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       # taz.de -- SPD-Niederlage in Hessen: Ein grüner Rathaus-Chef für Kassel
       
       > Bei der OB-Wahl in Kassel gewinnt Amtsinhaber Geselle, ein Ex-SPDler, den
       > ersten Wahlgang – und wirft wegen einer „Kampagne“ hin.
       
   IMG Bild: Steht bei der Stichwahl als einziger Kandidat zur Wahl: Sven Schoeller (Bündnis 90/Die Grünen)
       
       Frankfurt/Main taz | Zeitenwende in Kassel, der einstigen Bastion der
       Sozialdemokraten: Die offizielle Kandidatin der SPD, Isabel Carqueville,
       erzielt bei der Oberbürgermeisterwahl am Sonntag in Kassel im ersten
       Wahlgang gerade mal 12,8 Prozent der Stimmen und ist aus dem Rennen. Der
       amtierende Oberbürgermeister Christian Geselle – ebenfalls Sozialdemokrat,
       aber nach einem Dauerclinch mit seiner Partei als unabhängiger Kandidat
       angetreten – gewinnt den ersten Wahlgang zwar mit 31,5 Prozent, wirft aber
       noch am Wahlabend völlig überraschend hin.
       
       Bei der Stichwahl in zwei Wochen steht somit mit dem Grünen Sven Schoeller
       nur noch ein Kandidat zur Wahl. Die Grünen lösen damit die SPD in ihrer
       früheren Hochburg als Nummer eins der Stadtpolitik ab.
       
       Dabei schien am Sonntag die Sache bereits eine Stunde nach Schließung der
       Wahllokale gelaufen zu sein: Der amtierende Oberbürgermeister Geselle, der
       zwar mit seiner SPD gebrochen hat, aber von vielen Prominenten der
       Stadtgesellschaft unterstützt worden war, würde mit mehr als 30 Prozent der
       Stimmen den ersten Wahlgang gewinnen. Mit ihm erreicht der Grüne Schoeller,
       ein nur in Kassel bekannte Kommunalpolitiker, die Stichwahl. Abgeschlagen
       bleiben die Bewerberinnen von SPD und CDU.
       
       Doch dann beginnt kurz vor 20 Uhr ein beispielloser Countdown. Der
       vermeintliche Wahlsieger Geselle erscheint nicht zu einem vereinbarten
       Interview. Dann der Paukenschlag. Das „Hessenwetter“ im hr-Fernsehen muss
       ausfallen, die anschließend vorgesehene Ausstrahlung der ARD-Tagesschau
       läuft zeitversetzt. Völlig überraschend für UnterstützerInnen und
       politische GegnerInnen verkündet Geselle live im Fernsehen seinen Rückzug.
       
       ## Geselle beklagt eine „Diffamierungskampagne“ gegen sich
       
       Geselle begründet das mit seiner Familie und mit einer
       „Diffamierungskampagne“, der er und seine Familie ausgesetzt gewesen seien.
       Deshalb werde er nicht zur Stichwahl antreten. Seine Gegner hätten ihn und
       seine Familie sogar mit „Aktionen“ vor seinem Wohnhaus einzuschüchtern
       versucht. Allerdings räumt der Oberbürgermeister auch eigene Fehler ein.
       Bei seiner Wahl zum Stadtoberhaupt hatte er vor sechs Jahren noch 55,6
       Prozent erhalten – 24,1 Prozentpunkte mehr als am Sonntag. Auch dieses
       verlorene Vertrauen nennt er als Grund für seinen überraschenden Rückzug.
       
       Für den [1][Ministerpräsidentenkandidaten der Grünen Tarek Al-Wazir] sind
       das gute Nachrichten aus Kassel. Der Wirtschaftsminister der schwarz-grünen
       Landesregierung will nach der Landtagswahl im Herbst in die Staatskanzlei
       umziehen und seinen bisherigen CDU-Koalitionspartner, Ministerpräsident
       Boris Rhein, beerben.
       
       Tatsächlich ist das Ergebnis vom Sonntag ein [2][Warnschuss für Rhein].
       Seine ehemalige Kabinettskollegin Eva Kühne-Hörmann, die für die Kasseler
       CDU antrat, landete mit 16,8 Prozent chancenlos auf Platz drei. Noch
       schlechter lief es am Sonntag nur für die SPD. Das Ergebnis in Kassel darf
       als Rückschlag für die Ambitionen von SPD-Landeschefin und
       [3][Bundesinnenministerin Nancy Faeser] gewertet werden, selbst nach der
       Landtagswahl am 8. Oktober als Ministerpräsidentin nach Hessen
       zurückzukehren. Sechs Monate vor dem Wahltermin nimmt der Dreikampf um die
       hessische Staatskanzlei nun Fahrt auf.
       
       ## Die SPD stürzte zuletzt in Kassel immer weiter ab
       
       Das Ergebnis der Oberbürgermeisterwahl in Kassel belegt den dramatischen
       Niedergang der SPD in ihrer einstigen Hochburg. In den 15 Jahren von 2006
       bis 2021 hat die SPD bei Kommunalwahlen in Kassel mehr als 40 Prozent ihrer
       WählerInnen verloren. Bereits bei der Wahl 2011 konnten die Grünen die SPD
       als stärkste Partei im Stadtparlament ablösen. Die SPD fremdelt, auch in
       Kassel, mit den urban-studentisch geprägten Stadtteilen und klimabewegten
       Milieus.
       
       Die grün-rote Regierungskoalition im Stadtparlament war 2022 nicht von
       ungefähr am Streit um die Verkehrspolitik zerbrochen. Der grüne
       Verkehrsdezernent hatte damals die Ausweitung von Tempo 30 und die
       Umwidmung von Straßen in Radwege angekündigt. SPD-Mann Geselle, Jurist und
       ehemaliger Polizeibeamter, sah dafür weder rechtliche Grundlagen noch eine
       Mehrheit in der Bevölkerung und entzog dem Grünen die Kompetenzen. Damit
       war die grün-rote Koalition in Kassel Geschichte.
       
       Geselles Versuch, mit der CDU eine Koalition für eine autofreundlichere
       Politik durchzusetzen, scheiterte am Widerstand aus seiner Partei. Seitdem
       führen die Protagonisten der Kasseler SPD die Zerlegung der Partei
       öffentlich vor, mit Schmähschriften und bösen Briefen. Sie alle gehen nun
       als Verlierer vom Platz.
       
       Mit dem Rechtsanwalt Sven Schoeller könnte nun im Juni erstmals ein Grüner
       in das Oberbürgermeisterbüro im Kassler Rathaus einziehen. Eine Formsache
       ist die „Stichwahl“ indes nicht, auch wenn nur ein Name auf dem Stimmzettel
       steht: Nur wenn mehr als 50 Prozent mit „Ja“ für den Kandidaten stimmen,
       ist er gewählt. Sonst gibt es Neuwahlen – und damit ein neues Drama in
       Kassel.
       
       13 Mar 2023
       
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