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       # taz.de -- Provenienzforschung an Bibliotheken: „Ein Teil der Familiengeschichte“
       
       > Sebastian Finsterwalder erforscht die Herkunft von Büchern der Zentral-
       > und Landesbibliothek Berlin, die in der NS-Zeit zu Unrecht erworben
       > wurden.
       
   IMG Bild: Liefern oft entscheidende Hinweise zur Herkunft eines Buches: Exlibris
       
       taz: Herr Finsterwalder, seit wann erforscht die Zentral- und
       Landesbibliothek (ZLB) die Provenienz, also die Herkunft von Büchern? 
       
       Sebastian Finsterwalder: Vor rund 20 Jahren hat ein Mitarbeiter an unseren
       historischen Sammlungen gearbeitet und dabei einige interessante Funde
       gemacht. Er brachte das Thema NS-Raubgut in der Berliner Stadtbibliothek
       zum ersten Mal aufs Tapet – es gab dazu dann auch eine Ausstellung und eine
       Publikation. 2009 wurden dann Stellen für die Durchsicht des Bestands nach
       Raubgut geschaffen.
       
       Wie groß ist heute Ihr Arbeitsbereich? 
       
       Unsere personelle Ausstattung schwankt etwas. Wir haben das Äquivalent von
       1,7 Stellen, zurzeit unterstützt uns noch ein wissenschaftlicher
       Mitarbeiter – dessen Stelle nach dem Auslaufen aber hoffentlich wieder
       besetzt wird.
       
       Und wie gehen Sie konkret vor? 
       
       Wie sehen uns jedes einzelne Buch an, bei dem es einen Verdacht gibt.
       Bücher als Raubgut zu identifizieren, funktioniert nur, wenn die
       Vorbesitzer Spuren hinterlassen haben. Stempel oder Exlibris, also
       eingeklebte, kunstvoll gestaltete Zettel. So versuchen wir, den konkreten
       Weg eines Bandes in unserem Bestand zu erforschen und ihn dann nach
       Möglichkeit zurückzugeben. Wenn diese Bücher Institutionen gestohlen
       wurden, etwa der SPD oder einer Freimauerloge, ist das relativ einfach, da
       gibt es meistens Nachfolgeinstitutionen. Deutlich wichtiger ist uns aber
       die Restitution an Privatpersonen. Bei denen kommt es darauf an,
       überlebende Familienmitglieder zu finden, die oft auf der ganzen Welt
       verstreut sind.
       
       Es geht dabei immer um die Zeit des Nationalsozialismus? 
       
       Unser Fokus liegt klar auf der NS-Zeit, denn damals kamen viele
       unrechtmäßig erworbene Exemplare in den Bestand der Stadtbibliothek.
       Entdeckt haben wir allerdings auch andere sogenannte Entzugskontexte: Es
       gibt Beutegut, das im Zusammenhang mit Kriegshandlungen in die Bibliothek
       kam, zum Teil sogar schon im Ersten Weltkrieg, auch Raubgut aus der Zeit
       der SBZ und der DDR oder im Zusammenhang mit der „Aktion K“ der
       tschechischen Kommunisten gegen katholische Klöster im Jahr 1950. Auf
       Bücher aus kolonialen Kontexten sind wir noch nicht gestoßen – was nicht
       bedeutet, dass es sie nicht gibt.
       
       Reden wir hier nur von der Berliner Stadtbibliothek in der Breiten Straße? 
       
       Fast ausschließlich, ja. Die Stadtbibliothek hat den größten Altbestand,
       und dieser ist gleichzeitig am besten dokumentiert. In der Amerika
       Gedenkbibliothek fehlen uns leider die historischen Zugangsbücher. Unsere
       Aufgabe ist ein Wettlauf mit der Zeit, die Rückgabe wird immer schwieriger
       und wir müssen mehr als eine Million Bücher durchsehen. Da sind die
       Chancen, schnell fündig zu werden, bei der Stadtbibliothek einfach am
       größten.
       
       Eine Million? 
       
       Das war der Berg, vor dem wir standen: die Bestände, die vor 1945 erworben
       wurden und damit generell verdächtig sind. Laut Richtlinie werden vor 1945
       erworbene Bücher nicht entsorgt, bevor wir sie durchgesehen haben. Nicht
       alle sind unrechtmäßig erworben, aber das müssen wir eben prüfen.
       
       Und wie viele haben Sie bis heute geprüft? 
       
       Etwa 150.000. Als NS-Raubgut konnten wir bislang etwa 3.000 identifizieren,
       die von 195 Personen oder Institutionen stammten. Gut 1.000 davon konnten
       wir bislang zurückgeben. Einen großen Teil werden wir im Übrigen wohl nie
       erkennen, weil entsprechende Hinweise fehlen.
       
       Wie viele geraubte Bücher kamen denn nach Ihrer Schätzung ins Haus? 
       
       Mit Sicherheit mehrere zehntausend. Allein im Jahr 1943 hat die
       Stadtbibliothek rund 40.000 Bände von der städtischen Pfandleihanstalt
       gekauft, die aus den Wohnungen deportierter BerlinerInnen stammten.
       Allerdings haben wir herausgefunden, dass die Bibliothek einen Teil gleich
       an Privatpersonen weiterverkauft hat. Wie viel sich davon noch im Magazin
       befindet, ist also unklar. Andererseits kam auch noch lange nach dem Krieg
       viel Raubgut ins Haus, etwa über Ankäufe aus Antiquariaten, einfach weil
       das Thema Provenienz bis in die 90er Jahre hinein keine Rolle spielte.
       
       An wen haben Sie Bücher zurückgegeben? 
       
       Zu den institutionellen Nachfolgern gehören etwa die
       Friedrich-Ebert-Stiftung und die Jüdische Gemeinde zu Berlin. Bei ungefähr
       der Hälfte der Fälle handelte es sich um Bücher von Privatpersonen, oft
       geht es da um eine kleine Zahl von Exemplaren. Ein etwas größerer Umfang
       waren rund 40 Bücher aus dem Besitz des Biochemikers Carl Neuberg. Die
       ersten davon haben wir an die Erben restituiert – als es mehr wurden, haben
       wir sie auf deren Bitte an das New Yorker Leo Baeck Institute
       weitergegeben. Komplette Bibliotheken wurden nach unserem Kenntnisstand
       übrigens nicht übernommen, die waren schon vorher zerpflückt worden.
       
       Kommt es häufig vor, dass Privatpersonen Bücher nicht annehmen? 
       
       Sehr selten. Mit dem Buch können wir ihnen ja meist einen Teil der
       Familiengeschichte zurückgeben.
       
       Und mit der Rückgabe endet Ihre Arbeit im konkreten Fall? 
       
       Nicht ganz: Wir dokumentieren und publizieren unsere Funde in der
       kooperativen [1][Datenbank Looted Cultural Assets]. Die wurde bei uns im
       Haus entwickelt, mittlerweile betreiben wir sie in einer Kooperation mit
       der Freien Universität. Beteiligt ist daran inzwischen ein gutes Dutzend
       Bibliotheken, seit Kurzem auch das Berliner Landesarchiv.
       
       11 Apr 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.lootedculturalassets.de/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Claudius Prößer
       
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