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       # taz.de -- Autor Franzobel über „Einsteins Hirn“: „Faszinierend und erschütternd“
       
       > In seinem Roman „Einsteins Hirn“ beschäftigt sich der österreichische
       > Autor Franzobel mit einem besessenen Pathologen und dem Unbegreiflichen.
       
   IMG Bild: Albert Einstein in Princeton, USA, 1954
       
       Der [1][österreichische Schriftsteller Franzobel] befasst sich in seinem
       neuen Roman „Einsteins Hirn“ mit der wahren Geschichte des Pathologen
       Thomas Stoltz Harvey, der über 40 Jahre Einsteins Hirn in seinem Keller
       stehen hatte, um es wissenschaftlich zu untersuchen. Eingebettet in
       historisch Belegtes entwickelt Franzobel mit viel Fantasie einen Plot, bei
       dem das Hirn zu sprechen beginnt und drei Ehen des Romanhelden zum
       Scheitern bringt. 
       
       taz: Herr Franzobel, muss man als Autor heutzutage Rechtsanwälte
       hinzuziehen, um nicht gerichtlich belangt zu werden? Sie unterstellen ja
       realen Personen ehrenrühriges Verhalten. 
       
       Franzobel: Inwiefern?
       
       Einsteins Nachlassverwalter Otto Nathan wird zum Beispiel als Grabscher
       dargestellt. 
       
       Das ist eine schwierige Frage. Über Personen von öffentlichem Interesse
       darf man schreiben. Über Thomas Harvey existiert schon einiges, also, sagt
       meine Agentin, darf man ihn auch zum Helden eines Romans machen. Bei
       Fiktion ist es schwierig zu unterscheiden, was ist faktenbasiert, was
       Fantasie. Grundsätzlich versuche ich, möglichst authentisch zu schreiben,
       aber irgendwann verselbstständigt sich eine Geschichte und folgt ihren
       eigenen Gesetzen. Am Ende weiß ich oft selbst nicht mehr, habe ich das
       jetzt erfunden oder aus Quellen übernommen. Bei meiner Art von historischer
       Fiktion ist aber klar, es ist ein Roman und kein Sachbuch.
       
       Sie haben in den USA recherchiert und Leute getroffen, die Harvey gekannt
       haben. Er war dreimal verheiratet. Hatten Sie Kontakt zu den drei Söhnen
       und zwei Töchtern? 
       
       Das habe ich bewusst vermieden, aber in Lawrence, Kansas, konnte ich Leute
       treffen, die ihn gekannt haben. Einer war Quäker wie Harvey, ein anderer
       hat mit ihm in einer Plastikfabrik gearbeitet und ein dritter in einem
       Gefängnis, wo Harvey ein paar Jahre lang Anstaltsarzt gewesen ist. Ich
       hatte schon so genug Respekt vor ihm. Seine Söhne und Töchter zu treffen,
       hätte mich moralisch korrumpiert.
       
       Wie sind Sie überhaupt auf diesen Stoff gekommen? 
       
       Ein Theaterdirektor hat das en passant erwähnt, und ich habe sofort
       gewusst, das ist ein großartiger Stoff, über den ich schreiben muss. Also
       habe ich Einstein-Biografien und Physikbücher gelesen. Von einer Kanadierin
       gibt es ein Sachbuch über Thomas Harvey mit dem Hirn. Außerdem einen
       Amerikaner, der einen Road-Trip mit Harvey beschreibt. Aber ich habe auch
       die „Göttliche Komödie“ von Dante oder Bücher über Hinduismus und die
       Hirnforschung gelesen.
       
       In Ihrem Roman beginnt das Hirn zu sprechen. Wäre es ohne diesen Kunstgriff
       überhaupt möglich gewesen, eine plausible Geschichte zu erzählen? Darüber,
       dass der Mann 40 Jahre mit dem Hirn im Glas herumrennt? 
       
       Harvey hat ja wirklich 42 Jahre lang damit gelebt. Zuerst unter dem
       Vorwand, dass er sich damit als Wissenschaftler profilieren kann. Dann hat
       er aber rasch gemerkt, dass das mit seiner Ausbildung unmöglich ist, wobei
       überhaupt schwer vorstellbar ist, wo und wie man Genialität feststellen
       könnte. Später hat er sich einfach geweigert, es herzugeben, hat Ausreden
       erfunden, sich verleugnen lassen, ist untergetaucht. Alle Angebote, es
       teuer zu verkaufen, hat Harvey abgelehnt, obwohl das Hirn meist irgendwo
       weggeräumt war – in der Besenkammer oder in der Toilette bei den
       Putzmitteln.
       
       Das real existierende Hirn haben Sie auch gesehen? 
       
       Nein, ich weiß gar nicht, wo das gelandet ist. Harvey hat es dem Spital in
       Princeton zurückgegeben, aber das existiert jetzt nicht mehr. Die
       plastifizierten Hirnblättchen sind an einer Universität in Philadelphia,
       aber wo das Hirn ist, weiß ich nicht. Das Spital, in dem Einstein gestorben
       und obduziert worden ist, musste einem Wohnblock weichen. Alle
       Institutionen, denen Harvey das Hirn angeboten hat, wollten es nicht, mit
       dem Argument, das stiehlt den anderen Exponaten die Show. Auch in Israel
       war man daran nicht interessiert.
       
       Sie sind bekannt dafür, dass Sie die Schauplätze Ihrer Handlung bereisen.
       Inwieweit haben Sie sich mit Physik befasst, wo sind Sie hingereist? 
       
       Ich habe das CERN besucht und viele Physikbücher gelesen. Bei den
       populärwissenschaftlichen Sachen komme ich halbwegs mit, aber sobald es mit
       den Formeln überhandnimmt, wird es mir zu kompliziert.
       
       Es heißt ja, die Physiker sind heute die wahren Philosophen. Sehen Sie das
       auch so?
       
       Durch die moderne Physik wird unsere Gewissheit, die der Hausverstand
       vermittelt, komplett in Frage gestellt. Es gibt ja nichts mehr: Zeit und
       Raum sind relativ und es hat vor dem Urknall einen Zustand gegeben, wo
       weder Zeit noch Raum existiert haben, was unser Vorstellungsvermögen
       sprengt. Oder diese Unermesslichkeit des Universums. Schwarze Löcher! Die
       Idee, dass es mehrere Universen gibt oder elf Dimensionen, wie Einstein
       sagt. Alles Dinge, die mich metaphysisch berühren. Physik ist faszinierend
       und erschütternd, ein eigenes Glaubenssystem, für den Normalbürger aber
       nicht zu begreifen.
       
       Der fromme Quäker versucht Einsteins agnostischen Geist, der über das Hirn
       mit ihm spricht, zum Glauben zu bekehren. Wie viel Einstein spricht denn
       aus dem Hirn? Gibt es dazu Quellen in religionsskeptischen Bemerkungen, in
       Tagebüchern, Schriften, Briefen von Einstein? 
       
       Da gibt es einiges. Einstein hatte eine sehr persönliche Religiosität. Ich
       zitiere nicht wortwörtlich, aber der Einstein’sche Geist, der da aus dem
       Hirn spricht, ist schon spürbar. Er hatte eine Sehnsucht nach einer
       göttlichen Ordnung, weshalb er sich gegen manche Erkenntnisse der
       Quantenphysik fast kindisch gewehrt hat, weil die seiner Vorstellung vom
       Universum zuwiderliefen, auch wenn sie mathematisch richtig sein mochten.
       
       Hätte Harvey, wäre er ein kompetenter Wissenschaftler gewesen, aus dem Hirn
       des Genies etwas herauslesen können, was die Genialität Einsteins erklären
       würde? 
       
       Nein. Eine Wissenschaftlerin hat herausgefunden, dass Einsteins Hirn
       vermehrte Gliazellen hatte. Aber die sind nichts anderes als ein
       Bindemittel zwischen den Zellen. Ich glaube, es ist nach wie vor schwer
       feststellbar, wo Kreativität, Fantasie oder Genialität im Hirn stecken.
       Außerdem stellt sich die Frage, ob ein derartiger Nachweis überhaupt
       sinnvoll wäre. Letztlich sollte jeder Mensch wertvoll sein, ganz egal, wie
       viel Hirnschmalz er hat.
       
       Eine Schlüsselszene ist der Gastvortrag an der Universität in Chicago, wo
       Harvey davor gerettet wird, seine wissenschaftliche Unfähigkeit entblößen
       zu müssen, weil die Studenten ihn in ihrer Empörung über den
       Untersuchungsgegenstand nicht zu Wort kommen lassen. 
       
       Natürlich ist das eine Persiflage der gegenwärtigen Woke-Kultur.
       
       Ihre Akteure benutzen das N-Wort recht großzügig. 
       
       Ich habe darauf geachtet, dass diese Wörter nur in der direkten Rede
       auftauchen. Um das Zeitgefühl einzufangen, ist das wichtig. Insgesamt bin
       ich aber vorsichtiger geworden und versuche, Leute nicht unnötig vor den
       Kopf zu stoßen. Aber natürlich bleibt es eine Gratwanderung, ich gehe schon
       immer bis an die Grenzen des noch Erlaubten.
       
       29 Mar 2023
       
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