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       # taz.de -- Osteuropa-Experte Kühl über Russland: „Selbst liberale Russen lavieren“
       
       > Russland unter Putin ist geprägt von Glaube, Besessenheit und Machtgier,
       > sagt Olaf Kühl. Ein Gespräch über russische Obrigkeitshörigkeit.
       
   IMG Bild: Februar in St. Petersburg. Das Leben geht weiter, als gäbe es keinen Krieg
       
       wochentaz: Herr Kühl, Sie argumentieren in Ihrem Buch in Bezug auf
       Russlands Niedergang oft mit psychoanalytischen Begriffen. Glauben Sie,
       dass man die Kollektivpsyche der Russen nach dem Zerfall der Sowjetunion –
       falls es sie gibt – mit Freud erfassen kann? 
       
       Olaf Kühl: Vor allem in Bezug auf Putin argumentiere ich psychologisch und
       psychoanalytisch. Er ist für mich ein Psychopath, und ich will verstehen,
       wie er tickt. Ich zitiere Masha Gessen, die den Terminus des Todestriebs
       für Putins Charakterzüge ins Spiel gebracht hat. Auch der Begriff der
       Nekrophilie trifft meines Erachtens bei Putin zu, Erich Fromm hat
       Nekrophilie definiert als „die Leidenschaft, das, was lebendig ist, in
       etwas Unlebendiges umzuwandeln; zu zerstören um der Zerstörung willen.“ Und
       natürlich ist es auch immer eine psychologische Frage, warum die Russen all
       das mit sich machen lassen. Warum sind laut Levada-Institut 75 Prozent der
       Russen für den Krieg? Auch wenn ich mich im privaten Kreis umhöre, bin ich
       oft erstaunt, wie viele gebildete Menschen den Krieg unterstützen.
       
       Kann man denn die Russen wirklich so über einen Kamm scheren? 
       
       Nein, natürlich nicht. Ich will in meinem Buch ganz sicher nicht
       ethnisieren. Aber ich beobachte mit Sorge, wie selbst liberale Russen
       lavieren, wenn es um den Krieg geht. Auch bei ihnen gibt es imperiale
       Anklänge. Sie stimmen meist zunächst zu, dass der Krieg schlimm ist, dann
       folgt aber oft eine Ausweichbewegung nach dem Motto: „Wir sind nicht die
       einzigen, schaut nur nach China – oder die Deutschen damals!“ Dieser
       Whataboutism macht mich nachdenklich.
       
       Zugleich behaupten Sie, dass Russland sozusagen aus nicht erwiderter Liebe
       zu Europa handelt, wie es handelt. Von China lässt sich Russland im Osten
       freiwillig Ländereien wegnehmen, schreiben Sie, aber um jedes kleine Stück
       Europa kämpft das Land erbittert. 
       
       Ja. Und es ist auch eine Liebe zur Ukraine. Mich erinnert das an sogenannte
       Femizide, Morde an Frauen, die ihren Mann verlassen haben. Russland hat die
       Ukraine und die Krim geliebt. Die Aufsässigkeit seit der Orangen Revolution
       2004 in der Ukraine hat eine Wut ausgelöst, die vergleichbar ist mit der
       des verlassenen Liebhabers. Die enttäuschte Liebe kann man auch vorher
       schon an den späten Gedichten Joseph Brodskys ablesen.
       
       Sie waren in den Neunzigern erst Russisch-Dolmetscher für den Berliner
       Senat, dann von 1996 bis 2021 Russland-Referent des Regierenden
       Bürgermeisters. Sie waren viel in Russland, haben viele russische Politiker
       getroffen. Haben Sie das Buch aus persönlicher Enttäuschung geschrieben
       oder um eigene Positionen der Vergangenheit zu revidieren? 
       
       Nein. Erst mal fand ich die Parallelität spannend. Innerhalb der 33 Jahre,
       die ich für den Senat gearbeitet habe, hat Russland den Weg in die Diktatur
       eingeschlagen. In den neunziger Jahren hat die Arbeit mit Russland und
       russischen Gästen ja noch Spaß gemacht! Zu der Zeit haben sie sich aber
       beispielsweise im russischen Fernsehen auch noch mit
       Geheimdienstmitarbeitern gefetzt und gestritten, ohne jede Angst, am
       nächsten Tag im Lager zu landen. Das hat man auch den Politikern angemerkt,
       die seinerzeit nach Berlin kamen. Erst Anfang der nuller Jahre ging die
       Gleichschaltung los, ungefähr zu der Zeit habe ich auch den Spaß verloren.
       Ich musste viele Voten, also Empfehlungen, für den Regierenden
       Bürgermeister schreiben, das ist die Hauptbeschäftigung des Referenten.
       Also zum Beispiel, ob Wowereit an der Friedensfahrt mit dem russischen
       Minister XY teilnehmen sollte. Ich habe festgestellt, dass die negativen
       Voten und die Absagen sich häuften. Das lag an diesen Veränderungen in
       Russland. Ich konnte von Beginn an nicht verstehen, wie manche Leute in
       Deutschland auf Putin reinfallen konnten.
       
       Sie analysieren seine Rede im Bundestag 2001. 
       
       So ein glitschiger, verlogener Kerl! An der Rede kann man schon ablesen,
       dass er nicht offenherzig spricht. Spätestens nach der Verhaftung
       Chodorkowskis 2003 habe ich mit immer kritischeren Augen auf Russland
       geblickt. Ich hatte das Gefühl, ich müsse jeden neuen Regierenden
       Bürgermeister erst mal ein Stück weit von seiner Russophilie abbringen und
       den Amtsträgern mit Analysen und Berichten zeigen, was dort wirklich
       vorgeht.
       
       Den Hang zur Esoterik in Russland analysieren Sie auch. Inwiefern spielt
       Esoterik eine Rolle beim russischen Bild von der Ukraine? 
       
       Die offizielle Propaganda zur Ukraine ist ein Wahn. Ich frage mich, ob die
       Leute bewusst diese Wahngebilde verbreiten. Es gibt hochgebildete
       Wissenschaftler, die antiukrainische Propaganda verbreiten wie etwa
       Timofei Sergeizew, der 2022 den Hassartikel „Was soll Russland mit der
       Ukraine tun?“ geschrieben hat. Da wird dann behauptet: In der Ukraine sind
       erstens Nazis, zweitens Satanisten und drittens Antisemiten. Sergeizew
       bezieht sich auf die sogenannten Methodologen, die in den Sechzigern, von
       den Sowjets geduldet, eine krude Denkschule aufgebaut haben. Die haben sich
       gefragt, wie man durch Willensanstrengung und durch Vorstellung die
       Wirklichkeit verändern kann. In den Neunzigern wurden ebendiese
       Methodologen vom Polit-Thinktank Foundation for Effective Politics (FEP) zu
       Rate gezogen, der eine wichtige Rolle bei der ersten und zweiten Wahl
       Putins gespielt hat. Und schon bei der Russischen Revolution hatten die
       Bolschewiken einen dehnbaren Wahrheits- und Wissenschaftsbegriff – sie
       bezogen sich auf Marx, aber interpretierten ihn willkürlich nach ihren
       eigenen Vorstellungen. All das zeugt davon, dass die Wahrheit in Russland
       oft keine Rolle spielt, sondern Glaube, Besessenheit und Machtgier. Diese
       Linie sehe ich bis heute.
       
       Sie schreiben von einer Abkürzung „SPL“ für „Solange Putin lebt“ (russisch
       Пока Путин жив ), die für das Protokoll im Kreis um Putin kursieren soll.
       Woher stammt diese Information? 
       
       Das habe ich von Leonid Newslin gehört, der früher hochrangiger
       Angestellter bei der russischen Ölfirma Yukos war und heute in Israel lebt.
       Angeblich gibt es im Kreis der Minister und Berater Putins diese Abkürzung
       für das politische Agieren „solange Putin lebt“. Sie stellen sich
       anscheinend mental schon darauf ein, was nach ihm kommt.
       
       Sind Sie Putin selbst einmal begegnet? 
       
       Nein.
       
       Sie schildern den Fall des Unternehmers und hochbegabten Informatikers
       Waleri Pschenitschny, der 2018 in seiner Zelle tot aufgefunden wurde.
       Dieser Fall ist im Westen wenig bekannt. 
       
       Ja. Ich habe mit seiner Familie gesprochen und mir von den Angehörigen die
       Hintergründe erklären lassen. Waleri Pschenitschny hat unter anderem
       3-D-Softwaremodelle für U-Boote entwickelt, mit denen man aus großer
       Entfernung Schäden diagnostizieren kann. Er hat einen Auftrag über rund 100
       Millionen Euro vom russischen Verteidigungsministerium bekommen. Der
       russische Geheimdienst FSB wollte offenbar etwas davon abhaben, Offiziere
       sind bei ihm zu Hause erschienen und haben Geld verlangt. Das hat mir sein
       Sohn bestätigt. Als Pschenitschny sich weigerte, hat man ihn nach drei
       Wochen Gefängnis einfach bestialisch ermordet und ihn offenbar zuvor
       vergewaltigt.
       
       Sie beschäftigen sich mit der Grausamkeit der Roten Armee und jener des
       russischen Militärs heute. Woher kommt diese Grausamkeit? 
       
       Vielleicht ist es so, dass die Unterdrückung in diesem Staat seit 1917 eine
       Kehrseite hat. Sie hat eine Obrigkeitshörigkeit hervorgebracht, die für
       eine aufgestaute Aggression bei den Menschen sorgt. Die andauernde
       Unfreiheit erzeugt eine unterschwellige Wut. Wenn es eine Gelegenheit gibt,
       diese straflos herauslassen, wird sie wahrgenommen. Der Krieg ist so eine
       Gelegenheit.
       
       Ich nehme an, Sie waren seit Beginn des Angriffskriegs für die militärische
       Unterstützung der Ukraine durch den Westen. 
       
       Ja. Ich habe auch immer gespendet. Es kommt mir zwar komisch vor, dass ich
       Geld für ukrainische Waffen spende, aber insgesamt ist es ein gutes Gefühl.
       
       „Jede Austreibung braucht ihren Exorzisten. Wer sollte diese Rolle in
       Russland übernehmen?“, fragen Sie gegen Ende Ihres Buchs. Welche Antwort
       geben Sie? 
       
       Da beziehe ich mich auf diesen Methodologen, der sagt, Teufelsaustreibungen
       könnten immer nur die Sieger durchführen. Er meint das natürlich umgekehrt
       – Russland als Sieger. Aber wenn man das umdreht, kann man sich schon
       fragen: Wer soll die Menschen dort zu Vernunft bringen? In Deutschland gab
       es nach 1945 Besatzungsmächte, die uns dazu gezwungen haben: Amerikaner,
       Engländer, Franzosen. Wenn jetzt Russland zusammenbricht, welche Instanz
       sollte diese Rolle einnehmen? Eins ist klar: Von innen heraus wird es
       schwierig.
       
       Sie schreiben, Russland müsse „besiegt“ werden – und sind diesbezüglich
       sehr viel klarer als zum Beispiel Olaf Scholz. 
       
       Ja, im Interesse Russlands bin ich dafür. Wenn dieser Staat neu anfangen
       will, muss er besiegt werden. Mit einer „Gesichtswahrung“ Putins und
       Russlands, so wie Emmanuel Macron das vergangenes Jahr vorschlug, würde man
       Russland nur die erneute Verdrängung ermöglichen. Ein weiteres Mal, nach
       der fehlenden Aufarbeitung der stalinistischen Verbrechen. Sie sollten ihr
       Gesicht eben nicht wahren dürfen.
       
       27 Mar 2023
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Uthoff
       
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