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       # taz.de -- Grazer Filmfestival Diagonale: Feiert Pop, Liebe und den Tod
       
       > Die letzte Ausgabe des Grazer Filmfestivals Diagonale unter Peter
       > Schernhuber und Sebastian Höglinger strahlte in morbider Frische.
       
   IMG Bild: Aus dem Dokumentarfilm „Die Feuerblume“ über die Schauspielerin Marisa Mell (Mitte links)
       
       Gibt es etwas, das die Diagonale unter der Intendanz von Peter Schernhuber
       und Sebastian Höglinger auszeichnete, so ist es vielleicht das stilsichere
       Wandeln auf der Zeitachse. In den Jahren ihrer Leitung stellten sich immer
       wieder wertvolle Korrespondenzen zwischen gegenwärtigen österreichischen
       Produktionen und häufig vergessenen, unterrepräsentierten, also neu zu
       entdeckenden Werken ein.
       
       Das verlieh dem Festival eine sonderbare morbide Frische, einen Glanz, der
       sorgsam einhüllte und funkelte, und eine Feierlichkeit, die nicht kapriziös
       oder unangenehm wurde. Inwieweit derlei Attribute auch künftig fortleben,
       muss abgewartet werden. Bis es so weit ist, bietet die Rückschau jedenfalls
       ausreichend Anknüpfungspunkte und Material für Überlegungen und vor allem
       Fantasien.
       
       Denn 2023 war das Jahr der Fata Morganen und Untoten sowie der
       unausgesprochenen Sehnsüchte. Das machte gleich der Eröffnungsfilm
       deutlich, „Das Tier im Dschungel“ von [1][Patric Chiha]. Lose angelehnt an
       die Erzählung von Henry James begegnen sich hier John (Tom Mercier) und May
       (Anaïs Demoustier), deren Schicksal auf unheimliche Weise miteinander
       verknüpft scheint. Inwieweit, bleibt undeutlich, nebelhaft, die Bindung
       existiert vor allem in der Gewissheit, dass es so ist. Und so kommen beide
       kaum voneinander los, obwohl sie sich auch nie wirklich berühren. Sie sind
       freiwillige Gefangene einer Idee.
       
       Chiha verlegt das Handlungsgeschehen derweil in einen Club, der zum
       Treffpunkt von May und John wird. Disco und Glam der Siebziger tauchen ihn
       in warmes Licht, in den Achtzigern kommen Kühle und Aids, noch eine Dekade
       später tanzen alle oberkörperfrei und schwitzen vereint im Rave. Wie
       einbalsamiert wirkt darin das Paar, das sein Antlitz behält, während alle
       um sie herum altern.
       
       „Das Tier im Dschungel“ ist eine Feier des Pop, der Liebe und des Todes.
       Patric Chiha selbst verweist in seiner Ansprache zur Festivaleröffnung auf
       einen Filmtitel von Douglas Sirk, der sein Schaffen seit jeher begleitet:
       „A Time to Love and a Time to Die“. Es ist eine große, pathetische Losung,
       die gut zu Film wie Festivalausgabe passt, in der Augenblickliches und
       nahendes Ende immer sehr nah beieinander lagen und sich vermutlich dadurch
       gegenseitig befeuerten und intensivierten.
       
       ## Schillernder Zwischenraum
       
       Ein schillernder Zwischenraum, in dem sich auch zwei Frauen bewegen und
       bewegten, die in Graz recht magisch zu einer einzigen verschmolzen: Marisa
       Mell und Vera Gemma. Erstere der steirische Fast-Weltstar, belohnt wie
       verflucht mit einer nahezu überirdischen Schönheit, dem die Diagonale eine
       kleine Retrospektive ausrichtete.
       
       Und Vera Gemma, Tochter des legendären Italo-Western-Helden Giuliano Gemma,
       die in [2][Tizza Covis und Rainer Frimmels „Vera“] halbfiktionale Einblicke
       in ihr römisches Leben zwischen Prominenz und verfallendem Cinecittà-Adel
       gewährte. Veras lange, hellblonde Extensions, das operierte Gesicht, der
       Cowboyhut in Kombination mit einer gleichsam reifen wie kindlichen Attitüde
       brachten Covi und Frimmel den Großen Diagonale-Preis für den Besten
       Spielfilm.
       
       Man kam nicht umhin, in Vera auch die zwei Leben der Marisa Mell zu sehen:
       Einerseits die glamouröse, verführerische Schauspielerin, wie sie in Mario
       Bavas „Diabolik“ (1968) gemeinsam mit John Phillip Law die italienische
       Polizei an der Nase herumführte. Und auf der anderen Seite eine sich gegen
       die Wirkmächte des Vergehens wehrende Frau, die so stark am Bild der
       eigenen Jugend festhielt, dass es sie schließlich umbrachte.
       
       Andere Schauspielerinnen, ungleich unbekannter, rief der 1999 verstorbene
       Filmemacher und Publizist Bernhard Frankfurter in Erinnerung, dessen
       erstaunlichen Nachlass die Diagonale zur Aufführung brachte. In „On the
       Road to Hollywood“ (1982) etwa betrieb Frankfurter eine sehr eigentümliche
       Spurensuche nach den aus Österreich emigrierten Filmleuten, denen das
       Arbeiten unter Hitler rasch unmöglich wurde.
       
       Dokumentiert werden abgerissene und wiederaufgenommene Karrieren sowie
       Schmäh in den Hollywood Hills. Und dazwischen ein sich selbst
       inszenierender Interviewer, Frankfurter, der seine Protagonisten
       abwechselnd in Maßanzug und Jeansjacke aufsucht.
       
       ## Die Musik der Stunde
       
       Ein Bogen, der Dekaden überspannt, während Reinhard Juds energetisierender
       Film „Kameni Grad – Stadt aus Stein“ (1994) einen einzigen Wiener Sommer
       einfängt. Mittendrin in einer Gruppe Jugendlicher ist man da, alle mit
       jugoslawischen Wurzeln, und pendelt von Lokal zu Sportplatz zu Wohnzimmer
       und bekommt die Musik der Stunde serviert: Fetish 69, Blow, Wipeout und Kim
       Pil-Jung.
       
       Der Tod ist auch hier omnipräsent, ohne thematisiert werden zu müssen.
       Stattdessen Verheißung, Aufbruch und eine sich nicht selbst bewusste, doch
       dafür umso fesselndere Pracht. Ein perfekter Ausschnitt. Und somit auch ein
       perfektes Goodbye für Schernhuber und Höglinger nach acht dem Alltäglichen
       trotzenden Festivalwochen zwischen 2016 und 2023.
       
       29 Mar 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Carolin Weidner
       
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