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       # taz.de -- Ukraine-Krieg in deutscher Debatte: Aufweichen der Begriffe
       
       > Nicht jeder imperialistische oder koloniale Krieg ist ein
       > Vernichtungskrieg. In der deutschen Debatte zur Ukraine werden Worte
       > gefährlich verwischt.
       
   IMG Bild: Eine Frau läuft an zerstörten Gebäuden in der Ukraine vorbei, Kupiansk
       
       Mehr als ein Jahr dauert nun der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine.
       Seit einem Jahr reden wir von einer Zeitenwende in der Sicherheitspolitik.
       Der 24. Februar 2022 stellt sicherlich eine Zäsur dar. Auch wenn der
       Ost-West-Konflikt nicht erst 1945 begonnen hat und mit 1990 nicht vorbei
       war. Er ist älter, datiert vom Beginn des 18. Jahrhunderts.
       
       Man könnte sagen: Das ganze 19. und 20. Jahrhundert lagen im Schatten des
       Konflikts zwischen „Bär“ und „Walfisch“. Sein Schwerpunkt wanderte bis 1961
       nach Mitteleuropa und nach 1990 wieder zurück in die eurasische Peripherie.
       Der völkerrechtswidrige und verbrecherische Angriffskrieg des
       Cäsaropapisten Wladimir Putin auf die Ukraine ist – nach Tschetschenien,
       Georgien und Syrien – nur ein weiteres Kapitel in dieser
       weltgeschichtlichen never ending story.
       
       Ideologisch fügt sich der Ukrainekrieg in westliche Diskurspfade, die seit
       1917, teils länger bestehen: hier die transatlantischen Liberalen (und
       Linksliberalen), die die liberale (aber eben auch kapitalistische)
       Demokratie verteidigen; dort eine postkoloniale und antikapitalistische
       Linke, die die Nato hasst und im Liberalismus des „Spätkapitalismus“ einen
       großen Verblendungszusammenhang, in Russland aber immer auch ein
       Sehnsuchtsland sieht.
       
       So weit, so wenig überraschend. Was aber überrascht, ist die erschreckende
       Unklarheit über politische und historische Grundbegriffe, und zwar nicht
       allein bei den Wagenknechts und Schwarzers dieser Welt, sondern auch der
       anderen Seite.
       
       ## Leichtfertige Verwendung von „Vernichtungskrieg“
       
       Schon gleich nach dem russischen Überfall war zu hören, das russische
       Vorgehen in der Ukraine sei genozidal und ein „Vernichtungskrieg“, auch die
       Schriftstellerin Carolin Emcke spricht in ihrem jüngsten Podcast mit dem
       [1][Osteuropahistoriker Karl Schlögel] lapidar vom „russischen
       Vernichtungskrieg in der Ukraine“; doch diese Begriffe sollte man nicht
       leichtfertig verwenden.
       
       Was ein Genozid ist, ist durch eine Konvention der Vereinten Nationen von
       1948 juristisch, was ein Vernichtungskrieg, durch
       geschichtswissenschaftliche Observanz definiert. Ein Genozid ist die
       geplante und gezielte systematische physische Auslöschung eines bestimmten,
       durch seine Nationalität definierten Teils der Menschheit. Als
       Vernichtungskrieg gelten kann die großmaßstäbliche, durch Befehle
       gesteuerte physische Vernichtung insbesondere der Zivilbevölkerung eines
       Kriegsgegners in Massentötungen, auch unter Einschluss der zielgerichteten
       Zerstörung von deren Lebensgrundlagen. Beide sind abzugrenzen von bloßen
       Kriegsverbrechen.
       
       [2][Der Vernichtungskrieg ist eine bewusste Entgrenzung] des durch
       Konventionen und Recht „gehegten“ Kriegs. Die „guerre à outrance“ oder
       Ludendorffs „totaler Krieg“ aus dem Ersten Weltkrieg waren Konzepte der
       Entgrenzung, aber nicht notwendig Vernichtungskriegskonzepte im Sinne der
       modernen Forschung. Kolonialkriege dagegen wurde häufig als
       Vernichtungskriege gegen die Zivilbevölkerung geführt, etwa der deutsche
       gegen die Herero und Nama ab 1904 oder die spanischen und italienischen
       Kriege in Nordafrika im 20. Jahrhundert.
       
       Dennoch ist nicht jeder imperialistische oder Kolonialkrieg ein
       Vernichtungskrieg. Insbesondere ist zu fragen, ob das Kriterium der
       „Vernichtung“ schon durch noch überwiegend militärische Kampfhandlungen
       erfüllt ist oder zwingend auch das „Policing“ der Zivilbevölkerung (etwa
       durch Bombardierungen, biologische/chemische Kampfführung,
       Massenexekutionen) zur Bedingung hat.
       
       ## Unterschiedlich Begriffe des Kriegsgeschehens
       
       Wenn nach einer Schlacht eine kriegsgefangene Kompanie nicht zur
       Gefangenenstelle geführt, sondern kurzerhand mit der Waffe niedergemacht
       wird, so ist das zweifellos ein brutales Kriegsverbrechen, aber noch nicht
       notwendigerweise eingebettet in einen Vernichtungskrieg. Gleiches gilt,
       wenn im Krieg „vereinzelt“ Zivilisten ermordet oder Luftangriffe auch auf
       zivile Ziele geflogen werden und dabei Nonkombattanten umkommen.
       
       Ein Vernichtungskrieg ist es dagegen, wenn etwa befohlen wird: alle
       Akademiker, alle Offiziere ab einem bestimmten Rang, alle erwachsenen
       Einwohner mit so und so viel Vermögen oder Eigentum, alle Ingenieure oder
       Journalisten oder Feuerwehrleute werden aufgesucht und getötet. Oder
       Soldaten, die sich bereits ergeben haben, sollen systematisch „im Kampf
       erledigt“ werden.
       
       Die Lebensgrundlagen eines Gebiets werden umfassend zerstört: Nicht nur
       werden ein Teil der Ernte oder Industrieerzeugnisse einbehalten, sondern
       der Boden wird unfruchtbar gemacht, Brunnen vergiftet und zugeschüttet et
       cetera.
       
       Als Scipio Africanus der Jüngere 146 v. Chr. Karthago besiegte, machte er
       nicht nur die Stadt dem Erdboden gleich, sondern ließ auch das Erdreich mit
       Salz düngen: Von diesem Boden sollte sich niemand mehr ernähren können.
       
       ## Wehrmacht in Polen 1939
       
       Als die Wehrmacht 1939 Polen überfiel, folgte ihr die SS mit dem
       „Sonderfahndungsbuch Polen“, darin aufgelistet Angehörige bestimmter
       Personengruppen, die sodann summarisch getötet wurden. Etwa 60.000 Polinnen
       und Polen fielen dieser sogenannten Intelligenzaktion zum Opfer. Es folgten
       weitere ähnliche Handlungen; die polnische Elite sollte in großem Umfang
       ausgerottet werden.
       
       Im September 1941 erhielten die Heeresgruppe Nord der deutschen Wehrmacht
       und die ihr unterstellte 18. Armee vom Oberkommando des Heers den Befehl,
       das von ihnen belagerte Leningrad weder zu stürmen noch seine Übergabe
       anzunehmen, die Stadt aber trotzdem abzuriegeln; die Bevölkerung von
       Leningrad sollte planmäßig verhungern.
       
       Zum Vergleich: Bei der Belagerung von Paris durch preußisch-deutsche
       Truppen 1870/71 wurden, wie Otto von Bismarck in seinen Erinnerungen
       schreibt, „1.500 Achsen mit Lebensmitteln für die Pariser beladen, um ihnen
       schnell zu helfen, wenn sie sich ergeben würden“. Man wollte Paris zur
       Aufgabe zwingen und nahm dabei zivile Opfer und die Zerstörung ziviler
       Ziele in Kauf; die Bevölkerung verhungern lassen wollte man indes nicht.
       
       Das absichtliche Verhungernlassen von etwa 2 Millionen sowjetischen
       Kriegsgefangenen in Gewahrsam der Wehrmacht um die Jahreshälfte 1941/42 war
       eindeutig Teil eines Vernichtungskriegs, desgleichen der sogenannte
       Hungerplan zur restlosen Ausbeutung der sowjetischen Landwirtschaft unter
       expliziter Inkaufnahme einer Hungerkatastrophe.
       
       ## „Partisanenbekämpfung“
       
       Ähnliches gilt für die deutsche „Partisanenbekämpfung“ in den besetzten
       osteuropäischen Gebieten, bei der es sich überwiegend eben weder um
       „reguläre“ Repressalien noch um punktuelle Kriegsverbrechen handelte,
       sondern nur einen Vorwand zu systematischen Morden darstellte, die man
       ohnehin plante.
       
       Inwieweit das auch auf die „Partisanenbekämpfung“ im Rest Europas zutrifft,
       wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Auch der Krieg Japans gegen
       China mit umfassenden Massentötungen und Massenvergewaltigungen von
       Zivilisten und Zivilistinnen war wohl ein Vernichtungskrieg.
       
       Ob dagegen der Krieg Putins gegen die Ukraine schon das Kriterium eines
       Vernichtungskriegs erfüllt, ist fraglich. Dagegen sprechen etwa die relativ
       geringe offizielle Zahl der Vereinten Nationen aus dem März von bislang
       etwa 8.200 getöteten ukrainischen Zivilisten sowie die offenbar intakten
       Abkommen über Getreidelieferungen oder der regelmäßige Austausch von
       Kriegsgefangenen.
       
       Zwar werden zivile Ziele beschossen, gibt es Massaker wie in Butcha, werden
       Kinder entführt zum Zweck ihrer „Russifizierung“, was allerdings den
       Tatbestand des Ethnozids, also der Zerstörung der ethnischen Identität
       eines Volks ohne seine physische Vernichtung, erfüllt.
       
       ## Kriegsverbrechen und Kriegsvölkerrecht
       
       Es wird vergewaltigt und gefoltert, und wahrscheinlich werden immer wieder
       Kombattanten nicht nach dem Kriegsvölkerrecht behandelt, sondern ermordet;
       und es wird die Ukraine in ihrer Staatlichkeit negiert. Aber als Ganzes
       oder in wesentlichen Teilen ermordet werden soll die ukrainische
       Bevölkerung offenbar nicht.
       
       Ein Vergleich: Den Einwohnern von Russland eroberter ukrainischer Gebiete
       wird offenbar zwangsweise die russische Staatsbürgerschaft verliehen. Die
       deutschen Behörden im Zweiten Weltkrieg hätten den Teufel getan,
       unterworfene Polen, Belarussen, Ukrainer und Russen kollektiv mit der
       deutschen Reichsbürgerschaft zu begnaden; sie sollten bessere Sklaven sein.
       
       Warum diese Differenzierungen? [3][Weil sich eine Begriffsverschiebung
       beobachten lässt], die Jahrzehnte der minutiösen Aufarbeitung der
       NS-Verbrechen wegzuwischen droht. Die Argumentation gegen Russland hat von
       Anfang an den unangenehmen Beiklang eines „Haltet den Dieb!“: „Seht her,
       wir Deutsche sind nicht mehr allein, auch Putin führt einen
       Vernichtungskrieg und begeht einen Völkermord.“
       
       ## Das System Putin
       
       Diese Aufweichung der historischen, politischen und juristischen Begriffe,
       ob aus Unkenntnis oder mit Absicht propagiert, ist problematisch. Sie
       erweist der guten Sache einen schlechten Dienst. [4][Das System Putin und
       seine auf Erpressung und Gewalt beruhende Außenpolitik sind
       quasifaschistisch] und neoimperialistisch, sein Krieg ein Eroberungskrieg
       im Namen des Eurasianismus.
       
       Wenn aber versucht wird, Putin gegen Hitler und die russische Invasion in
       der Ukraine gegen den deutschen Vernichtungskrieg in Osteuropa (und
       Russland) gegenzurechnen und damit, um den Historikerstreit von 1986 zu
       bemühen, den außenpolitischen Urschaden Deutschlands im 20. Jahrhundert
       klandestin abzuwickeln, dann ist dies unseriös, geschichtsvergessen und
       gefährlich.
       
       24 Mar 2023
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Konstantin Sakkas
       
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