenige Meter weiter sagt Oleh: „Hier war ein russisches Munitionslager, da
       konnten wir uns mal gut bedienen.“
       
       ## Sie könnten jeden Tag kündigen
       
       Aktuell gehören 32 Männer, keine Frauen, der Polizei-Fronteinheit an,
       Menschen mit unterschiedlichen Lebenserfahrungen. Als Freiwillige könnten
       sie praktisch jeden Tag kündigen und heimfahren. Diese Freiwilligkeit sei
       „ein wichtiger Teil der Motivation“, sagt Oleh.
       
       Da schaltet sich Jaroslaw, der „Bootsmann“, vom Rücksitz ein: „Während beim
       Militär auch Jungs kämpfen, die ihre Einberufung als Strafe bekommen haben,
       weil sie beispielsweise die Sperrstunde verletzt haben, sind wir hier
       freiwillig. Für uns wäre es eine Strafe, nicht an die Front gelassen zu
       werden.“
       
       Jaroslaw ist 28, der Jüngste der Truppe, er spricht wenig und wenn, dann
       nur leise. „Unser Minderjähriger“, lacht Oleh. „Dafür war ich bei der ATO“,
       sagt Jaroslaw trotzig. Er kommt ursprünglich von der Krim, lebt jetzt in
       Kyjiw. Direkt nach dem Maidan und dem Ende seines Grundwehrdienstes ging er
       als 19-Jähriger 2014 zur ukrainischen Armee in den Donbass. Dieser Einsatz
       gegen die von Russland unterstützten sogenannten Separatisten in den
       Gebieten Donezk und Luhansk heißt in der Ukraine Antiterroroperation (ATO).
       „Aus heutiger Sicht war das echt nur eine Übung“, sagt Jaroslaw.
       
       2019 kehrte er ins zivile Leben zu Frau und Sohn zurück. Bis die russische
       Invasion 2022 ihn wieder in den Krieg zog. Neun Mal schon verbrachte er
       seinen Geburtstag an der Front.
       
       ## An der Front gibt es klare Aufgaben
       
       Oleksandr, die „Flagge“, war vom Militär für untauglich eingestuft worden.
       „ ‚Solche wie dich nehmen wir nicht‘, sagten sie mir. Aber ich will vor den
       Russen nicht wegrennen.“ In Olehs Polizeieinheit hat er das Training
       bestanden. „Im Einsatz hält Oleksandr die ganze Truppe zusammen“, lobt der
       Kommandeur, „er macht alles.“ Oleksandr erzählt gern, wie er in den ersten
       Monaten im Kampf das Autofahren mit Gangschaltung lernen musste. Wie er
       später unter Beschuss geratene Soldaten über Minenfelder evakuierte.
       
       Oleksandr ist Mitte 30, hat Musik studiert, Saxofon und Schlagzeug. Er
       liebt Jazz, arbeitete später aber im Gleis- und Brückenbau. Während er sich
       im zivilen Leben irgendwie durchschlagen musste, hat er nun an der Front
       klare Aufgaben. „Ich habe über 20 Kilo zugenommen“, sagt Oleksandr und
       lacht. „Ich verliere normalerweise Gewicht, wenn ich nervös bin. Aber hier
       bin ich ganz ruhig.“ Er wundert sich selbst, dass er gerade im Krieg zu
       sich findet.
       
       ## Die Armee hielt ihn für zu alt zum Kämpfen
       
       Seinen Kollegen Sergej, Kampfname „Opa“, hielt die Armee für zu alt zum
       Kämpfen. Mit Anfang 50. Sergej kommt aus dem Gebiet Donezk, viele aus
       seinem Umfeld sind noch immer prorussisch eingestellt. „Einen Maidan gab es
       bei uns im Donbass nicht“, erinnert er sich. „Als ich damals im Livestream
       aus Kyjiw sah, wie das Berkut Molotowcocktails in die Proteste warf, hat
       sich meine ganze Weltsicht umgedreht.“ Er stellte sich auf die Seite der
       Maidan-Protestierenden. Und er ging 2014 mit seiner Frau in die
       Zentralukraine, über Tscherkassy nach Kyjiw.
       
       Seine Eltern sind seit Herbst im westukrainischen Exil, aber sie seien
       „nicht sehr für die Ukraine“. „Mama ist neutral, Papa Separatist“, sagt er
       kühl. „Mama kommt aus Rjasan, Papa aus Kursk, sie lernten sich hier beim
       Studium kennen. Bis heute können sie in ihren Köpfen nicht zurechtrücken,
       dass Putin und Russland nicht dasselbe sind.“
       
       Die Familie bleibt in Kontakt. „Vorm Krieg sagten sie: ‚Wenn du kämpfen
       gehst, sagen wir uns von dir los.‘ Jetzt kämpfe ich, aber sie haben das
       nicht gemacht.“
       
       Ein Cousin von ihm kämpfe auf russischer Seite. „Wir haben beide einen
       eigenen Kopf“, sagt Sergej. [1][„Aber diese Leute denken nur mit dem
       Fernseher, sie glauben der Propaganda mehr als der Realität, die sie
       kennen.“]
       
       Was passiert, wenn die Cousins einander im Kampf begegnen sollten? „Wenn er
       sich ergibt, kann er überleben“, sagt Sergej trocken. „Wir ziehen ja nicht
       in sein Gebiet, um Rjasan zu erobern, sondern die kommen zu uns gekrochen.“
       
       ## „Tiere sind die besseren Menschen“
       
       Ein Stopp in Jazkiwka, Donezker Gebiet. Das Ortszentrum ist eine
       Trümmerlandschaft. Die Reste der Markthalle, der Behördengebäude und
       Geschäfte liegen unter Schnee – dazwischen Fahrzeugteile, Metallplatten,
       Hausruinen. Eine russische Kanone ist zum Abtransport aufgebockt: „Die
       werden unsere Soldaten bald abholen“, sagt Oleh, „können wir noch
       benutzen.“ Eine orthodoxe Holzkirche ist zerstört, daneben ein
       Geburtshilfehaus.
       
       Auf der Strecke von Isjum nach Lyman zum Lager der Polizisten sehen viele
       Dörfer so aus, darunter die Orte Kamjanka und Dolyna. „Die Leute hier
       wollten sich nicht besetzen lassen“, sagt Sergej. „Darum wurden viele
       getötet.“
       
       Die Gegend ist nun ein menschenleeres Tal der Ruinen, mit verminten Wegen
       und Feldern. Raketenreste und ausgebrannte Militärtechnik stecken am
       Straßenrand und im Acker, schwarz sind Bäume und Boden. In Kamjanka nahmen
       sie eine Straßenkatze mit. Leise sagte damals Oleksandr zu ihr: „Manchmal
       denke ich, Tiere sind die besseren Menschen.“
       
       ## Für normale Menschen sicher zu viel
       
       Im Auto zurück nach Isjum sagt Oleh: „Vieles, was wir hier an der Front
       sehen, ist für normale Menschen sicher zu viel.“ Posttraumatische
       Belastungsstörungen erwischten irgendwann jeden. „Darum ist es gut, dass
       wir hier stabile Männer haben, die nicht mit Saufen oder Drogen anfangen.“
       
       Über Angst sprechen die vier aber ungern. „Wovor soll ich noch Angst
       haben?“, fragt Oleh, der nicht im Krieg, sondern bei einem Hausbrand 2019
       die schlimmste Verwundung seines Lebens davontrug: 93 Prozent seiner Haut
       verbrannt, über 14 Monate Heilungsprozess. Er zeigt Bilder aus dem
       Krankenhaus damals, jetzt sind nur noch kleine Narben zu sehen. „Ich habe
       am meisten Angst, dass meine Angehörigen getötet werden könnten.“
       
       Sergej dagegen sagt: „Wenn wir zum Einsatz fahren, gibt es schon Angst. Am
       meisten davor, die Kontrolle über die Situation zu verlieren. Aber im
       Einsatz ist keine Zeit dafür. Da musst du fokussiert sein, alles hören,
       sehen und abschätzen.“
       
       „Im Krieg gibt es eine einfache Regel“, sagt Oleh: „Was du vermasselst,
       tötet dich!“ Verliere man nur wenige Sekunden die Konzentration, sei das
       die Garantie dafür, dass man umkomme. „In diesem Krieg hat zum ersten Mal
       ein Panzer direkt auf mich geschossen: Du hörst ihn starten, dann knallt
       und fliegt es schon. Sofort hinwerfen, da bleiben keine drei Sekunden Zeit.
       Und hoffen, dass es gutgeht.“
       
       ## „Gut und viel schlafen. Das hilft“
       
       Gar keine Angst hätten nur Idioten, und auch das nur, bis sie selbst in
       lebensgefährliche Situationen kämen. „Wir haben in Irpin gesehen, wie eine
       Rakete direkt in ein ziviles Auto einschlug“, erinnert sich Oleh, selbst
       aus Irpin. „Übrig blieben nur vereinzelte Teilchen von Auto und Körpern.“
       
       Man müsse irgendwie balancieren zwischen Angst und gesunder
       Leichtsinnigkeit. „Und dabei nicht verrückt werden.“ Wie? „Gut und viel
       schlafen. Das hilft.“
       
       Urlaub sei auch wichtig. Drei Wochen hatten die Polizisten gerade ab Mitte
       Januar frei. „Es dauert dann schon einige Tage, bis man versteht, dass man
       relativ sicher ist“, sagt der Kommandeur. Sie hätten Papierkram nachgeholt
       und Familien besucht, berichten auch seine Männer. Waren mal draußen, weg
       von der Front.
       
       Zurück im Krieg steht nun der nächste Umzug bevor. Wohin, ist ungewiss. Die
       Lage im Osten ist angespannt. Was passiert mit und um Bachmut? „Die Russen
       wollen jetzt möglichst weit vorrücken, bevor der Boden taut und schwere
       Technik stecken bleibt“, sagt Oleh. „Damit wir sie dann schwerer
       zurückdrängen können.“ Gerade entsteht eine neue sogenannte
       „Angriffsgarde“, acht Brigaden mit tausenden Freiwilligen. Sie sollen die
       angestrebten ukrainischen Offensiven im Süden und Osten stärken.
       
       Zum Abend gibt es dann ein improvisiertes Abschiedsgrillen in Isjum:
       Zwischen niedrigen Ladenkiosken, von denen einzelne noch Beschussschäden
       zeigen, wird Schaschlik vom Grill verkauft. Es schneit und dämmert. Ein
       gutmütiger Straßenhund leistet den Polizisten und Helfern Gesellschaft,
       lässt sich streicheln und wartet geduldig, bis er die letzten Fleischstücke
       verschlingen darf.
       
       ## Sie glauben, dass die Ukraine gewinnen wird
       
       Kommandeur Oleh vertraut darauf, dass die Ukraine gewinnen werde. Er
       verweist auf strukturelle Unterschiede: „Wir sind horizontal organisiert,
       es gibt kaum strenge vertikale Befehlswege: Wir brauchen nur die Zustimmung
       vom Stab hier.“
       
       Einmal habe er ein Briefing einberufen und den Stab direkt gefragt: „Wir
       haben Russen entdeckt, hier sind die Koordinaten. Dürfen wir sie ficken?“ −
       „Fickt sie!“ Und es ging los. Seine Einheit sei immer in wenigen Minuten
       startklar. „So sind wir schneller, die Russen reagieren oft zu langsam.“
       
       Mindestens noch einen Kriegswinter erwartet Oleh, also noch ein Jahr Krieg.
       „Ich habe in komplizierten Situationen schon mal überlegt, nach Hause zu
       fahren“, räumt er ein. „Aber was soll ich da sitzen, während …“ Er
       unterbricht sich: „Nein.“
       
       Seine Jungs pflichten ihm bei: „Wenn wir aufhören zu kämpfen, gibt es uns
       und unser Land nicht mehr.“
       
       21 Mar 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Russische-Propaganda/!5908628
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Peggy Lohse
       
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   DIR China-Experte über Ukraine und Taiwan: „China ist in einem Dilemma“
       
       Das Land leide unter dem Ukraine-Krieg, so Cheng Li: An einer
       Blockkonfrontation habe es kein Interesse, an einer Niederlage Russlands
       aber auch nicht.
       
   DIR Russischer Anarchist verteidigt Ukraine: „Wir kämpfen gegen Putins Regime“
       
       Er und seine Genossen wollen die freie Gesellschaft an der Front
       verteidigen: Gespräch mit einem russischen Anarchisten, der auf
       ukrainischer Seite kämpft.