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       # taz.de -- Wanderung durch Grönland: Am eisigen Ende der Welt
       
       > Bevor sie 50 ist, will Geertje Marquardt die größte Insel der Erde
       > durchqueren. Seit anderthalb Jahren trainiert sie dafür. Was will sie
       > finden?
       
       Die Leute starren. Manche bleiben stehen. „Was machen Sie denn da?“ Mit
       einem Geschirr um die Hüfte und zwei alten Autoreifen im Schlepptau pflügt
       Geertje Marquardt durch ein Waldstück bei Potsdam. Wer wissen will, was das
       soll, muss ein Stück mitlaufen. Geertje Marquardt trainiert. Sie meint es
       sehr ernst, und ohne anzuhalten erzählt sie, warum.
       
       Geertje Marquardt will Grönland durchqueren.
       
       560 Kilometer zu Fuß und auf Skiern durch die zweitgrößte Eiswüste der
       Welt: Dafür braucht die 47-jährige Künstlerin eine Genehmigung der
       grönländischen Regierung, sie wird eine Schusswaffe mitführen und auf einem
       Konto liegen 9.000 Euro – für den Fall, dass ein Hubschrauber sie
       ausfliegen muss. Eine Grönlanddurchquerung ist kein Outdoorurlaub in
       Schneelandschaft. Es ist eine Expedition. Etwas, das nur sehr wenige
       Menschen sich vornehmen und noch weniger schaffen.
       
       Ich kenne Geertje schon länger und begleite sie in den Monaten vor ihrer
       Abreise. Sie ist beschäftigt mit der Vorbereitung auf das größte Abenteuer
       ihres Lebens. Und ich mit der Frage: „Warum machst du das, und warum
       fasziniert mich das so?“ Steckt in diesem Vorhaben etwas, das weit weniger
       speziell ist als eine Polarexpedition? Etwas, das auch mich und dich
       betrifft?
       
       Spoiler: Dies wird keine Reportage vom nördlichen Ende der Welt. Es wird
       eine kleine Geschichte über eine große Sehnsucht.
       
       Geertje, warum willst du Grönland durchqueren? 
       
       „Ich bin neugierig, wie sich diese Landschaft anfühlt.“ 
       
       Grönland. Auf manchen Weltkarten wirkt es seltsam verzerrt, fast so riesig
       wie Südamerika – Es ist schwer, die runde Erde auf ein flaches Blatt Papier
       zu bringen. Je näher an den Polen, umso schlimmer. Tatsächlich ist Grönland
       kleiner als Argentinien und sechs Mal so groß wie Deutschland. Es ist die
       größte Insel der Welt und nach der Antarktis die zweitgrößte permanent
       vereiste Fläche.
       
       Wie eine sehr dicke Decke liegt das Inlandeis auf der Insel und lässt nur
       an den Küsten Platz für die kaum 60.000 Bewohner*innen. 1,7 Millionen
       Quadratkilometer Eisfläche, rund 2 Kilometer dick, 2,7 Millionen Gigatonnen
       schwer. Das kann der Mensch nicht fassen. Das vielleicht schon: Falls das
       Grönlandeis komplett abschmilzt, hebt sich der Meeresspiegel weltweit um 7
       Meter. Seit der Jahrtausendwende verliert das Inlandeis [1][immer schneller
       an Masse].
       
       „Wer Grönland durchquert, kehrt als ein anderer zurück“, sagen die, die das
       schon gemacht haben. Das waren nicht die Inuit, die hier seit mehr als 700
       Jahren an den Küsten leben. Über das Inlandeis sind sie erst gegangen, als
       die Europäer damit anfingen.
       
       Die ersten waren nur Männer. Männer, die in der Einsamkeit des Eises von
       Forscherruhm träumten und von Frauen, die sie niemals nach Grönland
       mitgenommen hätten. Der Norweger Fridtjof Nansen durchquerte Grönland 1888
       als erster Mensch überhaupt. Seine kleine Expedition kämpfte mit
       Temperaturen bis zu minus 46 Grad. Der Däne Johan Peter Koch überwinterte
       1912 als Erster auf dem Inlandeis. Und der Deutsche Alfred Wegener, posthum
       berühmt geworden für seine Theorie der Plattentektonik, starb 1930 bei
       seiner dritten Grönland-Expedition auf dem Rückweg von der
       Überwinterungsstation Eismitte, vermutlich an Erschöpfung. 1965 ging mit
       der Schottin Myrtle Simpson die erste Frau übers Eisschild.
       
       Einmal ganz weit oben auf dem Globus stehen: Das Grönlandeis aus eigener
       Kraft zu durchqueren ist wie den Mount Everest besteigen – nur weniger
       glamourös, weniger voll, ohne Basislager und Todeszone. Alles was du
       brauchst – Unmengen von Essen, Kocher, Benzin, Schneeschaufel, Schlafsack,
       Zelt, Isomatte, Klamotten – schleppst du auf Schlitten hinter dir her.
       
       Dieser Marsch zehrt so an dir, dass du weit über 4.000 Kilokalorien jeden
       Tag in dich stopfst und am Ende doch an Gewicht verloren haben wirst. Wenn
       es sehr kalt ist, und es ist oft sehr kalt auf dem Inlandeis, dann hast du
       bei der Rast kaum zehn Minuten Zeit, das Zelt aufzubauen oder den
       fummeligen Kocher zu bedienen, bevor deine Finger selbst mit Handschuhen
       bedenklich kalt werden.
       
       Rund 30 Menschen meistern die Tour im Jahr – in kommerziellen Expeditionen
       oder auf eigene Faust, als Extremtourist*in oder als Polarforscher*in.
       
       So wie Wilfried Korth, ein Professor für Vermessungskunde aus Potsdam, der
       auf historischer Route ab 2002 immer wieder Grönland durchquerte, um die
       Dicke des abschmelzenden Eisschilds zu vermessen. Ohne diesen Mann würde
       Geertje nicht übers Inlandeis gehen. Aber mit ihm kann sie es auch nicht.
       
       Geertje, wie kamst du ausgerechnet auf Grönland? 
       
       „Das ist eine seltsame Geschichte.“ 
       
       Im Januar, als an den Fenstern noch Eisblumen kleben, treffen wir uns das
       erste Mal, um über Grönland zu sprechen. Geertje beugt sich ein Stück
       runter, um mich zur Begrüßung zu umarmen. Zur Funktionskleidung trägt sie
       einen Rock, auf den kurzen Haaren eine Mütze. In einem einfachen
       asiatischen Restaurant in Potsdam, zwischen Tee und Suppe, erzählt Geertje,
       wie das kam mit Grönland. Wenn sie spricht, zwinkern ihre Augen, als
       müssten sie sich schon jetzt gegen die gleißende Polarsonne schützen.
       
       Es muss 2015 gewesen sein, sagt Geertje. Da stand so ein kleines Auto im
       Theaterquartier von Potsdam. Ein Opel Corsa vielleicht. „Jedenfalls sah es
       nicht aus wie das Auto eines Polarforschers.“ Am Heck ein Aufkleber:
       www.groenlanddurchquerung.de. „Das Wort hat mich gepackt“. Geertje liebt da
       schon das Eis und den Schnee. Als Reisende und als Künstlerin. Sie googelt
       und lernt Wilfried Korth kennen. Wilfried, der Polarforscher, und Geertje,
       die aus Eis Skulpturen schafft, gründen einen Verein, der die Folgen des
       Klimawandels auf Grönland an Schüler*innen vermitteln soll – auch mit
       Hilfe der Kunst.
       
       Für den Sommer 2019 plant Wilfried Korth eine erneute Expedition – und
       Geertje soll mit. „Nicht die ganze Durchquerung, das konnte ich mir nicht
       vorstellen.“ Eine Forschungsstation im Westen der Insel will Geertje
       begleiten. Das erste Mal Grönland. Doch dazu kommt es nicht.
       
       2019 stirbt Wilfried Korth mit 60 Jahren. Nicht im ewigen Eis. „Das hätte
       er sich vielleicht sogar gewünscht“, sagt Geertje. Sondern bei einem
       Fahrradunfall in Brandenburg, wenige Monate vor der geplanten Tour.
       
       Ist das, was du tust, wirklich das, was du willst? Oder haben dich nur die
       Umstände dahin gebracht? 
       
       „Zuerst war mit Wilfried auch die Idee von Grönland tot“, sagt Geertje. Sie
       trauert um die gemeinsame Leidenschaft, hadert mit dem, was davon übrig
       ist. „Ich hatte Zeit, über mich nachzudenken.“ Und dann kommt der Punkt,
       „an dem ich gespürt habe, ich will das trotzdem machen.“ Nicht einfach nur
       hinfahren, „sondern einmal quer über das Inlandeis gehen.“
       
       560 Kilometer von Ost nach West. In 30 Tagen. Am Anfang wird es nur langsam
       gehen. Erst mal rauf auf das Eisschild, über steile Kanten, in Steigeisen.
       Die Schlitten mit der Ausrüstung hochschleppen, bevor du endlich die Skier
       anschnallen kannst. Bis zu 40 Kilo wiegt jeder der Schlitten zu Beginn der
       Tour. Geertje Marquardt wird zwei ziehen, genau wie die anderen beiden, die
       nach Grönland mitkommen. Ein Mann vom Bodensee und eine Frau aus der
       Schweiz, übers Internet haben die Drei zusammengefunden. Dating für
       Extremtouren. 
       
       Es gibt extra Foren für Menschen, die die Polarregion lieben. Warum die
       anderen beiden mitmachen, haben sie in einem ihrer Videotreffen erzählt.
       Das sei der Höhepunkt von allem, was sie bisher erlebt habe, sagt die Frau.
       Für ihn sei es das nächste Level, hat der Mann erzählt. Er wird die
       Expedition leiten.
       
       Geertje, wie schafft man so eine Tour? 
       
       „Man muss das wirklich sehr wollen.“ 
       
       Mit einem Ruck setzt Geertje an einem Donnerstagmorgen das Gespann mit den
       Autoreifen in Bewegung. Es ist inzwischen Anfang März, die Sonne scheint
       durch kahle Bäume. Eingehängt in ein Geschirr um Hüfte und Schultern,
       schlurfen die Reifen hinter Geertje über den Brandenburger Sand. Nebenan
       brausen Autos auf der Straße nach Berlin. „Die Reifen sind natürlich
       leichter als die Schlitten für Grönland“, sagt Geertje. Dafür gleiten sie
       auch nicht gerade über den Sand, es ist eher ein Zerren. Zerren für
       Grönland, seit anderthalb Jahren macht Geertje das. Dazu kommen regelmäßige
       Wanderungen mit einem Freund, ohne Reifen, bis zu 50 Kilometer am Stück.
       Und jede Woche Crossfit, eine Art Zirkeltraining, das den Körper in Form
       schindet.
       
       „Dass ich so stark bin, war mir als Jugendliche und junge Frau gar nicht
       bewusst“, sagt Geertje. Weite Klamotten habe sie getragen, die Schultern
       nach vorn gebeugt, um weniger groß zu wirken. „Ich war nicht stolz auf
       meinen Körper, weder von innen noch von außen.“ Der Körper: Nicht viel mehr
       als ein notwendiges Übel.
       
       „Das andere Gefühl kam erst mit der Geburt der Kinder“, sagt Geertje. Von
       einer Sekunde auf die andere lernst du, was dein Körper aushalten kann und
       dass der Schmerz vergeht. Und dass es sich danach gut anfühlt. „Es ist
       nicht schlecht, Kinder bekommen zu haben, wenn man mal Grönland durchqueren
       will“, sagt Geertje.
       
       Tatsächlich kommt das selten zusammen. Menschen für solche Extremtouren –
       „Das sind häufig Menschen, die keine Kompromisse machen“, sagt Geertje.
       Auch in ihrem kleinen Team ist sie die Einzige mit Kindern.
       
       Als wir uns einmal bei ihr zu Hause treffen, hat Geertjes Mann Nüsse und
       Apfelschnitze auf den Tisch gestellt, den Kaffee schon gekocht. Es ist vor
       allem er, der den Alltag mit den zwei Kindern, 11 und 15, stemmt. „Das mach
       ich gern“, sagt er an jenem Nachmittag. Wenn sich die Familie mit anderen
       aus der Schnee- und Eisszene trifft, dann heißt es manchmal: „Ach, Sie sind
       der Mann von Geertje“.
       
       Geertje, zweifelst du nie? 
       
       „Doch, dass ich nicht gut genug bin, das kommt immer wieder.“ 
       
       Geertje ist kurz stehengeblieben, die Reifen haben tiefe Furchen in den
       Sand gegraben und vertrocknetes Laub vom letzten Jahr mitgeschleift. „Vor
       zwei Tagen war ich an Wilfrieds Grab, um seinen Segen abzuholen.“ Wilfried
       Korth, der Mentor, Ende Februar wäre er 63 geworden. „Der hat mir so viel
       zugetraut.“ Und dann erzählt Geertje vom vergangenen Herbst.
       
       Auf einer Probetour für Grönland waren sie und ihr Team in den Schweizer
       Alpen unterwegs. Je später der Tag, desto mehr fiel sie zurück. „Da war
       noch mal klar: Ich bin viel schwächer als die anderen.“ Ob sie das nicht
       ernst genug nehme mit Grönland, hat sie der Expeditionsleiter gefragt. „Das
       war schlimm. Ich hatte seit einem Jahr nichts anderes gemacht, mein ganzer
       Fokus war da drauf zu trainieren und Geld zu verdienen für die Tour.“ Das
       erste Mal in ihrem Leben hat Geertje einen Kredit aufgenommen, rund 14.000
       Euro soll dieses Abenteuer am Ende kosten.
       
       Vielleicht kannst du doch nicht mithalten? Vielleicht solltest du deine
       großen Träume vertagen auf die Zeit, wenn die Kinder groß sind? 
       
       Aber Geertje will Grönland durchqueren. Und sie will es jetzt, bevor sie 50
       ist. „Ich sehe in meinem Umfeld keine Frauen zwischen 50 und 60, die fit
       genug dafür sind. Vielleicht geht es ja irgendwann einfach nicht mehr.“
       
       An der Hochschulambulanz Potsdam lässt sich Geertje sportmedizinisch
       beraten. Bei einem der Termine will die Frau an der Anmeldung sie zur
       Krankengymnastik schicken. „Die haben dort ja sonst nur junge
       Leistungssportler.“ Auf Anraten der Ärzte hat Geertje ihr Training
       umgestellt, mehr Grundlagenausdauer statt Spitzenbelastung. Der letzte
       Leistungstest war gut, eine deutliche Verbesserung.
       
       „Schneller wäre ich auch nicht gegangen“, hat der Teamleiter dann bei der
       letzten Probetour gesagt. Und wie sehr sie es schätzten, Geertje dabei zu
       haben. Eine, die die gute Laune nicht verliert. Egal, wie hart es grad ist.
       
       Geertje, hast du keine Angst? 
       
       „Doch, aber nicht so sehr.“ 
       
       Im Bikini steht Geertje am Heiligen See, im Hintergrund das Potsdamer
       Marmorpalais. An einem Märzmorgen haben wir uns zum Eisbaden getroffen. Die
       Nacht war klar, am Rand des Sees schubbern ein paar dünne Eisschollen ans
       Ufer.
       
       Geertje stellt den Timer ein, im 4 Grad kalten Wasser verlierst du rasch
       das Gefühl für die Zeit. Drei Minuten gibt sie sich und läuft mit ruhigen
       Schritten in den See. Kein Quietschen, kein Krietschen. „Schon kalt.“
       Geertje lächelt. Nur noch Kopf und Hände sind über Wasser, das Licht ist
       wundervoll. Fast sieht es aus, als würde sie beten. Lang sind drei Minuten.
       Keine von uns spricht.
       
       „Ein meditativer Moment“, sagt Geertje später, wieder an Land. Wie betäubt,
       fast schon schwindelig fühlt es sich an. Ein Tropfen Kälte hängt an ihrer
       Nase, als sie sich langsam anzieht. „Die Kälte umarmen“, nennt Geertje das.
       
       Drei Dinge gibt es, an die du dein Leben verlieren kannst bei einer
       Grönlanddurchquerung: Den gefürchteten Sturm Piteraq, der dein Zelt mit
       sich reißen kann. Dann bist du dieser irren Kälte schutzlos ausgeliefert.
       Gletscherspalten, so tief, dass dich die Insel für immer verschluckt. Und
       Eisbären.
       
       Geertje und ihr Team haben in den Alpen Schneebiwaken und die Rettung aus
       Gletscherspalten geübt. Mitte März hat Geertje an einem Schießstand in
       Brandenburg aus einem großkalibrigen Gewehr auf ein 50 Meter entferntes
       Pappwildschwein gefeuert. Recht passabel für das erste Mal. „Ganz schön
       viel Adrenalin“, sagt Geertje danach. „So nah würde ich einem Eisbären aber
       lieber nicht kommen.“ Es klingt nicht besonders ängstlich.
       
       „Den Gedanken, dass ich nicht wiederkommen könnte, den gibt es schon“, sagt
       Geertje. Aber sie habe ein großes Grundvertrauen. „Vielleicht, weil mir in
       meinem Leben noch nie etwas Schlimmes passiert ist.“
       
       Es gibt auch Menschen, die fragen, wie das denn geht, mit den Kindern.
       „Dass man so was als Mutter nicht macht, ist so ein Glaubenssatz in der
       Gesellschaft. Aber ich glaube daran nicht.“ Was wäre das für eine Last für
       ihre Kinder, sagt Geertje, wenn sie wegen ihnen nicht machen würde, was ihr
       so sehr am Herzen liegt.
       
       Geertje, was wirst du machen, allein mit dir auf dem ewigen Eis? 
       
       „Vielleicht bin ich einfach nur da.“ 
       
       „Man darf sich auf einer 600 Kilometer langen Strecke in einer Eiswüste
       keine Sinnfragen stellen.“ Das schreibt Birgit Lutz, die wohl erfahrenste
       deutsche Polarreisende, in einem Buch über ihre Grönlanddurchquerung. „Wenn
       man nicht mehr weiß, woran man monate- und jahrelang gearbeitet hat, wenn
       man die Leidenschaft nicht mehr spürt, die Schönheit des Eises nicht mehr
       sieht … dann ist man verloren.“ Ihre Tour wurde ein Desaster. Fast hätte
       Birgit Lutz, die vorher schon mehrfach am Nordpol war, abgebrochen. Fast
       hätte sie es nicht übers Grönlandeis geschafft.
       
       In einer Gegend, in der nichts ist außer Eis, Schnee und das, was du auf
       deinem Schlitten hinter dir herziehst, in der du in alle Richtungen nur
       dasselbe siehst, hat Birgit Lutz Bekanntschaft gemacht mit dem, was die
       Inuit die „Monster des Inlandeises“ nennen. Auf den stundenlangen
       Wanderungen kann alles wichtig werden und unwichtig zugleich, der ewig
       gleiche Gedanke, das ewig gleiche Lied kann sich in deinem Kopf verfangen,
       bis die Sonne dich auslacht und verhöhnt.
       
       Warum bist du hier? Was willst du dir beweisen? Bist du hier, weil etwas
       fehlt oder weil da, wo du herkommst, von allem zu viel ist? 
       
       Geertje hat das Buch von Birgit Lutz vor einigen Jahren gelesen. „Das mache
       ich jetzt kurz vorher lieber nicht nochmal“, sagt sie Anfang März.
       
       Sie habe schon lange eine große Solo-Tour machen wollen. „Seit die Kinder
       da sind, ist diese Sehnsucht noch größer.“ Ohne Team geht es nicht durch
       Grönland, aber es wird die vielen einsamen Stunden vor dem Schlitten geben.
       Sieben Stunden am Tag laufen. Ohne die Zivilisation, die deine Sinne
       überreizt. Nur mit dir selbst. „Vielleicht denke ich mir dann Kunstwerke
       aus – wie kann ich das wiedergeben, was ich dort erlebe.“ Vielleicht wird
       sich auch der Gedanke noch einmal einnisten, ob sie gut genug ist, es
       wirklich schaffen kann. Oder das latent schlechte Gewissen, ob sie zu oft
       bei der Familie fehlt. „Vielleicht ist da aber auch nur der Moment, einfach
       sich selber spüren“, sagt Geertje.
       
       Aber warum muss es so extrem sein, so eine krasse Expedition? „Ich habe mal
       auf einer Norwegen-Tour mit Wilfried bei Schneesturm ein Zelt aufgebaut, es
       war irre anstrengend, wir mussten uns anschreien, haben fast nichts
       gesehen. Und wir hatten so einen Spaß! Ich hab zu Wilfried gesagt: Wie
       sollen wir bloß jemanden erklären, warum das hier so toll ist?“
       
       Die Lust auf etwas Neues, das über die bisherigen Grenzen hinausragt. Diese
       Lust habe jeder Mensch in sich, „aber wenn man zu konform lebt, immer nur
       im kleinen Häuschen, immer nur das tut, was alle erwarten, geht sie
       verloren“. Myrtle Simpson, die erste Frau, die Grönland zu Fuß durchquerte,
       hat das vor ein paar Jahren [2][in einem Interview] gesagt. Da war sie
       gerade 90 geworden.
       
       Ende März, nach mehr als anderthalb Jahren Training, ist Geertje kurz vor
       der Abreise. Wir treffen uns ein letztes Mal, bei einem kleinen
       Abschiedsfest mit Freund*innen und der Familie.
       
       Geertje, bist du bereit? 
       
       „Ja.“ 
       
       Am Lagerfeuer kocht Geertje eine Gemüsesuppe. „Bist du sehr aufgeregt?“,
       fragt jemand. „Du kennst doch Geertje“, antwortet ihr Mann und alle lachen.
       Mit einer großen Schöpfkelle verteilt Geertje die Suppe und beantwortet die
       vielen Fragen: „Wie kalt ist es da gerade?“ („Minus 17 Grad.“), „Was werdet
       ihr essen?“ („Vor allem gefriergetrocknete Nahrung zubereitet mit
       geschmolzenem Schnee.“), „Wie wirst du es aushalten ohne soziale Medien?“
       („Gut.“).
       
       Es ist schon lange dunkel, da gibt jede*r noch einen guten Wunsch mit auf
       die Reise. Es ist die 15-jährige Tochter, die „Komm erfüllt wieder“ auf ein
       Stück Papier schreibt, ihr Wunsch geht auf in den Flammen des
       Abschiedsfeuers. Vielleicht ist schon jetzt mehr davon erreicht, als andere
       je schaffen.
       
       Geertje Marquardt will Grönland durchqueren, und morgen geht sie los.
       
       14 Apr 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Schmelzende-Gletscher/!5904265
   DIR [2] https://www.nzz.ch/reisen/rabenmutter-begibt-sich-mit-ihren-kindern-in-gefahr-so-lauteten-die-schlagzeilen-nach-myrtle-simpsons-groenland-durchquerung-ld.1559587
       
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