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       # taz.de -- Hinrichtung wegen Mordes in Berlin: Der Erste von so vielen
       
       > Vor 90 Jahren, am 9. Mai 1933, wird Ernst Reins in Plötzensee geköpft. Es
       > ist die erste Hinrichtung in Berlin nach dem Machtantritt der Nazis.
       
   IMG Bild: Szene aus dem Prozess gegen Reins. Wer zu sehen ist, ist nicht überliefert
       
       Berlin taz | „Berlin-Charlottenburg, am 11. Mai 1933. Der Oberstaatsanwalt
       bei dem Landgericht II in Berlin zeigte an, daß der ledige Maurer Ernst
       Reins … zu Berlin-Plötzensee verstorben sei.“ Im schönsten Beamtendeutsch
       registrierte der Standesamtsbeamte damals den Tod des 25-jährigen Reins.
       Der genaue Hintergrund aber wird in dieser Urkunde nicht verraten: Es war
       die erste Hinrichtung in Berlin unter dem nationalsozialistischen Regime.
       
       Am 9. Mai um 6 Uhr morgens hatte Scharfrichter Carl Gröpler den
       Delinquenten im Hof des Gefängnisses von Plötzensee enthauptet. Dafür war
       Gröpler extra aus Magdeburg mit dem Zug angereist. Mit im Gepäck: sein
       Handbeil. Vor seiner Ernennung zum Scharfrichter war der Mann
       „Rossschlächter“ gewesen. Zuerst hatten die Pferde dran glauben müssen,
       dann die Menschen, sprich: die zum Tode verurteilten Mörder, die Gröpler
       seit seiner Ernennung zum Scharfrichter im Jahr 1906 reihenweise köpfte.
       Pro Kopf verdiente er 850 Mark.
       
       An jenem Morgen hatten sich etliche Leute versammelt, um der Exekution
       beizuwohnen, während die Armesünderglocke kontinuierlich läutete. Sie kamen
       nicht freiwillig: Die Strafprozessordnung verlangte unter anderem die
       Anwesenheit der Mitglieder des Gerichts, die das Urteil gefällt hatten;
       ebenso mussten der Verteidiger, ein Pfarrer sowie zwölf „ehrbare Bürger“
       aus dem Volk früh aufstehen, um der grausamen Hinrichtung beizuwohnen.
       
       Ernst Reins, 1907 in Charlottenburg in eine kinderreiche Familie
       hineingeboren, hatte bis zuletzt den Vorwurf der beabsichtigten Tötung des
       Geldbriefträgers Gustav Schwan von sich gewiesen. Die Faktenlage aber war
       eindeutig: Der Täter hatte Schwan mit einer fingierten Postanweisung in
       eine kurz zuvor angemietete Wohnung gelockt, ihn mit einer Eisenstange
       geschlagen und nach kurzem Kampf erwürgt.
       
       Reins war daraufhin mit seinen beiden Schwestern nach Italien geflohen.
       Kurze Zeit später wurde er festgenommen und ausgeliefert. Seltsam heiter
       soll diese Reisegesellschaft gewesen sein, vor allem aber extrem
       unvorsichtig. Telefonate nach Hause anmelden, mit dem richtigen Namen im
       Hotel einchecken … Keine gute Idee, wenn man der Strafverfolgung entgehen
       will.
       
       Dabei war Reins, wie man es an seinem selbst verfassten Lebenslauf aus der
       Strafakte merkt, ein intelligenter Mensch. Vor Gericht wirkte der äußerlich
       entfernt an den jungen Hans Fallada erinnernde Mann jedoch seltsam
       gedrückt, berichteten Prozessbeobachter, etwa als er seinen Lebenslauf
       erzählen sollte. Mit 16 Geschwistern war er aufgewachsen, doch nur er und
       seine Schwestern Johanna und Sophie hatten überlebt. Und in ihm war immer
       die latente Angst, so zu werden wie sein Vater, der in der „Irrenanstalt“
       als menschliches Wrack starb.
       
       Tatsächlich gab es in der Familie noch weitere psychisch Kranke, darunter
       auch einen Onkel von Reins, der sein eigenes Kind tötete, um ihm das
       schwere Erbe einer Geisteskrankheit zu ersparen. Reins Traum, Architekt zu
       werden, erfüllte sich nicht: 1921 bestand der Vater, der einen sozialen
       Abstieg von der eigenen Firma zum Polier erlebt hatte, darauf, dass er
       Maurer wurde.
       
       Augenprobleme plagten den Heranwachsenden, laut Ärzten war eine „ererbte
       Syphillis“ schuld. Oft überkam ihn blanke Furcht, aber auch Melancholie:
       „Warum bin ich geboren, wozu der ganze Blödsinn?“, fragte sich Reins, wie
       in seiner Strafakte, die im Landesarchiv Berlin aufbewahrt wird,
       nachzulesen ist.
       
       1929 erfasst die Wirtschaftskrise das Land. Immer öfter wird Reins von
       starken Entfremdungsgefühlen geplagt, wenn er in den Spiegel blickt –
       Anzeichen für eine psychische Erkrankung mit dissoziativen Symptomen. Kurz
       keimt Hoffnung auf, als seine Schwester Sophie, die als Vorführdame in
       einem Warenhaus arbeitet, ihn mit der Welt des schönen Scheins bekannt
       macht.
       
       ## Raus aus dem Proletarierdasein
       
       Denn Reins’ Maxime ist auch die Vermeidung des „verdammten
       Proletarierlebens“. Manchmal begleitet er seine Schwester in Lackschuhen
       und weißem Hemd ins Adlon. Ein Maurer im Smoking, der schnell hinter den
       verlogenen schönen Schein blickt, in dem er sich nie wirklich sonnen würde.
       Dessen Luxus er zwar genießt, deren Protagonisten er aber verachtet.
       
       Auslöser für das ganz große Drama werden dann seine eigene Arbeitslosigkeit
       und die Trennung von seiner Freundin – auf Wunsch ihrer Eltern. Nur kurze
       Zeit später tötet der zuvor völlig unbescholtene Reins den Geldbriefträger
       Gustav Schwan: einen 54-jährigen Ostpreußen, der Frau und Tochter
       hinterlässt. Ernst Reins erbeutet 6.500 Mark.
       
       Am 10. Dezember 1931 wird der Sensationsprozess vor dem Berliner
       Landgericht II verhandelt. Da ist Reins nur noch ein Häufchen Elend: „Es
       wäre ja Wahnsinn gewesen, ihn töten zu wollen, da ich ihn nur zu betäuben
       beabsichtigte“, ruft er aufgeregt. Lebensangst, eine erbliche Vorbelastung
       – all das lässt das Gericht letzten Endes nicht gelten. Reins sei,
       psychiatrisch betrachtet, voll schuldfähig.
       
       Eine „klare Überlegung“ habe er ausgeblendet, sodass der Affekt sein Tun
       beherrschte, wirft man ihm vor. Am 13. Dezember 1931 um 18.30 Uhr wird
       Ernst Reins „wegen Mordes in Tateinheit mit schwerem Raub zum Tode und zum
       dauernden Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt“.
       
       ## Der Verteidiger legt Revision ein
       
       Reins nimmt das Urteil ruhig entgegen, bespricht sich mit seinem
       Verteidiger, der daraufhin Revision einlegt. Hoffnung keimt auf, der seit
       der Novemberrevolution 1918/19 sehr umstrittenen Todesstrafe zu entgehen.
       Sie wurde in der Zeit der Weimarer Republik zwar insgesamt 1.141 Mal
       verhängt, aber nur 184 Mal vollstreckt.
       
       In der sozialdemokratischen und liberalen Presse ist es immer wieder zu
       Protesten gegen das – so zum Beispiel Die Weltbühne – „zivilisierte Pack“
       gekommen, das sich anmaßte, über Leben und Tod zu urteilen. Mit 17 zu 11
       Stimmen wurde 1927 im Reichstagsausschuss für die Strafrechtsreform der
       SPD-Antrag auf Abschaffung der Todesstrafe abgelehnt. In der Praxis kam es
       meist zu einer Umwandlung in eine lebenslange Freiheitsstrafe nach einem
       Gnadengesuch.
       
       Am 15. Januar 1932 zieht Reins’ Verteidiger die Revision zurück und
       beantragt dessen Begnadigung. Er hat die Hoffnung auf eine Veränderung der
       politischen Verhältnisse zugunsten Reins in einer Zeit der politischen
       Desintegration, die sich auch durch Notstandsverordnungen und wechselnde
       Präsidialkabinette äußert.
       
       Mehrfach wurde die Vollstreckung des Urteils verschoben. Nach dem
       „Preußenschlag“ vom 20. Juli 1932, als die SPD-geführte Regierung abgesetzt
       und eine kommissarische Staatsregierung unter Franz von Papen als
       Reichskommissar in Preußen eingerichtet wird, wird die Entscheidung über
       eine Begnadigung Reins' erneut vertagt – bis zur finalen Klärung der
       Regierungsverhältnisse.
       
       ## Mit Hitler ist alles vorbei
       
       Doch als Adolf Hitler nach den Reichstagswahlen am 30. Januar 1933 von
       Reichspräsident von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt wird, bedeutet das
       das endgültige Aus für alle Hoffnungen von Ernst Reins. Am 11. April 1933
       wird Hermann Göring Ministerpräsident von Preußen, dann geht alles sehr
       schnell: Göring lehnt die Begnadigung ab. Am 9. Mai 1933 kurz nach 6 Uhr
       morgens verkündet Carl Gröpler auf dem Hof von Plötzensee: „Herr
       Staatsanwalt, das Urteil ist vollstreckt!“ Ernst Reins ist tot.
       
       Nur wenige Minuten später schwingt Gröpler erneut das Handbeil und
       enthauptet den Taxifahrermörder Johannes Kabelitz. Die brutale
       Hinrichtungsmaschinerie unter dem Hakenkreuz hat begonnen.
       
       Die rechte Presse jubilierte freudig: „Die Todesstrafe wird wieder
       vollstreckt und damit das Gesindel in Schach gehalten!“
       
       8 May 2023
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bettina Müller
       
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