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       # taz.de -- Westliches Militär in Sahelzone: Niger und der Westen
       
       > Für mehrere westliche Staaten ist Niger ein Stabilitätsanker in der
       > Sahelregion. Doch die Bevölkerung vor Ort sieht die Westbindung eher als
       > ein Problem.
       
   IMG Bild: Einen Militärputsch fordert in Niger kaum jemand
       
       Niamey/Agadez taz | Niger gilt derzeit als wichtigster demokratischer
       Stabilitätsanker im Sahel. Das Land kooperiert unter dem 2021 gewählten
       Präsidenten Mohamed Bazoum eng mit westlichen Staaten. In Mali und
       [1][Burkina Faso] hingegen suchen die aus mehreren Militärputschen
       hervorgegangenen Übergangsregierungen immer offensiver den Schulterschluss
       mit Russland, jedenfalls im Rahmen des Antiterrorkampfes. Doch wer sich mit
       Menschen in Niger austauscht, bekommt ganz andere Töne zu hören.
       Allenthalben ist von Machtmissbrauch, Korruption und Straflosigkeit die
       Rede, vor allem das dominante Gebaren der ehemaligen Kolonialmacht
       Frankreich wird massiv angeprangert.
       
       Besonders heftig fällt die Kritik in Agadez aus, der einst von Tuareg
       gegründeten Handelsmetropole am Südrand der Sahara. Das hat mit Nigers
       Antimigrationsgesetz „2015/036“ zu tun. Verabschiedet auf Druck der EU,
       richtet es sich offiziell gegen Menschenhandel, de facto kriminalisiert es
       jegliche Unterstützungsleistungen für Migrant:innen. Die Wüstenpassage
       Richtung Norden wurde dadurch komplizierter, teurer und gefährlicher, zudem
       musste Agadez empfindliche ökonomische Verluste hinnehmen, wie selbst der
       zur Zurückhaltung verpflichtete Sultan empört schildert.
       
       Hauptleidtragende sind all jene, die zuvor für die jährlich mehr als
       100.000 Transitmigrant:innen Dienstleistungen erbrachten, also
       Transport, Unterbringung oder Verpflegung. Insgesamt sollen rund 9.000
       Menschen ihre Existenzgrundlagen verloren haben, manche sind sogar im
       Gefängnis gelandet.
       
       Verschärfend kam hinzu, dass die Zentralregierung nur vereinzelt die von
       der EU als Trostpflaster finanzierten Ausgleichszahlungen weitergeleitet
       hat. Statt neuer Geschäftsgründungen explodierte die Arbeitslosigkeit und
       mit ihr der Drogenkonsum. In vielen Wohnvierteln wirken die breiten
       sandbedeckten Straßen ab 21 Uhr wie ausgestorben. Angst vor Kriminalität
       bestimmt mittlerweile den Alltag vieler Menschen, bis vor Kurzem undenkbar
       in Agadez.
       
       ## „Der Regierung ist es gelungen, Angst zu schüren“
       
       Die restriktive Migrationspolitik ist lediglich eines von vielen
       Beispielen, wie im Gespräch mit Laouel Abari deutlich wird, dem
       Vorsitzenden des Zusammenschlusses zivilgesellschaftlicher Organisationen
       in Agadez. Das rücksichtslos durchgesetzte Migrationsgesetz, sagt er,
       illustriere die Verachtung der Zentralregierung für die Bevölkerung in
       entfernten ländlichen Regionen. Nigers Kommunen verfügten bis heute weder
       über administrative noch finanzielle Vollmachten, alle wesentlichen
       Entscheidungen würden in Niamey gefällt.
       
       Besonders verhängnisvoll scheint d[2][ie Präsidentschaft von Mahamadou
       Issoufou] zwischen 2011 und 2021 verlaufen zu sein. Der aus der politischen
       Linken stammende Bergbauingenieur sei mit viel Vorschusslorbeeren ins Amt
       gelangt, so Abari. Alle hätten einen entschiedenen Antikorruptionskampf
       erwartet. Doch vom ersten Tag an sei die ohnehin krasse Korruption
       eskaliert. Issoufou habe politische Gegner rigoros verfolgt, darunter auch
       ehemalige Mitstreiter:innen, und unliebsame Bürgermeister:innen
       absetzen lassen, etwa in Niamey, Bilma und Diffa. Immerhin räumte Issoufou
       verfassungsgemäß nach zwei Amtszeiten seinen Stuhl, eine Seltenheit in der
       Region, aber am Ende habe Niger den drittletzten Platz im UN-Index der
       menschlichen Entwicklung belegt.
       
       Dass Europa eine derart fragwürdige Regierungsbilanz gutheißt, lässt
       Menschen wie Abari entgeistert zurück. „Der Regierung ist es gelungen,
       Angst zu schüren“, blickt er auf die zehn Jahre Issoufou zurück. „Sie hat
       das Leben einflussreicher Persönlichkeiten zerstört. Das haben die Menschen
       gesehen, danach haben sie den Mund gehalten, denn sie müssen ja ihre
       Familien versorgen. Klar ist aber, dass die Frustration eines Tages
       explodieren wird.“
       
       ## Die allermeisten fordern den Abzug ausländischer Truppen
       
       Ein weiterer Stein des Anstoßes ist die militärische Präsenz westlicher
       Länder. In Agadez unterhält die US-Armee eine große Drohnenstation, doch
       etliche Menschen berichten, dass die lokale Bevölkerung bis heute nicht
       wisse, wen die ständig startenden und landenden Drohnen überhaupt
       beobachten.
       
       Noch angespannter ist [3][die Situation mit Frankreichs Armee]. 1.000
       französische Soldat:innen sind in Niger stationiert, ohne dass die
       Regierung den Inhalt der einschlägigen Verträge mit Frankreich je
       veröffentlicht hätte. Parallel spitzt sich die Sicherheitslage insbesondere
       in der westlich gelegenen Region Tillabéri zu, was Spekulationen geradezu
       provoziert. Viele sind davon überzeugt, dass die französische Armee über
       alle erforderlichen Waffen und Geräte verfügte, um Terroristen binnen
       kürzester Zeit auszuschalten.
       
       Dass dies nicht geschehe, zeige unmissverständlich, dass die ehemalige
       Kolonialmacht das Land destabilisieren und so seine eigene, von
       Rohstoffinteressen geleitete Anwesenheit rechtfertigen wolle. Andere gehen
       noch einen Schritt weiter: Sie meinen, dass Frankreichs Armee die
       territoriale Aufspaltung Malis und Nigers vorantreibe, um in der
       rohstoffreichen Wüste einen eigenständigen, von Paris gesteuerten
       Tuareg-Staat gründen zu können.
       
       Auf Außenstehende mögen solche weit verbreiteten Verschwörungserzählungen
       irritierend wirken. Gleichwohl greift die in Europa viel zitierte Erklärung
       zu kurz, wonach [4][russische Trollfabriken für antifranzösische Propaganda
       verantwortlich seien]. Deren Existenz ist zwar unstrittig, aber Kritik an
       französischer Interessenpolitik gibt es auch ohne russischen Einfluss.
       
       So kam es schon 2015 in Niamey und Zinder wegen der französischen
       Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo zu Ausschreitungen mit mindestens zehn
       Toten. Anders als in westlichen Medien dargestellt, richteten sich die
       Proteste weniger gegen die in der Zeitschrift abgedruckten
       Mohammed-Karrikaturen. Vielmehr wurde es als unpassend empfunden, dass
       Präsident Issoufou an den Trauerfeierlichkeiten für die von Islamisten
       ermordeten Charlie Hebdo-Mitarbeiter:innen in Paris teilgenommen
       hatte.
       
       Denn das Verhältnis zwischen Frankreich und Niger galt in jener Zeit als
       äußerst angespannt – unter anderem wegen Rohstofffragen. [5][Frankreich
       bezog jahrzehntelang Uran zu unschlagbar günstigen Preisen aus Niger], doch
       selbst der 2014 von Issoufou neu vereinbarte Steuersatz von 12 Prozent lag
       deutlich unter den 18,5 Prozent in Kasachstan.
       
       Djamila Azizou, eine 29-jährige Umweltwissenschaftlerin, lässt keinen
       Zweifel: „Für die nigrische Jugend ist Frankreich die Basis unserer Krise.
       Demgegenüber tut China wirklich etwas für unsere Entwicklung – die Straßen,
       die Brücken und so weiter. Frankreich hingegen ist nur wegen Uran, Gold
       oder Öl da. Wir haben noch nie gehört, dass Frankreich irgendetwas
       Sinnvolles für die Entwicklung unseres Landes getan hat.“
       
       Die Schlussfolgerung ist ebenso unzweideutig: Die allermeisten fordern den
       Abzug ausländischer Truppen. Lediglich Ausbildungsprogramme für die eigenen
       Sicherheitskräfte erfreuen sich einer gewissen Akzeptanz.
       
       ## Eine neue multipolare Weltordnung
       
       Moctar Dan Yayé hat bereits in mehreren westafrikanischen Ländern gelebt.
       Er ist Webdesigner und Pressesprecher der in Niger ansässigen
       Menschenrechtsorganisation Alarme Phone Sahara. Erst die sozialen Medien
       hätten es den Menschen erlaubt, in einen direkten, häufig transnational
       geprägten Austausch über solche Fragen zu treten, sagt er. Resultat sei ein
       „gemeinsam vollzogener Bewusstseinswandel“, der dafür sorgen würde, dass
       überall im Sahel der Slogan „gagner-gagner“ aufgekommen sei, „Win-Win“ auf
       französisch – gleichsam als Chiffre für eine neue multipolare Weltordnung,
       in der afrikanische Regierungen nicht nur mit europäischen Ländern, sondern
       auch mit China, Russland oder der Türkei zusammenarbeiten.
       
       Moussa Tchangari gehört zu den Veteranen der nigrischen Demokratiebewegung,
       er ist Generalsekretär der „Alternative Espaces Citoyens“, einer
       Menschenrechtsorganisation, die unter anderem in Niamey ein viel gehörtes
       Radio betreibt. Tchangari war in den letzten Jahren zweimal mehrere Monate
       unter fadenscheinigen Gründen inhaftiert, seine Haltung umweht ein Hauch
       von Alterspessimismus. Denn die antifranzösischen Narrative hält er für den
       Ausdruck eines „kolonialen Komplexes“. Die Menschen könnten sich ein
       Scheitern westlicher Armeen schlicht nicht vorstellen – mit der Konsequenz,
       dass sie dahinter bloßes Kalkül vermuten.
       
       Auch „gagner-gagner“ findet Tchangari fragwürdig: „Es hat eine deutliche
       Schlagseite ins Autoritäre und Nationalistische. Die Menschen verstehen
       Souveränität als Stärkung staatlicher Macht, nicht als selbstbestimmte
       Wahrnehmung eigener Interessen. Es ist keineswegs zufällig, dass sich Seyni
       Kountché wieder größerer Beliebtheit erfreut.“ Kountché regierte Niger als
       Militärdiktator von 1974 bis 1987.
       
       Zwar fordert in Niger kaum jemand einen Militärputsch – trotz ständiger
       positiver [6][Bezugnahmen auf Mali] und Burkina Faso. Favorisiert wird
       stattdessen ein tiefgreifender, aber abgefederter Bruch mit überkommenen
       Strukturen, zumal viele Präsident Mohamed Bazoum für weniger korrupt und
       repressiv halten als Issofou. Doch war nicht schon 2012 in Europa das
       Erstaunen groß, als die vermeintliche Musterdemokratie Mali nach einem
       Aufstand im Norden und einem Putsch im Süden wie ein Kartenhaus
       kollabierte? Repräsentant:innen aus dem Westen wären gut beraten, das
       offene und unvoreingenommene Gespräch mit der nigrischen Bevölkerung zu
       suchen, anstatt Stabilität zu behaupten, wo keine ist.
       
       Olaf Bernau war von Januar bis März in Mali und Niger. 2022 erschien sein
       Buch „Brennpunkt Westafrika. Die Fluchtursachen und was Europa tun sollte“
       
       12 Apr 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Neuer-Militaermachthaber-in-Burkina-Faso/!5882255
   DIR [2] /Nigers-Praesident-im-taz-Interview-2021/!5782261
   DIR [3] /Gewalt-bei-Protesten-in-Niger/!5815696
   DIR [4] /Russische-Propagandasender-in-Afrika/!5909500
   DIR [5] /Niger/!5198271
   DIR [6] /Reaktionen-auf-den-Putsch-in-Mali/!5827935
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Olaf Bernau
       
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