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       # taz.de -- Theaterfestival „Female Peace Palace“: Eine Geschichte voller Lücken
       
       > Wirken im Verborgenen: Das Festival „Female Peace Palace“ an den Münchner
       > Kammerspielen beleuchtet die Rolle von Frauen im und gegen den Krieg.
       
   IMG Bild: „Anti War Women“ mit Moses Leo, Jelena Kuljić, Maren Solty, Leoni Schulz, Stefan Merki, Joyce Sanhá
       
       Bevor das Stück „Anti War Women“ beginnt, kommt ein Friedensangebot aus dem
       Maschinenraum der Münchner Kammerspiele. Dort haben sich die Gewerke mitten
       in der heißesten Streikphase darauf verständigt, dass die Premiere über die
       Bühne gehen kann.
       
       Ulrich Hayer, Verdi-Mitglied und Leiter der Bühnenmaschinerie, erinnert an
       die Unsichtbaren dahinter, die für Löhne arbeiten, von denen man in München
       kaum leben kann. Die Unsichtbaren, das ist die kleine Gratis-Lehrstunde zum
       Auftakt des Münchner Festivals „Female Peace Palace,“ haben viele Gestalten
       und Geschlechter.
       
       Im Festival selbst geht es dann um oft im Verborgenen wirkende Frauen und
       den omnipräsenten Krieg. Die Verbindung dieser beiden fast unerschöpflichen
       Themenkomplexe sorgt für einen weithin hörbaren Aufschlag und das ist für
       die [1][Kammerspiele München] gerade sehr wichtig. Denn sie standen wegen
       einer Auslastung von nur 56 Prozent, einem erheblichen Einnahmedefizit und
       angeblich zu woker Programmgestaltung zuletzt in der Kritik – auch bei
       ihrem Geldgeber, der Stadt München.
       
       Die Intendantin Barbara Mundel musste Anfang Februar der Bildung eines
       „Kammer-Rates“ zustimmen: Das ist ein Konglomerat aus Intendanz, Künstlern,
       Personalabteilung und Stadträten, das fortan den in der Coronaspielzeit
       2020/21 begonnenen Weg begleiten soll.
       
       ## Theater als Stadtgespräch
       
       Einen Rat hatten die Stadträte gleich vorab: Das Theater müsse
       Stadtgespräch werden, die Schauspieler und Prozesse anfassbarer. Bei
       Ersterem hilft natürlich ein internationales Großprojekt wie „Female Peace
       Palace“, das „feministische Visionen für eine postpatriarchale Welt“
       verspricht.
       
       Diese sind verpackt in ein sich über den ganzen April erstreckendes
       Programm aus Theater – darunter fünf Uraufführungen und künstlerische
       Interventionen –, Diskussionen und Workshops, das die Münchner Kammerspiele
       und das Literaturarchiv Monacensia mit Geldern der Kulturstiftung des
       Bundes auf die Schiene gesetzt haben. Es bezieht Künstler aus Syrien, der
       Ukraine, Iran und Belarus mit ein und schlägt einen Bogen vom frühen 20.
       Jahrhundert bis heute.
       
       Am einen Ende dieses Bogens: Das neue Stück der ukrainischen Autorin
       [2][Natalia Vorozhbyt,] die mit dem bösen Kriegsstück „Bad Roads“ bekannt
       wurde. In „Green Corridors“ begleitet sie vier Ukrainerinnen auf der
       Flucht, zwischen denen es so mächtig knirscht, dass die Risse, die sich
       auftun, tief in die ukrainisch-deutsche Geschichte hinabreichen: 1941 wurde
       die Ukraine nach einer kurzen Phase der Unabhängigkeit von den Nazis
       besetzt. 1959 wurde ihr umstrittener Nationalheld [3][Stepan Bandera] in
       München ermordet.
       
       All diese Zeitebenen spielen mit in diesem kriegerische und
       Identitätskonflikte zuspitzenden Drama, das erst am 14. April zur Premiere
       kommt. Die Kammerspiele haben aber bereits vorab zu einer offenen Probe
       geladen – Stichwort: Anfassbarkeit –, bei der man Regisseur Jan-Christoph
       Gockel und dem internationalen Ensemble beim Arbeiten zusehen konnte.
       
       ## Kein Platz für Klischees
       
       Allzu weit war man zwar noch nicht. Aber klar wurde schon:
       Frauensolidarität und weibliche Friedfertigkeit – solche Klischees haben
       hier keinen Platz! Eher ist man gespannt darauf, wie das Stück mit seiner
       hohen Fettnäpfchendichte in der Ukraine selbst ankommt, wo es zeitgleich
       von einem anderen Team geprobt wird.
       
       Wer sich angesichts der aktuellen Zerrissenheit der feministischen
       Community gerade über den Krieg nach historischen Ereignissen sehnt, in
       denen Frauen als Gruppe etwas bewirkt haben, kommt bei „Anti War Women –
       Wie Frauen den Krieg bedrohen“ auf seine beziehungsweise ihre Kosten. Die
       Eröffnungspremiere des Festivals knüpft an „Bayerische Suffragetten“ an: In
       dem Stück widmete sich [4][Regisseurin Jessica Glause] den Münchner
       Feministinnen, deren zarte Erfolge in Sachen Frauenwahlrecht und weiblicher
       Selbstbestimmung der Erste Weltkrieg zunichte gemacht hat.
       
       Zwei von ihnen, Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann, haben zum ersten
       „Internationalen Frauenfriedenskongress“ aufgerufen, zu dem 1915 gut 1.500
       Frauen aus 16 Nationen im Friedenspalast in Den Haag zusammenkamen. Die von
       ihnen verabschiedeten Resolutionen hatten das Ziel, den Krieg zu beenden
       und Kriege in Zukunft unmöglich zu machen. US-Präsident Woodrow Wilson nahm
       einige ihrer Erklärungen später in seinen 14-Punkte-Plan auf, freilich ohne
       die Frauen zu erwähnen oder Kinkerlitzchen wie Vergewaltigungen zu ächten.
       
       Das Ereignis, das dem „Female Peace Palace“-Festival in München seinen
       Namen gegeben hat, wird von Glause nicht rekonstruiert. Lediglich
       Bruchstücke von Argumenten und Biografien setzten sich nach und nach zu
       einem lückenhaften Bild zusammen. Einem qualmenden Loch im Bühnenboden des
       Schauspielhauses entsteigen anfangs sehr langsam sechs Menschen in
       Einteilern, auf die primäre und sekundäre weibliche Geschlechtsmerkmale
       gesprayt worden sind.
       
       Lockige Stoffbahnen fallen über künstlich verbreiterte Hüften. Der von
       Aleksandra Pavlović kreierte Look ist poppig-queer mit Anklängen ans
       Rokoko, die Pronomina aber sind unzweideutig: „She she her her“ wird
       gesummt, auch wenn mit Moses Leo und Stefan Merki unter zwei der sechs
       bunten Perücken Männer stecken.
       
       ## Weg mit Ehe und Aristokratie
       
       Slogans wie „my body – my choice“ und „weg mit Ehe und Aristokratie“
       durchqueren die Zeiten, zuckende Arme und Hüften markieren eine eher
       hedonistische Grundgestimmtheit à la „I don’t believe in monogamy, I
       believe in me.“ Ein illustrer Haufen ist hier aus dem Orkus des Vergessens
       gestiegen, in den ihn die männlich dominierte Geschichtsschreibung
       hinabgestoßen hat. Keine Figuren, nur Schemen steigen wieder heraus.
       
       Von Aletta Jacobs, der ersten zum Medizinstudium zugelassenen Frau in den
       Niederlanden, die 1882 eine Klinik für Geburtenkontrolle eröffnete, bis zur
       US-amerikanischen Soziologin Jane Adams, die die Präsidentschaft des
       Kongresses übernahm, reicht der Bogen. Sie alle vereinte das Entsetzen über
       den Krieg und der Glaube, dass Hilfe nur von Frauen kommen konnte.
       
       Das Erzähltempo des Abends ist schnell, die Songdichte hoch. Jelena Kuljić
       erklimmt immer wieder die Plattform, auf der ein Schlagzeug steht. Sie
       spielt famos. Und doch überwiegt der Eindruck, dass eine Geschichtsstunde
       auf Basis löchriger Quellen allzu viel szenisches Füllmaterial verschleißt.
       Und inhaltlich bleibt es dünn: Da sind die Resolutionen, auf die frau sich
       geeinigt hat.
       
       Und Einigung ist immer gut, geradezu sensationell. Aber Worte wie
       „Gerechtigkeit“ auf Papier haben leider noch selten Kriege verhindert.
       Ehrlicher wird’s, wenn es um die Pluralität der Interessen geht: Um die
       Belgierinnen, die nicht mit den deutschen Frauen verhandeln wollen, während
       deren Männer und Söhne ihr Land mit Giftgas attackierten.
       
       ## Wie ein wütender Skorpion
       
       Und die amerikanische Bürgerrechtlerin Mary Church Terrell (Joyce Sanhá)
       ist sich allzu bewusst, dass sie als Schwarze Frau nur Gehör finden kann,
       weil die Südstaaten den Sezessionskrieg verloren haben. Sie alle stehen am
       Fuß einer riesigen roten Klitoris, die wie der Stachel eines wütenden
       Skorpions über ihnen aufragt, singen von Eva Jantschitsch arrangierte
       Schlager, Rap- und Punksongs – und das teilweise szenenapplauswürdig.
       
       Mit ein paar Melodien im Ohr und dem Wissen, auf eine Menge neue Wissens-
       und historische Lücken gestoßen worden zu sein, geht man nach Hause. Ein
       paar solcher Lücken werden dem Münchner Publikum noch präsentiert werden:
       Das Programm hält eine weitere (Kurz-)Begegnung mit [5][Mary Church Terrell
       von Miriam Ibrahim,] eine Performance über die [6][Geschichte jesidischer
       Frauen] und eine über die [7][türkische Freiheitskämpferin] Halide Edib
       Adıvar bereit.
       
       4 Apr 2023
       
       ## LINKS
       
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   DIR [5] https://www.muenchner-kammerspiele.de/de/programm/19400-in-my-hands-i-carry
   DIR [6] https://www.muenchner-kammerspiele.de/de/programm/13710-licht
   DIR [7] https://www.muenchner-kammerspiele.de/de/programm/18936-halide-words-of-flame
       
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