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       # taz.de -- Medizinische Versorgung in der Ukraine: Betten, Kühlschrank, mehr nicht
       
       > Galina, Swetlana und Natalia leben in einer Klinik in Saporischschja.
       > Eigentlich kein Ort zum Wohnen. Aber in ihrer Heimat ist die russische
       > Armee.
       
   IMG Bild: Galina, Swetlana und Natalia leben jetzt dauerhaft in einer Tagesklinik
       
       Saporischschja taz | Obwohl sie sich erst seit Kurzem kennen, wohnen
       Galina, Swetlana und Natalia zusammen. Nicht in einer gemeinsamen Wohnung,
       sondern in einem einzigen Zimmer – in der Dialyseklinik von
       Saporischschja.
       
       Alle drei leiden an einer Niereninsuffizienz. Und alle drei stammen aus dem
       70 Kilometer entfernten Rayon (Bezirk) Wasiliwka. Schon vor dem Krieg
       musste jede der Frauen drei Mal die Woche zur Dialyse nach Saporischschja
       fahren, für jeweils sechs Stunden. Doch vor einigen Monaten änderte sich
       ihre Routine: Ihre Ortschaften sind entweder umkämpft oder von der
       russischen Armee besetzt.
       
       ## Rückkehr nach Hause unmöglich
       
       „Die Straße nach Saporischschja war menschenleer, sie wurde beschossen“,
       erinnert sich Galina an ihre letzte Fahrt zur Dialyse. „Der Fahrer musste
       ganz angestrengt auf die Straße achten, lagen doch an manchen Stellen
       Minen. Das war lebensgefährlich. Aber was sollte ich machen. Keine Dialyse
       zu bekommen ist auch lebensgefährlich.“ Galina kehrte von dieser Fahrt
       nicht wieder nach Hause zurück. In Saporischschja angekommen hieß es, dass
       die Russen nun die Checkpoints schließen und niemanden mehr durchlassen.
       
       Galinas Zimmergenossin Swetlana plante hingegen eines Tages, nach der
       Dialyse nicht mehr heimzufahren. „Nachts, als mal wieder Raketen aus
       beiden Richtungen über unser Haus geflogen sind, habe ich Natalia, mit der
       ich immer zur Dialyse gefahren bin, angerufen. ‚Natalia‘, habe ich gesagt,
       ‚morgen fahren wir wieder zur Dialyse, aber zurückfahren werde ich nicht
       mehr.‘ Und Natalia hat gesagt, sie werde das auch so machen“, berichtet
       Swetlana.
       
       Zusammen leben sie nun in einem kleinen Raum, einem notdürftig
       eingerichteten Gästezimmer in einem Nebengebäude der Klinik. Auf dem Weg in
       den ersten Stock verputzen Handwerker eine Wand. Doch kaum hat man das
       Krankenzimmer betreten, ist von der Unruhe draußen nichts mehr zu spüren.
       Hier ist es sauber, gemütlich, es riecht wie neu. Als seien die Wände erst
       gestern geweißelt worden.
       
       Im Zimmer stehen vier Betten, dazwischen ist kaum Platz. In der Ecke ein
       kleiner Kühlschrank, eine Spüle und ein Tisch. Kochen ist nicht möglich,
       die Mahlzeiten werden gebracht. Die drei Frauen setzen sich nebeneinander
       auf eins der Betten, der Tisch ist zu klein für drei. Der Mann, der
       ebenfalls mit ihnen zusammenwohnt, bleibt liegen, er fühlt sich zu schwach
       zum Aufstehen.
       
       ## Tagesklinik für Dialysepatienten
       
       „Unsere Klinik ist als Tagesklinik konzipiert, in der die Patienten
       tagsüber ihre Dialyse erhalten. Nachts gibt es wegen der Ausgangssperre
       keine“, sagt Sergej Makarenko, selbst Dialysepatient und Mitarbeiter der
       Klinik „für organisatorische Fragen“. Doch als einige Patienten ihr Zuhause
       verloren, habe man gehandelt.
       
       Inzwischen habe man Räumlichkeiten, in denen Patienten wie die drei Frauen
       untergebracht sind, die wegen des Krieges nicht mehr in ihre Heimatorte
       zurückkehren können. Manche, sagt Makarenko, seien schon über ein Jahr
       hier. Ungefähr 20 Patienten seien inzwischen nach Deutschland, Polen,
       Frankreich oder Großbritannien weitergereist.
       
       Und was ist mit Dialysepatienten, die nicht mehr nach Saporischschja fahren
       können?
       
       Im russisch besetzten Enerhodar, der Stadt, in der auch das AKW
       Saporischschja angesiedelt ist, gebe es ebenfalls ein Dialysezentrum,
       berichtet Makarenko. „In den ersten zwei Monaten des Krieges haben wir von
       unserer Klinik hier noch Transporte mit Verbrauchsmaterial und Medikamenten
       nach Enerhodar organisiert. Aber dann haben die Russen diese Transporte
       nicht mehr erlaubt.“
       
       Zu den Ärzten und Schwestern, die dort arbeiten, habe er den Kontakt
       abgebrochen. Er habe keine Lust, mit Menschen zu kommunizieren, die in
       dieser Situation Arbeitsverträge mit den russischen Besatzern
       abschließen. „Gleichwohl weiß ich, wie es dort aktuell aussieht. [1][Die
       deutsche Firma Fresenius beliefert auch diese Klinik dort über den Umweg
       von Russland] mit Verbrauchsmaterial für Dialysegeräte und Medikamenten.“
       Der Direktor von Fresenius in der Ukraine habe ihm gesagt, dass er sich in
       einem Dilemma befinde. Er unterstütze die Sanktionen gegen Russland, denke
       aber auch, dass die Dialysepatienten nicht Opfer der Sanktionen werden
       sollten.
       
       ## Schwere Bedingungen im russischen besetzten Gebiet
       
       Insgesamt sei das Leben in den von Russland besetzten Teilen des Gebietes
       Saporischschja kaum auszuhalten, berichten die Bewohnerinnen eines
       Gästezimmers der Klinik und eine Mitarbeiterin des Krankenhauses, die aus
       Gulajpole stammt, der taz. Sie ist Hebamme. Seit März 2022 gebe es in
       Gulajpole [2][keinen Strom mehr, seit April keine Heizung, erzählt sie.]
       Jeden Tag werde die Ortschaft beschossen, auch von Hubschraubern und
       Flugzeugen. Das Leben spiele sich zum größten Teil in Kellern ab.
       Gleichwohl sei sie jeden Tag zur Arbeit gegangen – unter Lebensgefahr.
       
       Das Krankenhaus sei dort weiter geöffnet, mit zerstörten Fensterscheiben,
       ohne Licht und Hygieneartikel, von wertvollen Medikamenten ganz zu
       schweigen. Aktuell leben nur noch 2.000 Menschen in Gulajpole. Vor dem
       russischen Angriff waren es 13.000. Bekannt geworden ist die Stadt über die
       Grenzen der Ukraine hinaus durch [3][Nestor Machno. Dieser war Anführer
       einer anarchistischen Bewegung], die zwischen 1917 und 1921 einen großen
       Teil der Ukraine kontrollierte. Das Machno-Museum von Gulajpole war vor dem
       Krieg von Besuchern aus aller Welt aufgesucht worden.
       
       In ihrem Dorf, berichtet Galina, seien elf Häuser zerstört. Am schlimmsten
       habe es mehrstöckige Häuser getroffen. Mit ihren Eltern, die dort
       geblieben seien, telefoniere sie mitunter. Wenn das Internet funktioniert,
       über einen Messengerdienst. Die russische Armee habe ein Terrorregime
       errichtet. Völlig willkürlich tauchten russische Soldaten in Wohnungen auf,
       forderten von den Bewohnern Geld, Telefone oder nähmen einfach
       Einrichtungsgegenstände mit. Wer protestiere, werde mitgenommen – und dann
       verliere sich seine Spur für mehrere Tage oder auch Wochen.
       
       „Wenn sie Fragen stellen, haben sie immer die Waffe im Anschlag. Klar,
       dass man dann sagt, was die hören wollen.“ Ihr Nachbar habe einen
       Herzinfarkt erlitten, als er seine gesamten Ersparnisse den Besatzern habe
       übergeben müssen. „Meine Mutter war auf seiner Beerdigung.“
       
       22 Apr 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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