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       # taz.de -- Comic über die Sternzeichen: Lüsterne Skorpione
       
       > Der neue Comic von Liv Strömquist ist ein lustig-überzeichneter
       > Sternzeichen-Kalender, der nebenbei den Hype um Astrologie erklärt.
       
   IMG Bild: Dialektische Zweifel an der Sternzeichen-Wissenschaft
       
       Spätestens seit Liv Strömquist in „Der Ursprung der Welt“[1][die
       Kulturgeschichte der Vulva erzählte,] gehört die Schwedin zu den
       wichtigsten feministischen Stimmen in der Comicwelt. Mit der ihr eigenen
       Mischung aus schrägem Humor, Theorie und Verweisen aus der Popkultur
       analysiert sie Schönheitsideale („Im Spiegelsaal“), die Liebe in der
       Leistungsgesellschaft („Ich fühl’s nicht“) und [2][Ursachen für stereotype
       Geschlechterrollen („Der Ursprung der Liebe“).]
       
       Dagegen wirkt das Thema ihres neuen Buchs fast enttäuschend harmlos: Es
       handelt von Astrologie. Gerade unter Millennials liegen Horoskope im Trend.
       Astrologie-Apps wie Co-Star geben praktische Lebenshilfe, manche
       Dating-Apps haben eine Funktion, die es erlaubt, potenzielle Dates nach
       Sternzeichen zu filtern.
       
       Astrologie kann aber auch einfach Spaß machen, wenn man menschliche
       Eigenheiten als sternzeichengegeben hinnimmt. Das beweist Strömquist, indem
       sie hemmungslos über die Tierkreiszeichen herzieht. Dass die Graphic Novel
       sich weniger durch eine stringente Handlung auszeichnet als durch
       kalendarisch aneinandergereihte, teils überdrehte Miniaturen, stört dabei
       nicht.
       
       Strömquist nimmt sich berühmte Beispiele vor, etwa den lüsternen Skorpion
       King Charles („Ich will dein Tampon sein“) oder den hartnäckigen Widder
       Jane Goodall, der sich 32 Jahre lang einer Schimpansen-Horde aufdrängt.
       Oder Beyoncé, die den Typus der langweiligen und perfektionistischen
       Jungfrau verkörpert.
       
       Strömquist ist geprägt von der Riot-Grrrl-Bewegung und der
       Do-it-yourself-Kultur von Fanzines der 1990er Jahre. Entsprechend
       punkig-rotzig sind ihre Bildwelten, in die immer mal wieder Fotos montiert
       sind. Ihre Zeichnungen wirken gelegentlich schlicht, zeichentrickartig.
       Dass die berühmten Menschen nicht besonders gut getroffen sind, trägt
       ebenso zum DIY-Charme bei wie die hingekritzelten, oft schiefen
       Textfragmente.
       
       ## Der aufgebrachte Krebs, die perfektionistische Jungfrau
       
       Der exzessive Einsatz von Text ist denn auch Markenzeichen der Autorin –
       nicht selten nehmen Textpanels mehrere Seiten ihrer Bücher ein. Mitunter
       wirft sie ihren Leser*innen aber auch nur Satzbrocken hin. Besonders
       lustig ist das in „Astrologie“, wenn sie mit Stichpunkten arbeitet: So
       zeigt sie einen aufgebrachten Krebs, der die Stirn runzelt und seine
       Scheren in die Seite stemmt, dazu schreibt sie: „Weinen/Umdekorieren“.
       
       Und: „Ist immer noch sauer wegen einer Sache von 1996“. Ein Foto von
       Beyoncé und Jay-Z versieht sie mit den Worten: „Hygiene, gesundes Essen,
       immerzu produktiv, Listen, Ordnung“, und im Gesicht des Rappers scheint
       sich der ganze Horror über das Zusammenleben mit einer perfektionistischen
       Jungfrau auszubreiten. Hier zitiert sie die Machart von Internetmemes,
       schlägt eine Brücke zur Schnelllebigkeit von Online- und
       Social-Media-Welten.
       
       Wie schon in ihrem letzten Comic „Im Spiegelsaal“ sind die Seiten in
       „Astrologie“ koloriert und nicht mehr vorwiegend schwarz-weiß gehalten.
       Jedes Sternzeichen hat seine eigene Farbwelt: Das Kapitel der Waage etwa
       beginnt mit einem zarten Rosa und verwandelt sich in ein immer dunkleres
       Pink, als deutlich wird, dass die vermeintlich so umgänglichen Waagen Kim
       Kardashian und Gwyneth Paltrow ihre Überzeugungskraft einsetzen, um Frauen
       überteuerte Schönheitsprodukte anzudrehen.
       
       Wirkliche Schockwirkung entfaltet das allerdings nicht, denn Strömquist
       macht sich im selben Grad lustig über eine Betrügerin, die mit einem
       erfundenen Krebsleiden Spendengelder einnimmt, wie über den
       Stapelchips-Erfinder Fred Baur, der seine Asche in einer Pringlesdose
       begraben wissen wollte.
       
       Dreht man das Buch um 180 Grad, gelangt man schließlich zum Theorieteil
       dieser Graphic Novel. Einleitend verweist Strömquist dabei auf Gegnerinnen
       ihres Projekts: „Mit Astrologie sollte man sich gar nicht erst befassen“,
       lässt die Autorin ihre Mutter sagen. Auch die Schwiegermutter ist
       skeptisch. Menschen in Kategorien einzuteilen – ob das nicht eine Form von
       Faschismus sei? Da beginnt Strömquist mit der Ursachenforschung und
       ergründet, was Menschen an Horoskopen fasziniert. An dieser Stelle erinnert
       „Astrologie“ eher an jene typisch text- und theorielastige
       Herangehensweise, die man von Strömquist-Comics gewohnt ist.
       
       ## Sternenkunde bei Adorno
       
       Die Politikwissenschaftlerin ordnet den Hype sodann kritisch ein. Mit
       Sigmund Freud bringt Strömquist den Begriff des narzisstischen
       Abwehrmechanismus ins Spiel; jenen Verteidigungstechniken des Ichs, mit
       denen sich insbesondere Anna Freud später ausgiebig beschäftigte. Ein
       ebensolcher narzisstischer Abwehrmechanismus könne die Astrologie sein,
       schreibt sie mit Verweis auf den Philosophen [3][Theodor W. Adorno, der
       die Sternenkunde als „Pseudo-Vernunft“ bezeichnete]: Nicht das eigene
       Verhalten ist Schuld am Scheitern der Beziehung, sondern Merkur, der
       zurzeit leider rückläufig ist.
       
       Apropos Narzissmus: In einer ichbezogenen Gesellschaft könne die Astrologie
       ein willkommener Anlass sein, sich obsessiv mit sich selbst zu
       beschäftigen, überlegt Strömquist. „Wer bin ich?“, fragt ein an Edvard
       Munch angelehnter Wassermann mit Aszendent Krebs und Mond im Schützen, mit
       einem Seitenhieb in Richtung Identitätspolitik.
       
       Strömquist bezieht sich auch auf den Soziologen Aris Komporozos-Athanasiou,
       dem zufolge Horoskope in einer unsicheren Zeit Antworten bieten könnten. In
       einer übergroßen Sprechblase fragt er: „Was aber, wenn die Antwort, nach
       der wir jetzt suchen, die Unsicherheit selbst ist?“ In einer Gesellschaft,
       in der so vieles auf Spekulation basiere – vom Finanzsystem bis zu
       Dating-Apps –, tendierten Menschen dazu, ebenfalls spekulativ zu handeln.
       
       Zentral für die Graphic Novel sind diese theoretischen Ausführungen
       allerdings nicht. Komporozos-Athanasiou, Freud und Kollegen bleiben
       kritische Ergänzung. Obwohl Strömquist die Sternzeichen-Vertreter*innen
       schonungslos überzeichnet, erhebt sie sich an keiner Stelle über jene, die
       an Astrologie glauben. Ziel ihres Buches ist es nicht, Sternzeichen als
       Unsinn zu entlarven. Stattdessen zeigt sie auf gelungene Weise, dass
       Astrologie dabei helfen kann, sich und andere nicht allzu ernst zu nehmen.
       Ob man am Ende lieber auf Adorno oder den Merkur hört, bleibt ohnehin jedem
       selbst überlassen.
       
       3 Apr 2023
       
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