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       # taz.de -- Dürre in Syrien: Die Kinder tragen die Wasserlast
       
       > In Syrien macht Trockenheit den Menschen zu schaffen und Krankheiten
       > breiten sich aus. Tägliches Wasserholen prägt besonders das Leben der
       > Kleinsten.
       
   IMG Bild: Tagein, tagaus Wasser nach Hause bringen – teilweise kommt es aus gefährlichen Quellen
       
       Hassakeh taz | Mit großen Plastikbehältern unter dem Arm gesellt sich
       Muhammad in die Schlange zu einigen Kindern und Frauen. Der Zehnjährige
       wartet, dass er an der Reihe ist, seine Behälter aus den Wassertanks zu
       füllen, die im Hof einer Notunterkunft in Hassakeh aufgestellt sind. Die
       Stadt im Nordosten Syriens ist die wohl durstigste des Landes. Mehr als
       eine Million Menschen in Hassakeh und Umgebung leiden unter Wassermangel.
       Die Lasten tragen vor allem die Kinder. Das Wasser, das sie tagein, tagaus
       in ihre Plastikbehälter füllen, wiegt oftmals mehr als sie selbst.
       
       Muhammad richtet seine Augen zum Himmel und seufzt. Er hat es eilig: „Ich
       habe Hunger“, sagt er, „meine Mutter wartet, dass ich Wasser bringe, damit
       sie Essen zubereiten kann.“ Mit seinen Eltern und zwei Schwestern ist
       Muhammad aus Ras al-Ain an der Grenze zur Türkei vertrieben worden. Die
       Türkei und protürkische syrische Gruppen hatten im Oktober 2019 eine
       Militäroperation auf der syrischen Seite der Grenze gestartet.
       
       Weiter südlich, in dem [1][Teil Syriens, der nicht von der Regierung in
       Damaskus, sondern von syrischen Kurden kontrolliert wird], fand die Familie
       Zuflucht – in einem Schulgebäude, das in eine Notunterkunft umgewandelt
       wurde. Jedes Klassenzimmer wird nun von einer vertriebenen Familie bewohnt.
       
       Wie viele andere Familien in Hassakeh ist Muhammads Familie auf
       Brunnenwasser unbekannter Herkunft angewiesen, das von Tanklastern zu über
       die ganze Stadt verstreuten Wassertanks transportiert wird. Wasser holen
       und nach Hause transportieren – diese Aufgabe prägt das Leben vieler
       Bewohner der Geflüchtetenlager und Notunterkünfte, insbesondere das der
       Kinder. Während die Erwachsenen einer Arbeit nachgehen, um ihre Familien
       ernähren zu können, erschöpft sie das tägliche Wassertragen.
       
       Wasserkrieg mit der Türkei 
       
       Die Menschen im Nordosten Syriens litten im letzten Sommer unter der
       schlimmsten Dürre seit etwa 70 Jahren; dieser Sommer ist etwas besser.
       Grund für die Trockenheit sind der Klimawandel, Regenmangel und hohe
       Temperaturen.
       
       Verschärft wird die Krise durch einen Wasserkrieg, den die Türkei gegen die
       Menschen im Nordosten Syriens führt. Ankara kontrolliert die Quelle des
       Euphrats, der durch Syrien bis nach Irak fließt. Doch Ankara hält sich
       nicht an Vereinbarungen eines [2][Abkommens aus dem Jahr 1987] zwischen den
       drei Ländern. Für Syrien hat sich der Anteil des Wasserdurchflusses [3][von
       den einst zugesagten 500 Kubikmetern pro Sekunde auf 215 verringert.]
       
       Hinzu kommt, dass von der Türkei unterstützte Gruppen in Syrien die
       Pumpstation Aluk in der Nähe von Ras al-Ain, Muhammads Heimatstadt an der
       syrisch-türkischen Grenze, kontrollieren. [4][Mehrfach schon haben sie den
       Wasserfluss unterbrochen], was die Bewohner Hassakehs vor zusätzliche
       Herausforderungen stellte.
       
       In der Schlange auf dem Hof der Notunterkunft winkt Muhammad plötzlich
       einer Frau und ruft: „Mama, Mama!“ Seine Mutter Turfa ist gekommen, um nach
       ihm zu sehen. Turfa, die in ihren Vierzigern ist, erzählt, dass der Krieg
       sie zur Flucht gezwungen habe. „Vier Jahre nach der Vertreibung leben wir
       immer noch in einem Raum, der allem anderen gleicht als einer Wohnung“,
       sagt sie, „keine Möbel, Stromausfälle und Schwierigkeiten mit der
       Wasserversorgung.“
       
       ## Von Cholera gezeichnet
       
       Turfa lädt die Reporterin zu sich nach Hause ein. Sie verbringe ihre Tage
       hinter einer Nähmaschine, erzählt sie, und stelle Kleider für Frauen und
       Kinder her. Ihr Mann sei aufgrund einer Nervenkrankheit bettlägerig und
       könne nicht arbeiten. Und weil internationale Organisationen versagt
       hätten, die Bedürfnisse der Vertriebenen zu befriedigen, sei sie selbst
       gezwungen gewesen zu arbeiten, um ihre Familie zu unterstützen.
       
       Turfa führt die Reporterin in ihr Zimmer in der umfunktionierten Schule,
       das – von einer abgenutzten Matte und einigen Kissen und Decken abgesehen –
       tatsächlich leer ist. Eine Ecke des Zimmers hat sie in eine Küche
       umgewandelt. Eine Fläche von nicht mehr als einem Quadratmeter dient dem
       Kleiderwaschen und Geschirrspülen. Hier steht auch eine Reihe von
       Plastikbehältern, von denen einer für sterilisiertes Trinkwasser reserviert
       worden ist, nachdem eine von Turfas Töchtern an Cholera erkrankte.
       
       Mit traurigem Blick betrachtet Turfa ihre Tochter Tabarak. Sie ist 13 Jahre
       alt, doch nach Größe und Gewicht geurteilt dürfte sie nicht älter sein als
       acht Jahre. Tabaraks Lippen sind blau, die Haut ist blass. Das Mädchen
       leidet unter einer Cholera-Infektion, die nach Ansicht ihres Arztes dadurch
       verursacht wurde, dass sie verunreinigtes Trinkwasser trank. Das Wasser aus
       den Tanks wird nicht auf seine Qualität getestet.
       
       ## Unsichere Wasserquellen als einzige Wahl
       
       Gesundheitsbehörden vor Ort wie auch internationale Organisationen, die in
       der Region Hassakeh tätig sind, haben vor Wassermangel und der damit
       verbundenen hohen Wahrscheinlichkeit der Ausbreitung von Epidemien und
       Krankheiten gewarnt. Doch die Bevölkerung hat oftmals keine andere Wahl,
       als auf unsichere Wasserquellen zurückzugreifen.
       
       Wegen der Erkrankung ihrer Tochter macht sich Turfa nun Vorwürfe: „Ich habe
       es versäumt, das Trinkwasser abzukochen, nur weil kein Gas zum Kochen
       vorhanden war. Dabei wusste ich, dass das Wasser aus den Tanks nicht sauber
       ist“, sagt sie und fügt hinzu: „Mittellosigkeit ist ein langsamer Tod.“
       
       Schon infolge der Coronapandemie war der Wasserverbrauch von Turfas Familie
       gestiegen, dann kam noch die Cholera hinzu. Um Infektionen weiterer
       Familienmitlieder zu verhindern, liegt es jetzt in der Verantwortung
       Muhammads und seiner elfjährigen Schwester Lamar, das Wasser zu
       transportieren.
       
       ## Lehrbücher tragen statt Wasser
       
       Cholera breitet sich in Syrien seit vergangenem Jahr zum ersten Mal seit 15
       Jahren wieder aus. Mittlerweile hat es [5][mehr als hunderttausend Fälle
       gegeben], besonders schwer betroffen ist der Norden des Landes. „Ausbrüche
       von Cholera treten normalerweise in Gemeinden auf, die Schwierigkeiten
       haben, Zugang zu sauberem Wasser zu erhalten, und an anderen Orten, an
       denen die Infrastruktur durch Konflikte oder Naturkatastrophen beschädigt
       wurde“, sagte UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths.
       
       In der Schlange in dem Hof der Notunterkunft in Hassakeh ist Muhammad
       mittlerweile nach langem Warten endlich an der Reihe. Er füllt seine zwei
       Plastikbehälter und trägt sie nach Hause. Es fühlt sich an, als hätte er
       den Wasserkrieg zumindest an diesem Tag gewonnen. Doch was er sich am
       meisten wünscht, ist, dass er in seine Stadt Ras al-Ain zurückkehren kann.
       „Ich möchte nach Hause gehen und Lehrbücher tragen“, sagt er, „nicht diese
       Plastikbehälter.“
       
       Aus dem Arabischen Jannis Hagmann
       
       1 Sep 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Kurdisch-verwaltete-Region-in-Syrien/!5827362
   DIR [2] https://climate-diplomacy.org/case-studies/turkey-syria-and-iraq-conflict-over-euphrates-tigris
   DIR [3] https://www.infomigrants.net/en/post/37302/conflict-and-climate-change-drive-water-crisis-in-syria
   DIR [4] https://www.kurdistan24.net/en/story/29780-Turkish-backed-groups-resume-water-flow-to-Hasakah-city
   DIR [5] https://reliefweb.int/attachments/15de5df0-969e-4d40-904f-d333ec33594c/Final%20WoS%20_Cholera_Situation%20Report%2015_%20April%203%202023%20.pdf
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Hadeel Salem
       
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