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       # taz.de -- Krimi „Aus der Balance“: Nichts Spielerisches
       
       > Megan Abbotts evoziert eine klaustrophobische Welt im Ballettmilieu.
       > Mobbing und Gewalt bestimmen das Leben zweier Frauen in einer Tanzschule.
       
   IMG Bild: Schriftstellerin Megan Abbott
       
       Wir wissen, dass in der nur scheinbar so luftig-leichten Welt des Tanzes
       hinter den Kulissen mitunter mit harten Bandagen gekämpft wird. Ein
       Choreograf in Hannover beschmiert eine Kritikerin mit Hundescheiße. Ein
       Tänzer in Moskau gibt [1][einen Säureanschlag] auf den Ballettchef in
       Auftrag: Das sind reale Szenarien, die wir aus der Presse kennen.
       Erstaunlich eigentlich, dass nicht ständig Ballettkrimis geschrieben
       werden.
       
       Die US-amerikanische Autorin Megan Abbott zeigt nun mit ihrem Roman „Aus
       der Balance“, dass diese Atmosphäre aus unterdrückten Leidenschaften,
       versteckten Feindschaften, ätzenden Neid- und Hassgefühlen schon dort ihr
       zerstörerisches Werk tun kann, wo Tanz eigentlich noch etwas Spielerisches,
       Unschuldiges haben sollte: in der Ballettschule.
       
       Es ist im Grunde ein Kammerspiel, ein Pas des trois mit einigem
       Nebenpersonal, das Abbott entwirft. Die Schwestern Dara und Marie betreiben
       eine Tanzschule, die sie von ihrer verstorbenen Mutter geerbt haben.
       Dritter im Bunde sowie Geschäftsführer der Schule ist Daras Ehemann
       Charlie, auch er ehemaliger Schüler ihrer Mutter, mit dem sie zusammen
       aufgewachsen sind. Es besteht eine prekäre Balance zwischen den dreien, die
       empfindlich gestört wird, nachdem Marie, die mangels anderer
       Wohnmöglichkeiten in der Ballettschule übernachtet, aus Versehen einen
       Brand entfacht hat.
       
       Mit dem Bauunternehmer Derek, der die dadurch nötig gewordenen
       Renovierungsarbeiten übernimmt, zieht ein Störfaktor ein, der die
       bisherigen Verhältnisse schwer ins Wanken bringt. In der Baustelle, die
       ihre Schule nun ist, beginnen die Proben zur alljährlichen
       „Nussknacker“-Aufführung. Eifersüchteleien rund um die Rollenverteilung
       beenden langjährige Freundschaften zwischen den Schülerinnen. [2][Fälle von
       Mobbing häufen sich.]
       
       ## Gewalt und Selbstkasteiung
       
       Marie beginnt eine Affäre mit dem Bauunternehmer und zeigt alle Merkmale
       sexueller Hörigkeit. Dara ist sehr beunruhigt – und das um so mehr, als sie
       allmählich zu der Überzeugung gelangt, dass Derek es eigentlich darauf
       abgesehen hat, ihr schönes altes Wohnhaus in die Finger zu bekommen, da das
       Grundstück in den letzten Jahren immens an Wert gewonnen hat. Doch als es
       zur Konfrontation kommt, passiert etwas Furchtbares.
       
       Die düster-schwüle Atmosphäre, die diesen Roman durchzieht, verursacht beim
       Lesen geradezu körperliches Unbehagen. Es ist deutlich spürbar, dass es so
       einiges gibt, das hier ganz und gar nicht stimmt. Alle menschlichen
       Beziehungen befinden sich in irgendwie angespannter Schieflage, ohne dass
       die Charaktere sich dessen bewusst würden.
       
       Das gilt auch für Dara, aus deren Perspektive der Roman zum größten Teil
       erzählt wird. Dara sieht sich selbst als die Rationale, Lebenstüchtige der
       beiden Schwestern und ist dabei doch diejenige, die die Traumata, die sie
       als Kinder in der Familie erlitten haben, nur am gründlichsten verdrängt
       hat.
       
       Am Grund dieser Traumata steht die Erfahrung physischer Gewalt in
       mannigfaltiger Form: als [3][Gewalt in der Ehe der Eltern], aber auch als
       Gewalt gegen den eigenen Körper beim exzessiven Tanztraining. Die
       Lusterfahrung dieser Selbstkasteiung hat sowohl physische als auch
       psychische Spuren hinterlassen.
       
       Und so sehr sie einem eigentlich alle leidtun könnten: Keine einzige Figur
       in diesem Roman wird einem jemals sympathisch, und am Ende der Lektüre ist
       man heilfroh, dieser von Megan Abbott meisterlich evozierten
       klaustrophobischen Welt voller fehlgeleiteter Lustgefühle entronnen zu
       sein. Die Kinder zum Ballett schicken möchte man nun jedenfalls ganz
       bestimmt nicht mehr.
       
       17 Apr 2023
       
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