URI: 
       # taz.de -- Aktivismus in Kolumbien: Eine Frage des Überlebens
       
       > Der Aktivist Juan Pablo Gutierrez kämpft gegen Kolonialismus und musste
       > dafür fast mit dem Leben bezahlen. Heute lebt er im Pariser Exil.
       
   IMG Bild: Der Kohlegegner und Aktivist Juan Pablo Gutierrez aus Kolumbien in Lützerath im Oktober 2021
       
       Heiß ist es im August 2022 in Hamburg. Die Sonne brennt vom wolkenlosen
       Himmel, das Gras im Volkspark, wo in diesen Tagen ein [1][Camp der
       Klimabewegung] stattfindet, ist gelb und vertrocknet. Ein Zirkuszelt
       spendet zumindest etwas Schatten. Vor Journalist*innen geben dort
       mehrere Sprecher*innen klimapolitischer Gruppen vorbereitete
       Stellungnahmen ab, es geht um [2][Klimaschutz, Neokolonialismus und den
       Globalen Süden].
       
       Dann ist Juan Pablo Gutierrez dran. Er spricht auf Spanisch, laut, schnell
       und direkt, wählt drastische Worte. „Durch den Bergbau in Kolumbien könnt
       ihr hier in Wohlstand leben“, sagt er. „Die Energie, die in Deutschland mit
       kolumbianischer Kohle hergestellt wird, ist mit Blut verschmutzt.“ Er
       erzählt von Naturzerstörung, von Landverlusten der indigenen Bevölkerung
       und von Atemwegserkrankungen bei Kindern, die durch den Bergbau verursacht
       werden.
       
       Im deutschen Klimaaktivismus wird momentan viel darüber diskutiert, wie man
       nicht resigniert, wie man Hoffnung finden kann. Für Juan Pablo Gutierrez
       stellen sich diese Fragen in einer anderen Dimension. Wegen seiner
       politischen Arbeit wurden bereits zwei Mordanschläge auf ihn verübt. Woraus
       schöpft er Kraft in einem Kampf, der ihn fast das Leben kostete und immer
       wieder aussichtslos scheint?
       
       ## Sein größter Wunsch ist die Rückkehr in seine Heimat
       
       Man findet Gutierrez in letzter Zeit bei allen großen Klimaereignissen: In
       Hamburg, in Lützerath, auf dem Biodiversitätskongress in Marseille und der
       Weltklimakonferenz in Ägypten. Er kennt viele Leute dort, es ist schwer,
       ihn allein zu erwischen. Gutierrez ist kein großer Mann, dennoch ist er
       nicht zu übersehen. Oft trägt er einen blau-weiß gestreiften Poncho, die
       braunen Locken zu einem Dutt gebunden, eine Kette und Lederarmbänder. Mit
       seinen Reden verschafft er sich Gehör, ohne zu schreien, im persönlichen
       Gespräch ist er offen und freundlich.
       
       Schnell lädt er Gesprächspartner*innen zu sich nach Paris ein, wo er
       seit fünf Jahren wohnt, im Exil. Dort führt er eine Art Doppelleben: Bis
       zum Mittag lebt er sein Leben in Frankreich. Aber danach, wenn in seiner
       Heimat der Tag beginnt, stellt er das kolumbianische Radio an, hört die
       Nachrichten und spricht mit den Menschen in Kolumbien über Signal und
       Instagram. Sein größter Wunsch ist es, nach Kolumbien zurückkehren zu
       können. Gleichzeitig empfindet er es als Privileg, nicht dort zu sein: „Die
       meisten Menschen in Kolumbien haben nicht die Möglichkeit zu gehen, also
       sind sie dazu verdammt, getötet zu werden.“
       
       Ein dramatischer Satz, der nachvollziehbar wird, wenn man Gutierrez’
       Lebensgeschichte betrachtet. Als Teil des Indigenen Volks Yukpa, das um
       den Gebirgszug Sierra de Perijá in Venezuela und Kolumbien lebt, ist der
       heute 41-Jährige in einer Zeit aufgewachsen, in der Indigene in Kolumbien
       kaum Rechte hatten. „Zu sagen, dass man indigen ist, hieß zu akzeptieren,
       dass man als Sklave behandelt und ausgebeutet wird“, sagt Gutierrez.
       
       ## In Kolumbien ist es besonders gefährlich für Aktivist*innen
       
       Die Yukpa organisierten sich ab Anfang der 2000er Jahre politisch und
       wurden Teil von [3][ONIC, der nationalen Indigenen-Organisation
       Kolumbiens]. Gutierrez arbeitete zunächst als Fotograf und dokumentierte
       Menschenrechtsverletzungen. Später wurde er aufgrund seiner Kontakte zu
       internationalen Organisationen zu einem von ONICs internationalen
       Vertreter*innen.
       
       Kolumbien gehört zu den gefährlichsten Ländern für Aktivist*innen
       weltweit. Laut der Ombudsstelle für Menschenrechte, einer unabhängigen
       Organisation mit Sitz in Bogotá, wurden hier im vergangenen Jahr 215
       Aktivist*innen getötet, 2021 waren es 145. „Wenn wir uns entschließen
       zu kämpfen, dann wissen wir auch, dass wir kämpfen werden, bis wir getötet
       werden oder den Kampf gewinnen“, sagt Gutierrez.
       
       2012 besuchte Gutierrez für die ONIC das Gebiet der indigenen Nukak. Die
       Nukak leben im kolumbianischen Teil des Amazonasbeckens und stehen laut der
       Nichtregierungsorganisation Survival International „am Rand der
       Auslöschung“. Um zu ihnen zu kommen, musste Gutierrez Kokafelder
       überqueren. Mitglieder der [4][Drogenkartelle, der Narcos,] warnten ihn,
       Stillschweigen über die Felder zu bewahren. Doch Gutierrez machte Fotos.
       „Viele Nukak sind auf Kokafeldern versklavt. Die Narcos haben ihr Land
       genommen und die Nukak gezwungen, dort zu arbeiten.“
       
       Nach der Veröffentlichung der Fotos bekam Gutierrez Drohungen. Als er
       erneut das Gebiet der Nukak besuchte, sei er von bewaffneten Männern
       aufgehalten worden, die ihn mitnehmen wollten, „offensichtlich, um mich zu
       töten“, sagt er. Wer dort gekidnappt werde, kehre nicht zurück. Nur weil er
       mit einer Gruppe von 50 Leuten unterwegs war, die mit den Männern
       diskutiert habe und ihn nicht gehen lassen wollte, sei er noch einmal davon
       gekommen. Danach kehrte er nie wieder in diese Gegend zurück.
       
       ## Den zweiten Anschlag überlebte er nur knapp
       
       Das zweite Mal wurde er mitten in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá nach seiner
       Arbeit bei ONIC aufgehalten. Vier Männer auf Motorrädern umringten sein
       Auto und schossen, 16 Mal. „Nur wie durch ein Wunder wurde ich nicht
       getroffen.“ Dieser Anschlag sei von den Aguilas Negras ausgegangen,
       paramilitärischen Organisationen, die Umwelt- und
       Menschenrechtsaktivist*innen in Kolumbien töten. „Sie machen die
       Drecksarbeit der Regierung“, sagt Gutierrez.
       
       Zunächst blieb er trotzdem in Kolumbien. Erst als seine Tochter geboren
       wurde, spürte er Angst und Verantwortung für ihr Leben. Deshalb entschied
       er, zusammen mit seiner Familie nach Paris zu gehen.
       
       Obwohl er sich als Teil der Klimabewegung versteht, ist die Klimakrise
       für Juan Pablo Gutierrez eigentlich ein sekundäres Problem. Er betrachte
       sie als Teil der Krise, die durch den Kolonialismus verursacht wurde und
       wird. „Im Globalen Süden kämpfen wir seit 500 Jahren gegen die Wurzeln
       dieses zerstörerischen Systems“, sagt er. „Der Globale Norden dagegen hat
       erst vor ein paar Jahren begonnen, die Konsequenzen dieses Systems als
       Bedrohung wahrzunehmen.“
       
       Trotzdem klingt Juan Pablo Gutierrez nicht wütend, wenn er aus seinem Leben
       erzählt, und vom andauernden Kampf gegen Kolonialismus. Auf Spanisch
       spricht er schnell, selbstsicher, auf Englisch eher bedächtig. Die Sprache
       habe er über Twitter gelernt, indem er das, was er twittern wollte, in ein
       Übersetzungstool geschrieben hat.
       
       ## Wenn europäisches Privileg zu einer Falle wird
       
       Heute, sagt Gutierrez, werde endlich mehr auf Indigene gehört, nachdem ihre
       Ansichten lange ignoriert wurden. „Zum ersten Mal haben wir die
       Möglichkeit, nicht als Wilde, Unzivilisierte wahrgenommen zu werden,
       sondern als diejenigen, die mit der Art, wie wir leben wollen, richtig
       liegen.“ Gerade im europäischen Exil sei es ihm möglich, Allianzen mit
       Menschen zu schließen, die nach einer Lösung suchen. „Wenn ich europäische
       Aktivist*innen als meine Feinde sehen würde, würde ich Feinde suchen,
       wo keine sind“, sagt Gutierrez.
       
       Lützerath besuchte er 2021 zum ersten Mal, [5][auf Einladung der Aktivistin
       Carola Rackete]. Insgesamt fünf Mal war er dort. „Ich fühlte mich sofort
       direkt betroffen, als wäre es mein eigener Kampf“, sagt er. Auf dem Gebiet
       der Yukpa liegt auch eine Kohlemine, 16-mal so groß wie der Tagebau
       Garzweiler bei Lützerath.
       
       Ein Problem sieht Gutierrez in der Zersplitterung der europäischen
       Klimabewegung in viele verschiedene Gruppen. „Die Organisationen hier
       verstehen sich noch als Individuum“, sagt er. Im Moment ist er begeistert
       von den [6][radikalen Protesten in Frankreich gegen ein Wasserreservoir für
       die Landwirtschaft]. „So sollte Aktivismus hier in Europa sein, das muss
       weiter gehen als die Aktionen vieler Gruppen, die vor allem Symbolcharakter
       haben.“
       
       ## Aufhören ist keine Option
       
       Gutierrez kämpft weiter, weil er keine andere Wahl sieht. Für ihn ist es
       eine Frage des Überlebens: „Wenn jemand mit einem Gewehr oder einer
       Maschine versucht, dein Land zu zerstören, kannst du nicht sagen, ich bin
       gerade zu deprimiert zum Kämpfen. Nein, du kämpfst.“ Die Menschen in Europa
       seien im Vergleich dazu weniger resilient, weil ihr privilegiertes Leben
       das nicht wirklich erfordere. „Aber es ist nicht eure Schuld“, betont er.
       „Das Privileg ist auch eine Falle. Hier ist immer Essen im Kühlschrank und
       Wasser kommt immer aus dem Wasserhahn. Ihr seid nicht im Überlebensmodus.“
       
       Was Gutierrez will, ist mehr Radikalität. Für ihn steckt die europäische
       Klimabewegung noch zu viel Hoffnung in einen Systemwechsel durch die
       Regierenden. „Das ist ein bisschen naiv. Wir brauchen mehr“, sagt er. Was
       genau das sein könnte? Daran arbeite er. Er erzählt etwas vage von einer
       „Globalisierung des Widerstands“, von einem „großen Projekt“, das mehr
       Aktivist*innen in Lateinamerika und Europa vereinen will – bis zu einer
       weltweiten Revolution.
       
       6 Apr 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Klimacamp-in-Hamburg/!5870522
   DIR [2] /Ende-Gelaende-protestiert-in-Hamburg/!5874272
   DIR [3] /Schwere-Waldbraende-in-Kolumbien/!5577089
   DIR [4] /Drogenkriminalitaet-in-Kolumbien/!5850828
   DIR [5] /Carola-Rackete-zu-Klimaprotesten/!5916426
   DIR [6] /Demo-gegen-Agrarprojekt-in-Frankreich/!5921992
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jelena Malkowski
       
       ## TAGS
       
   DIR wochentaz
   DIR Zukunft
   DIR Aktivismus
   DIR Kolumbien
   DIR Kolonialismus
   DIR Indigene
   DIR IG
   DIR klimataz
   DIR Kolumbien
   DIR Landwirtschaft
   DIR Schwerpunkt Klimasabotage
   DIR Schwerpunkt Ende Gelände!
   DIR Kolumbien
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Indigene Bevölkerung in Kolumbien: Wunder und Alltag
       
       Vier Kinder überleben 40 Tage im Dschungel. Der Vorfall zeigt, wie wertvoll
       das Wissen Indigener ist – und wie ignorant der Staat.
       
   DIR Abholzung des Waldes: Bewirtschaften, aber schützen
       
       Intensivere Landwirtschaft zerstört die Natur, ist eine These. Eine neue
       Studie zeigt, dass Indigene es trotzdem schaffen, ihren Wald zu erhalten.
       
   DIR Carola Rackete zu Klimaprotesten: „Mehr Beteiligung generieren“
       
       Fridays For Future und Letzte Generation erreichen zu wenig für die
       Klimapolitik, sagt Carola Rackete. Sie plädiert für einen breiteren
       Protest.
       
   DIR „Ende Gelände“ protestiert in Hamburg: Gegen den fossilen Kapitalismus
       
       Die Klimaaktivist*innen blockieren diesmal Orte der Infrastruktur und
       Logistik: Das LNG-Terminal und den Hamburger Hafen.
       
   DIR Drogenkriminalität in Kolumbien: Das allmächtige Kartell
       
       Mit einem „bewaffneten Streik“ demonstriert der Golf-Clan seine Macht in
       Kolumbien. Anlass: die Auslieferung seines Ex-Chefs „Otoniel“ an die USA.