URI: 
       # taz.de -- Bürgermeisterwahl in Chicago: Gute Kinder, böse Stadt
       
       > 695 Menschen wurden 2022 in Chicago getötet. Bei der Wahl des neuen
       > Bürgermeisters dreht sich alles um die Frage: Was tun gegen die Gewalt?
       > Die einen wollen mehr Polizei, die anderen wollen sie abschaffen.
       
   IMG Bild: Chicago ist die drittgrößte Stadt der USA. Kann man hier auf die Polizei verzichten?
       
       Die erste Schusswaffe hatte Camiella Williams mit elf Jahren. Ein
       9-mm-Kaliber, für 25 Dollar vom Taschengeld gekauft. Nichts Besonderes in
       Englewood, sagt sie. Hatten die Jungs ja auch.
       
       Wenn sie die anderen einschüchtern wollte, holte sie die Pistole aus ihrem
       Rucksack und wedelte damit herum. Muss sie sich abgeguckt haben, sagt
       Williams. Wer zu einer Gang gehört, sorgt besser für Angst, als sie zu
       zeigen.
       
       In Englewood gibt es kein Leben ohne Gewalt. Gewalt ist draußen und
       zwischen den Menschen und irgendwann auch in einem drin, sagt Williams. Als
       Trauma, kalt und glühend. Man weiß, dass Personen, die schwere physische
       Gewalt ausüben, fast immer selbst Gewalt erfahren haben. In Englewood
       erlebt man es.
       
       Wer mit Camiella Williams, die heute 35 Jahre alt ist, zwei Söhne hat und
       als Lehrerin arbeitet, durch ihre alte Heimat im Süden von Chicago fährt,
       spürt, wie sehr sie an Englewood hängt. Sie zeigt auf den Kiosk, an dem sie
       damals Fruchtgummis für 75 Cent kaufte, die Marke, die sie jetzt immer noch
       holt. Sie erzählt vom Shoppingcenter, das es nicht mehr gibt, Evergreen
       Plaza, „von allen nur Everblack genannt“. Erinnerungen an jeder Ecke. Und
       an jeder zweiten nennt sie einen neuen Namen.
       
       Deonte. Rekia. Porshe. Terrell. Starkesia. Tyshawn.
       
       Wie viele Menschen sie in ihrem Leben durch Gewalttaten verloren hat? „Es
       müssten über 50 sein.“ Freundinnen, Cousins, Lehrerinnen, Bekannte.
       
       „An manchen Tagen weiß ich einfach nicht mehr weiter“, sagt Williams, als
       sie an einer Ampel hält. Angst, schiebt sie wie im Reflex hinterher, habe
       sie aber keine. Williams zeigt links neben sich auf das kleine Fach in der
       Autotür. Dort liegt ihre Pistole. Dass Selbstbewaffnung keine langfristige
       Lösung ist, muss man ihr nicht erzählen. Kaum jemand weiß das besser als
       sie.
       
       ## ***
       
       Wenn Chicago, mit 2,7 Millionen Einwohner*innen die drittgrößte Stadt
       der USA, am 4. April einen neuen Bürgermeister wählt, wird die Southside
       eine entscheidende Rolle spielen. Es sind allerdings nicht die Leute in
       Englewood, ihre Perspektiven, die im Mittelpunkt der Debatten stehen.
       Maßgebend ist auch nicht in erster Linie die Gewalt, die sich hier durch
       Armut, fehlende Angebote und oft rassistische Repressionen der Polizei ins
       Leben der Menschen drückt und dann zwischen ihnen explodiert. Gewalt wird
       von den politischen Verantwortlichen als Problem nur sehr selektiv
       wahrgenommen.
       
       [1][Das dominierende Thema dieser Wahl ist Crime, also Kriminalität.] 
       
       Kriminalität und Gewalt haben natürlich etwas miteinander zu tun, aber es
       sind doch ganz verschiedene Denkgrößen, verschiedene Rahmen. Besonders
       deutlich wird das in Vierteln wie Englewood, wo das Label „crime hotspot“
       eine Auseinandersetzung mit den Ursachen von Gewalt geradezu verhindert.
       
       2022 wurden in Chicago 695 Menschen getötet. Im Jahr davor waren es 804. So
       hoch waren die Zahlen zuletzt in den 90er Jahren. Dass die Zahl der
       Straftaten in den vergangenen Jahren laut Polizei gestiegen ist, wird vor
       allem mit der Pandemie erklärt. 2022 wurden pro Tag durchschnittlich 59
       Autodiebstähle gemeldet. Schießereien gehören zur Normalität. Laut
       aktueller Umfragen fühlen sich zwei Drittel der Einwohner*innen von
       Chicago unsicher.
       
       Hat man diese Statistiken im Kopf, überrascht es kaum, dass das Thema den
       Wahlkampf bestimmt. Und doch ist dieses Jahr etwas Besonderes. Zum ersten
       Mal seit Jahrzehnten gibt es einen aussichtsreichen Kandidaten auf das
       höchste Amt der Stadt, der anders über Gewalt und Kriminalität nachdenkt –
       der nicht noch mehr Polizei in Viertel wie Englewood schicken will, sondern
       im Gegenteil, so viele Beamt*innen wie möglich durch
       Sozialarbeiter*innen, Therapeut*innen und Lehrer*innen ersetzen
       will.
       
       ## Linker Wandel oder Recht und Ordnung?
       
       Brandon Johnson heißt der Mann, der einen linken Wandel für Chicago
       anstrebt. Der 47-jährige Afroamerikaner war Lehrer an einer öffentlichen
       Schule und Gewerkschaftsaktivist, bevor er Politiker wurde. Aktuell sitzt
       er im Parlament von Cook County, so heißt der Verwaltungsbezirk, in dem
       Chicago liegt. Johnson wohnt mit seiner Familie in Austin, einem
       überwiegend prekären Viertel im Westen der Stadt. Er weiß, wie sich Schüsse
       aus der Nähe anhören. Und er gibt zu, dass er manchmal Angst hat, wenn
       seine Kinder draußen spielen.
       
       „Glaubt mir“, sagt Johnson bei jeder Gelegenheit, „mir liegt persönlich
       daran, dass wir das Problem lösen“.
       
       Sein Kontrahent, der 69-jährige Paul Vallas, will keinen Bruch, sondern den
       Strafapparat weiter ausbauen. Vallas war in den vergangenen Jahrzehnten in
       verschiedenen US-Metropolen als Chef der Schulbehörde im Einsatz und sorgte
       in Chicago, Philadelphia und New Orleans dafür, dass Teile des
       Bildungssystems privatisiert wurden. Statt großflächig in öffentliche
       Schulen zu investieren, ließ Vallas sogenannte Charter Schools eröffnen,
       die von privaten Trägern gemanagt werden. Darüber hinaus führte er rigidere
       Teststandards ein und kürzte beim Rentenfonds der Lehrer*innen.
       
       Damit Chicago zurück zu „Gesetz und Ordnung“ kommt, will Vallas Tausende
       weitere Polizist*innen einstellen. Mit diesem Versprechen konnte er im
       ersten Wahlgang Ende Februar vor allem die wohlhabenden, überwiegend weißen
       Wähler*innen im Zentrum und im Norden Chicagos überzeugen. Vallas
       landete – bei einer Wahlbeteiligung von nur 36 Prozent – vor Johnson auf
       Platz eins. Amtsinhaberin Lori Lightfoot, die in ihren vier Jahren im
       Rathaus weitestgehend orientierungslos agierte, stürzte ab.
       
       In der Stichwahl kommt es nun zu einem Duell der politischen Visionen.
       Johnson und Vallas sind zwar beides Demokraten, könnten aber innerhalb der
       Partei kaum weiter voneinander entfernt stehen. Der eine kommt aus der
       Bewegung, der andere aus der Bürokratie. Der eine wird von progressiven
       Graswurzelgruppen unterstützt, der andere von der Polizeilobby. Er sei
       „mehr ein Republikaner als ein Demokrat“, hat Vallas mal über sich gesagt.
       
       ## Es funktioniert
       
       Von Bedeutung ist diese Wahl weit über die Grenzen von Chicago hinaus. Der
       Umgang mit Gewalt ist eine zentrale Frage der amerikanischen Politik.
       Republikaner und rechte Medien haben in den vergangenen Jahren – auch als
       Antwort auf die Schwarzen, linken Massenproteste im Sommer 2020 nach dem
       Mord an George Floyd durch einen weißen Polizisten – ihre Crime Panic
       intensiviert: Weil die Demokraten in den Städten nicht hart genug
       regierten, versinke das Land im Chaos, lautet ihre Erzählung.
       
       Das Unheimliche an der Crime Panic ist, dass sie nichts löst und trotzdem
       funktioniert: Die meisten Demokraten lassen sich bereitwillig treiben,
       mindestens so oft treiben sie die Aufrüstung selbst voran. Es gilt: Auf
       keinen Fall soft on crime wirken. Präsident Joe Biden hat das Polizeibudget
       insgesamt um mehrere Milliarden erhöht. Seinem Plan nach sollen in den
       kommenden Jahren 100.000 neue Polizist*innen eingestellt werden.
       
       In Chicago, ausgerechnet dort, könnte nun ein Gegenexperiment beginnen.
       Johnson verspricht zwar keinen radikalen Abbau der Polizei, aber einen
       radikalen Wandel im Umgang mit der Gewalt. Sollte er gewinnen, hätte die
       linke Bewegung Macht demonstriert – und stünde sofort unter enormen Druck.
       Sie müsste gegen alle Widerstände beweisen, dass es anders geht.
       
       ## ***
       
       Wenn Camiella Williams lacht, und ihre Zahnlücke zum Vorschein kommt, dann
       wirkt sie mit ihrem runden Gesicht für einen kurzen Moment wie ein Kind.
       Das passiert nicht oft an diesem Nachmittag.
       
       Sie trägt einen blauen Kapuzenpullover, auf dem „GoodKidsMadCity“ steht, so
       heißt die Community-Organisation, bei der sie als Mentorin arbeitet. Der
       Name ist eine Anspielung auf Kendrick Lamars legendäres Album, natürlich
       ist es auch eine politische Botschaft: Nicht die Kids sind das Problem,
       sondern die Umstände, in die sie geworfen werden.
       
       GoodKidsMadCity wurde 2018 in Englewood gegründet, mehrere hundert
       Jugendliche sind dort mittlerweile aktiv. Sie treffen sich, um über
       Konfliktlösungen zu sprechen, organisieren Basketballturniere und Proteste,
       unterstützen die Angehörigen von Gewaltopfern. Sie setzen sich dafür ein,
       dass in ihre Nachbarschaften investiert wird: neue Jobs, bessere Bildung,
       Zugang zu Gesundheitsversorgung, mehr Sportplätze. Sie wollen Gewalt
       präventiv entgegenwirken. Und sie fordern eine Abschaffung der Polizei.
       
       Williams versucht, ihre Erfahrung an die jungen Aktivist*innen
       weiterzugeben. Sie sagt ihnen nicht: Gebt eure Waffen weg. Sie sagt: Fangt
       keinen Streit an. Sie fordert nicht: Verlasst eure Gangs. Sie weiß: So was
       passiert nicht einfach so. „Ich nehme sie ernst“, so Williams, „indem ich
       ihnen meine Verletzbarkeit zeige.“
       
       Williams war zehn, als ihr Vater an Aids starb. Ihre Eltern waren da schon
       eine Weile geschieden. Dann erfuhr sie, dass ihre Mutter Brustkrebs hat. Zu
       viel für ein Kind, sagt sie, vor allem, wenn es keine professionelle Hilfe
       bekommt. Williams suchte Prügeleien, egal mit wem. In der High School fing
       sie an, mit Drogen zu dealen, schloss sich einer Gang an, deren Namen sie
       lieber nicht verraten möchte. Sie entwickelte eine „Vorliebe zur Gewalt“,
       wie sie im Rückblick sagt.
       
       ## Die Bewegung ist stark
       
       Im März 2006, Williams war 19 und zum ersten Mal schwanger, wurde ein
       14-jähriges Mädchen in der Nachbarschaft durch einen Irrläufer eines
       Sturmgewehrs getötet. „Sie bringen jetzt auch Kinder um?“ Williams wusste,
       dass sie irgendwie rausmuss. Sie wandte sich an den Pastor der
       St.-Sabina-Kirche, deren angeschlossene Schule Williams besucht hatte.
       Zusammen installierten sie vor dem Gebäude eine Gedenkwand mit Fotos von
       getöteten Jugendlichen aus Chicago. Knapp 200 Bilder hängen dort heute in
       sechs Glasvitrinen. Für Williams war es der Einstieg in den Aktivismus.
       
       Sie zog aus Englewood in einen Vorort südlich der Stadt, schrieb sich in
       ein Community-College ein. In den folgenden Jahren trat sie verschiedenen
       aktivistischen Gruppen bei. Black Lives Matter nahm seinen Lauf. Der Glaube
       an eine Reform der Polizei war damals noch da.
       
       „Als ich als politische Organizerin angefangen habe, wurde mir beigebracht,
       dass man seine Wut besser nicht zeigt“, sagt Williams. „Die Kids von heute
       sind zum Glück radikaler.“
       
       Und in kaum einer Stadt ist die Bewegung so stark wie in Chicago.
       
       Neben GoodKidsMadCity gibt es in der Windy City, so Chicagos Spitzname,
       diverse Organisationen, die für den Abolitionismus kämpfen, also die
       Überwindung von Polizei und Gefängnissen. Da wäre zum Beispiel das Project
       NIA, von der Vordenkerin Mariame Kaba initiiert, das sich dafür einsetzt,
       Kinder und Jugendliche aus dem Strafsystem zu holen. Da wären Assata’s
       Daughters, benannt nach der Schwarzen Freiheitskämpferin Assata Shakur, die
       politische Bildung anbieten und Aktivist*innen trainieren. Auch
       Kollektive wie BYP100, Love & Protect oder das Rampant Magazine setzen sich
       dafür ein, den jetzigen Strafapparat obsolet zu machen.
       
       Chicago ist wieder einmal Wegbereiter. So war es ja schon im 19.
       Jahrhundert, als dort Zehntausende Arbeiter*innen für einen
       Acht-Stunden-Tag kämpften und damit den Tag der Arbeit aus der Taufe hoben.
       So war es in den 1960er Jahren, als Fred Hampton die revolutionäre Rainbow
       Coalition ins Leben rief. So war es auch 2012, als Zehntausende
       Lehrer*innen – organisiert durch die Gewerkschaft CTU – streikten und
       damit der amerikanischen Arbeiter*innenbewegung Schwung verpassten.
       In Chicago sitzt der linke Verlag Haymarket Books, benannt nach dem
       blutigen Aufstand 1886. Hier findet auch die alljährliche
       Sozialismuskonferenz statt. Chicago ist die Stadt, in der eine
       wiedererstarkte Gewerkschaftsmacht auf einen Schwarzen, linken Feminismus
       trifft. Sollte Johnson die Wahl zum Bürgermeister gewinnen, hätte er das
       vor allem der Graswurzel-Organisierung der vergangenen Jahre zu verdanken.
       
       ## ***
       
       Als Johnson und Vallas Mitte März in einem dicht besetzten Saal der
       University of Illinois im Zentrum Chicagos über öffentliche Sicherheit
       diskutieren, wird der Unterschied zwischen den Kontrahenten sofort
       sichtbar.
       
       Johnson schwingt sich locker auf die Bühne, deutet mit dem Zeigefinger ins
       Publikum, hey, hey, hey. Er ruckelt sich auf einer Mischung von Barhocker
       und Dekostück zurecht, was gar nicht so einfach zu sein scheint. „Kann mal
       jemand einen Stuhl für die arbeitende Klasse bringen?“ Die Leute lachen.
       
       „Die sichersten Städte der Welt haben eine Sache gemeinsam: Sie investieren
       in die Menschen“, sagt Johnson und nennt zwei Rechtsverordnungen, die er
       als Bürgermeister durchsetzen will, durch Steuererhöhungen für Reiche
       finanziert: Im „Peace Book“ steht, dass vom 2 Milliarden Dollar schweren
       Polizeibudget 35 Millionen abgezogen und in Jugendprogramme gesteckt
       werden. Die „Treatment Not Trauma“-Gesetzesinitiative hat das Ziel,
       geschlossene psychiatrische Einrichtungen wieder zu eröffnen und eine neue
       Krisenhotline einzuführen.
       
       Vallas wirkt dagegen blass und verbissen, er redet zu schnell und
       verhaspelt sich oft. Immer wieder spricht er von „Community“, doch das
       kauft ihm hier niemand ab. Die rund 2.000 Zuschauer*innen bestrafen
       Vallas’ Forderung nach mehr Polizei mit Unmut.
       
       Nimmt man nur diesen Abend zum Maßstab, müsste Johnson am 4. April haushoch
       gewinnen. Doch die Stimmung im Saal der Uni spiegelt die Stimmung in der
       Stadt nur bedingt wider. Vallas lag bei der ersten Wahl im Februar
       schließlich vorne, in aktuellen Umfragen liegen die beiden Kopf an Kopf.
       Ein Großteil der Bevölkerung unterstützt zwar deutliche Reformen. Für eine
       Abschaffung von Polizei und Gefängnissen finden sich aber keine Mehrheiten.
       
       Noch nicht, sagen Aktivist*innen.
       
       Wer sich in den USA gegen Polizei und Gefängnisse einsetzt, hat viele
       Gegner. Einer davon ist die amerikanische Geschichte. Man hat es mit
       Jahrhunderten zu tun, in denen diese Institutionen physisch und ideologisch
       in der Gesellschaft verankert wurden. Man ist mit einer „Kultur der
       Kontrolle“ konfrontiert, wie der Kriminologe David W. Garland die
       Kombination von neoliberaler Austeritätspolitik, Solidaritätszerfall und
       Vergeltungsmentalität nennt. Man muss auch dagegen ankämpfen, dass viele
       Reformen in den vergangenen Jahrzehnten die Straf-und-Überwachungslogiken
       in andere Bereiche wie die Bildung übertragen haben. Niemand Geringeres als
       der jetzige Bürgermeisterkandidat Vallas führte in den 1990er Jahren eine
       „Null-Toleranz-Regel“ für Chicagos Schulen ein: Wer Ärger machte, wurde
       schnell suspendiert. Auch die Zahl der Cops in den Schulen ist gestiegen.
       
       ## „Wir leben in einer Strafgesellschaft“
       
       Die wohl größte Herausforderung für die abolitionistische Bewegung könnte
       jedoch darin liegen, verlässliche Sicherheitsstrukturen jenseits der
       jetzigen Institutionen zu entwickeln. Wen ruft man an, wenn man bedroht
       wird? Wie schützt man Menschen, die Opfer von Gewaltverbrechen wurden? Wie
       könnte ein System aussehen, in dem Täter Verantwortung übernehmen? Will der
       Abolitionismus Mehrheiten, muss er für diejenigen funktionieren, die
       primär unter Gewalt leiden: arme und nichtweiße Menschen, Frauen und
       Queers.
       
       Abolitionistische Organisationen haben in zahlreichen US-Städten bereits
       Verfahren der „restaurativen Gerechtigkeit“ entwickelt. Was das bedeutet?
       Statt Gewalttäter wegzusperren, nehmen sie an langfristigen Programme teil,
       zu denen psychologische Betreuung, Community-Arbeit und Gesprächskreise
       gehören – oftmals mit den Opfern, wenn diese dazu bereit sind. Laut Studien
       ist die Rückfallquote bei solchen Bedingungen deutlich geringer. Ein großer
       Teil der Opfer sagt, dass sie am Ende der Verfahren ein Gefühl von
       wirklicher Gerechtigkeit spüren.
       
       In den USA gibt es zudem auch immer mehr Politiker*innen, die sich zur
       abolitionistischen Bewegung zählen. Robin Wonsley ist eine davon, sie sitzt
       im Stadtrat von Minneapolis. Tiffany Caban eine andere, sie ist Teil des
       Parlaments von New York City. In verschiedenen Städten, unter anderem in
       Philadelphia, sind Bezirksstaatsanwälte im Einsatz, die zwar keine
       Abschaffung des derzeitigen Apparats wollen, aber immerhin Strafmaße
       verringern und Drogen entkriminalisieren.
       
       Wie es aussehen könnte, wenn die Regierung selbst Abolitionismus betreibt,
       kann man im Norden Chicagos beobachten – zumindest im Kleinen. Dort, im 33.
       Wahlbezirk, wo rund 55.000 Menschen leben, wurde 2019 die Kommunistin
       Rossana Rodriguez zur Stadträtin gewählt. Sie hatte sich in den Jahren
       zuvor einen Namen als Community-Organizerin und Leiterin eines lokalen
       Theaters gemacht. Um sich herum hat Rodriguez nun ein Team von Linken, das
       auf unorthodoxe Weise den Bezirk führt.
       
       „Wir leben in einer Strafgesellschaft“, sagt einer aus diesem Team, Eric
       Ramos, „und da kommen wir nur dialektisch raus.“ Heißt: Schritt für Schritt
       aus der alten Welt das Neue entwickeln.
       
       Der 33-jährige Ramos ist seit Herbst Superintendent des Bezirks, eine Art
       Hausmeister für alle also. Früher war diese Position Prestige, erzählt er.
       Heutzutage weiß kaum noch jemand, dass es sie gibt. Ramos, der zuvor als
       Stahlbauarbeiter arbeitete, interpretiert den Job des Superintendenten
       anders als seine Vorgänger: aktiver, sorgender, politischer.
       
       ## Ramos ist der Staat
       
       Zu seiner Arbeit gehört einerseits Bürokratie, zum Beispiel vermittelt
       Ramos zwischen Behörden wie der Müllabfuhr und dem Schneedienst. Der andere
       Teil seiner Arbeit ist eine Form von Beziehungsarbeit. Ramos fährt mit
       seinem weißen Truck durch den 33. Bezirk und schaut, wo er versöhnend
       eingreifen kann, ohne dass die Polizei eingeschaltet wird. Er kümmert sich,
       wenn Nachbarn heftig streiten, versucht die Rechte von Mieter*innen
       durchzusetzen. Er besucht Häuserblocks, wenn es dort eine Schießerei gab,
       um zu fragen, wie es den Leuten geht. Und er wird irritiert angeschaut,
       wenn er das tut. Von der Verwaltung sind sie so etwas nicht gewöhnt.
       
       Besonders wichtig ist Ramos der Kontakt zu den obdachlosen Menschen in
       seinem Bezirk. „Wer auf der Straße lebt, wird kriminalisiert“, sagt er.
       „Nach dem Gesetz darf es obdachlose Menschen gar nicht geben.“ Als im
       Februar ein junger, wohnungsloser Mann namens Russell starb, fand Ramos in
       dessen Handy, das er ihm besorgt hatte, nur einen gespeicherten Kontakt:
       „Es war meine Nummer.“
       
       Man könnte nun einwenden, dass Ramos das macht, was unzählige Ehrenamtliche
       auch machen. Sie helfen, wo der Staat versagt. Was also ist hier besonders?
       Der Unterschied liegt darin, dass Ramos gerade der Staat ist.
       
       Als Teil der Bezirksverwaltung steht sein Job unter demokratischer
       Kontrolle, er wird vernünftig bezahlt und ist weder von Einzelspenden
       noch von Fördergeldern abhängig. In dieser Position, vor allem wie Ramos
       sie interpretiert, zeigt sich also nicht weniger als eine neue Idee von
       Staat. Weg von einer Politik des Kontrollierens und Bestrafens, die die USA
       schon so lange prägt. Hin zu einer Politik, die Gewalt tatsächlich ernst
       nimmt.
       
       Genau in diese Richtung will Bürgermeisterkandidat Johnson nun mit der
       ganzen Stadt. Beim Forum zur öffentlichen Sicherheit vor ein paar Wochen
       versprach er, Chicago zum Vorreiter zu machen – und definierte damit gleich
       mal die Fallhöhe. „Wenn wir das hier in Chicago schaffen“, so Johnson,
       „schaffen wir es überall.“
       
       4 Apr 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Shooting-Epidemic-in-den-USA/!5814293
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lukas Hermsmeier
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Waffen in den USA
   DIR Chicago
   DIR USA
   DIR Kriminalität
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR GNS
   DIR American Pie
   DIR USA
   DIR Schwerpunkt Waffen in den USA
   DIR Waffengesetze
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Schüsse bei Superbowl-Parade: Vom Ende der Leichtigkeit
       
       Die Schüsse bei der Superbowl-Parade nehmen dem US-Sport eine bislang
       besondere Immunität. Das wird die Atmosphäre in den Stadien verändern.
       
   DIR Nach Rauswurf zweier US-Abgeordneter: „Keine Demokratie in Tennessee“
       
       Die republikanische Mehrheit in Tennessee zwang zwei afroamerikanische
       Demokraten, ihre Parlamentssitze aufzugeben. Einer darf vorläufig zurück.
       
   DIR Mass Shooting zum Mondneujahrsfest: Waffengewalt ist Alltag
       
       In den USA tötete ein 72-Jähriger zehn Menschen, anschließend sich selbst.
       Es heißt, sein Motiv sei unklar – aber ist Massenmord nicht Motiv genug?
       
   DIR Waffengesetz in den USA: Senat billigt kleinen Kompromiss
       
       Mit einer klaren Mehrheit stimmt der US-Senat für eine Änderung des
       bestehenden Waffengesetztes – allerdings nur eine gerüngfügige.
       
   DIR „Shooting Epidemic“ in den USA: Schüsse, Schuld und Sühne
       
       In Philadelphia setzt ein Staatsanwalt auf Prävention statt auf Haft. Doch
       die Zahl der Schießereien steigt drastisch. Sind seine Reformen
       gescheitert?