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       # taz.de -- Özil und der Multi-Kulti-Fußball: Die grün-liberale Märchenstunde
       
       > Mesut Özil beendet seine Fußballkarriere, die One-Love-Binde auch. Es ist
       > Zeit, mit alten Projektionen aufzuräumen.
       
   IMG Bild: Wenn Mesut Özil traf, war Deutschland Integrationsweltmeister
       
       Es ist bloß Zufall und doch ein interessantes Zusammentreffen, diese beiden
       Geschehnisse in der gleichen Woche. Mesut Özil, einer der größten deutschen
       Fußballer der Geschichte, [1][beendet seine Karriere]. Zu einem Zeitpunkt,
       an dem viele vergessen haben, dass er überhaupt noch spielte, seit [2][dem
       Erdoğan-Foto] ist er ja im Prinzip ausgebürgert. Just zur selben Zeit
       [3][erklärte der DFB die One-Love-Binde] zum unerwünschten Stück Stoff und
       kehrt zu den Nationalfarben zurück. Zwei deutsche Sündenböcke also gehen.
       
       Özil wird zwar nun verspätet für seine klugen Pässe und sein zartes Spiel
       gefeiert, aber in Zukunft eher nicht neben Basler oder Schweinsteiger in
       die Sendeanstalten dieser Republik eingeladen werden oder in einer
       deutschen Jahrhundertelf stehen.
       
       Zur One-Love-Binde indessen hatte Flick zu sagen, was ähnlich schon über
       Özil formuliert worden war: „Es darf nicht noch mal so sein, dass diese
       Dinge im Fokus stehen, sondern die Mannschaft sollte einfach Fußball
       spielen.“ Längst lautet eine unausgesprochene Deutung des DFB, dass die
       deutschen Männer nun zweimal wegen „Politik“ ausschieden: Einmal war der
       Türke schuld, einmal die Homos.
       
       Dieser neue intellektuelle Tiefpunkt in der sowieso atemberaubend
       einfältigen Fußballaufarbeitung sagt viel über das Politikverständnis des
       deutschen Fußballs. Als „Politik“ gilt der DFB-Elite nicht das Politische,
       sondern das vorgeblich Abnormale. Die ständigen Fragen nach Özils echter
       Heimat, den Integrationsbambi oder die Vereinnahmung durch Angela Merkel
       monierte niemand.
       
       Anders gesagt: Wo Vereinnahmung keine Kontroverse produziert, ist sie
       „einfach nur Fußball“; erst die Kontroverse gilt als störende „Politik“.
       Und natürlich stört „Politik“ nur bei Niederlagen. Als die deutschen Frauen
       mit der Regenbogenbinde ins EM-Finale kamen, schmückte man sich gern mit
       dem Vielfaltssymbol.
       
       Es wäre verlockend, all das nun als konservativen Backlash nach der
       Reformära Löw zu interpretieren. Doch die erfordert eine Neuanalyse. Seit
       2006 gefällt sich das deutsche Feuilleton darin, [4][weltpolitische Thesen
       in die Löw’sche Epoche] zu lesen. Klinsmann/Löw galten da als Wegbereiter
       eines neuen Multikulti-Deutschlands, als Pendant zum politischen Aufstieg
       der Grünen oder gleich zur Ära Merkel, als Abschaffer des Hierarchie- und
       Männlichkeitskults. Das meiste davon ist naive Projektion. Dass Löw einen
       wie Özil in den Kader berief, war weniger dem Antirassismus geschuldet als
       schlicht Common Sense.
       
       ## Überfällige Entwicklung
       
       Im Gegenteil lässt sich an der Nichtbeachtung etwa Leroy Sanés für die WM
       2018 argumentieren, dass Spieler of Color es weiter schwerer haben als ein
       in jeder Lebenslage berufener Thomas Müller. DFB-„Multikulti“ war bloß eine
       überfällige Entwicklung, die in anderen Nationen zehn Jahre früher
       vollzogen war. Und für die These vom grün-liberalen Trainerteam gibt es
       keinen Beleg.
       
       Mit zeitlichem Abstand bröckelt die große Projektion: Klinsmanns Denkmal
       ist längst demoliert, Hansi Flick schimpfte nach der Katar-WM über Themen,
       die „der Mannschaft aufgedrückt werden“. So hysterisch tatsächlich die
       Katar-Debatte verlief, so viel sagt es dennoch über Flicks
       Politikverständnis. Und Ex-Torwarttrainer Andy Köpke irritierte mit einer
       Schimpftirade über Gendersprache.
       
       Die politische Modernisierung des deutschen Männerfußballs ist dort, wo sie
       geschah, eher auf Spieler – Neuer, Goretzka, ja, auch den immer
       politischeren Özil – oder den Funktionär Theo Zwanziger zurückzuführen
       als auf Löw/Klinsmann. Nun tritt mit Özil einer der wenigen wahrhaft
       globalen Stars aus Deutschland ab. Bei den deutschen Männern indes soll es
       2024 wieder ein Sommermärchen geben. Wie viel sich verändert hat, ist
       spürbar an den überraschten Reaktionen vieler Durchschnittsdeutscher: „Wie,
       nächstes Jahr ist Heim-EM?“ Das Bild vom DFB hat sich verändert. Es ist ein
       Stück realistischer geworden.
       
       25 Mar 2023
       
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   DIR Alina Schwermer
       
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