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       # taz.de -- Stadtentwicklung in Berlin: Gut Ding darf Weile haben
       
       > Bis Verwaltungen Baugenehmigung erteilen, kann es schon mal Jahrzehnte
       > dauern. Das ist nicht immer schlecht: In den Lücken kann Wundervolles
       > entstehen.
       
   IMG Bild: Wäre da eine Brache mit bunten Zwischennutzungen nicht attraktiver? Öde Neubauten in Berlin
       
       In der Diskussion um die Wohnungsnot in Berlin gibt es ein paar
       Binsenweisheiten, die selten angezweifelt werden. Eine davon ist, dass die
       Verwaltungen viel zu langsam seien, etwa was die Erteilung von
       Baugenehmigungen angeht. Immobilienwirtschaft, SPD und CDU sprechen gerne
       mal von einem „Turbo“, der nun bei der Genehmigung von Bauvorhaben
       eingelegt werden müssen.
       
       Der [1][Streit um die Bebauung des ehemaligen Güterbahnhof an der
       Greifswalder Straße] scheint diese These zu bestätigen. Bereits 2010 erwarb
       der Investor Christian Gerome das Grundstück; fast eben solange bemüht er
       sich um eine Baugenehmigung. Wohnungen sollen dort entstehen, bis zu 450
       Stück; 30 Prozent davon preisgebunden gemäß der kooperativen
       Baulandentwicklung.
       
       Doch das Bezirksamt möchte auf dem Gelände unbedingt eine Schule
       realisieren und vielleicht auch eine Erweiterung des Thälmannparks.
       Andererseits hat das Pankower Bezirksparlament zuletzt eine Wohn- und
       Gewerbenutzung beschlossen, entgegen der Absicht des Bezirksamts. In jedem
       Fall braucht es aber einen neuen Bebauungsplan. Das dürfte wieder
       mindestens vier Jahre dauern, die vorbereitenden Lärm- und
       Bodenuntersuchungen sind nicht mal mit eingerechnet.
       
       Kurz gesagt: Auf dem Gelände passiert auch in den nächsten Jahren
       höchstwahrscheinlich nichts. Wobei die präzise Formulierung ist, es wird
       auf dem Gelände nichts gebaut – denn passieren tut durchaus etwas. Der
       politische Limbo, in dem der Planungsprozess jahrelang fest hing,
       ermöglichte es zahlreichen Kunst- und Kulturkollektiven, ein neues Zuhause
       zu finden.
       
       Nach der [2][Räumung des Clubs und Kulturorts Jonny Knüppel] am Flutgraben
       2018 ermöglichte der Investor den vertriebenen Kollektiven, sich zur
       Zwischennutzung auf der Fläche einzumieten. Weitere Künstler:innen kamen
       hinzu, mittlerweile gibt es sogar einen Zirkus mitsamt Zelt auf dem
       Gelände, der regelmäßig Vorstellungen gibt.
       
       ## Die Zwischennutzung ist ein Gewinn für die Stadt
       
       Bestünde dieser Ort noch ein paar Jahre länger, wäre auch das ein Gewinn in
       einer Stadt, in der immer mehr kulturelle Freiräume verloren gehen. Grund
       zur besonderen Eile gibt es für die Bezirkspolitik also nicht – auch wenn
       klar ist, dass es am Ende einen demokratischen Aushandlungsprozess darüber
       geben muss, um die widerstreitenden Bedarfe nach Wohnraum, Schulplätzen,
       Kultur und Stadtnatur zu balancieren.
       
       Doch dieser Fall zeigt erneut: Die Kreativität Berlins geht weit über den
       Horizont eines Bebauungsplans hinaus. Wirklich ungenutzt bleibt dabei kaum
       ein Quadratmeter der Stadt. Dabei müssen es auch nicht immer Menschen sein,
       die auf unentwickelten Flächen ein Zuhause finden.
       
       Nicht selten bieten Brachen Lebensraum für stark bedrohte Tier- und
       Pflanzenarten. Am Pankower Tor, ebenfalls ein ehemaliges Bahngelände, fühlt
       sich zum Beispiel die Kreuzkröte pudelwohl. Nun will ein Investor dort
       einen Möbelmarkt errichten. Doch im Gegensatz zu Möbelmärkten gibt es nur
       eine Kreuzkrötenpopulation in Berlin. Auch hier ist jede Verzögerung
       wünschenswert und nicht nur aus Sicht der Kröte ein Gewinn.
       
       Jede stadtplanerische Entscheidung prägt die Stadt für die kommenden
       Jahrzehnte, daher kann man sich gerne länger Zeit für eine Entscheidung
       lassen, wenn am Ende ein Gewinn für die Allgemeinheit dabei herauskommt.
       Bis dahin freuen sich all jene, die in der Zwischenzeit unbehelligt von
       Profitinteressen existieren können.
       
       11 Mar 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Bebauung-am-Ernst-Thaelmann-Park/!5919482
   DIR [2] /Demo-gegen-das-Clubsterben/!5443158
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jonas Wahmkow
       
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