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       # taz.de -- Debatte um Atomausstieg: Ohne Atomkritik keine Erneuerbaren
       
       > Hätten wir zuerst aus der Kohle und dann aus der Atomenergie aussteigen
       > sollen? Warum diese Frage plausibel klingt, aber schon falsch gestellt
       > ist.
       
   IMG Bild: Die letzten Atomkraftwerke werden abgeschaltet, während in Lüzerath noch Braunkohle gefördert wird
       
       Dem Fundamentalkonflikt um die Atomenergie wurde in keinem Land mit so
       großer Hingabe und Ausdauer gehuldigt wie in der alten Bundesrepublik. Es
       passt zu den vielen Skurrilitäten dieser Debatte, dass nun, bevor der
       Vorhang endgültig fällt, noch einmal nachgekartet wird, wobei alle
       Beteiligten noch einmal ihre jahrzehntelang eingeübten Rollen spielen.
       
       Die CDU, die den Ausstieg im Jahr 2011 unter dem Eindruck der dreifachen
       Kernschmelze von Fukushima gemeinsam mit der FDP besiegelt hat, diskutiert
       heute, ob Atomenergie in ihrem neuen Grundsatzprogramm wieder ein
       Zukunftsversprechen sein soll. Nassforsch meldet sich die frühere
       [1][Familienministerin Kristina Schröder] als Expertin zu Wort. Sie will
       einen „historischen Irrtum korrigieren und wieder in die Kernenergie
       einsteigen – was denn sonst?“ Die FDP wittert erneut die Chance, ihren
       schmalen Abstand zur 5-Prozent-Hürde zu vergrößern, [2][indem sie sich pro
       Atomenergie positioniert].
       
       ## Nie war Atomkraft konkurrenzfähig
       
       Es brauchte einen Steinzeit-Imperialisten aus dem Osten, einen von ihm
       angezettelten verheerenden Krieg in Europa und ein [3][Atomkraftwerk namens
       Saporischschja] unter Dauerartilleriebeschuss, um die Verlierer:innen
       des Generationenkonflikts um die Atomenergie noch einmal auf den Plan zu
       rufen. Wir erleben dieser Tage die öffentliche Verarbeitung einer als
       traumatisch empfunden Niederlage.
       
       Dabei könnten sich die Anhänger der Atomenergie entspannen. Denn nicht ihre
       Fehler bei der Durchsetzung dieser Technologie waren letztlich ursächlich
       für deren epochalen Misserfolg, sondern die objektiven Besonderheiten
       dieser Technologie selbst: Sie ist zu riskant und zu schwerfällig. Nie in
       den 70 Jahren ihrer Existenz war sie konkurrenzfähig.
       
       ## Ist die Anti-AKW-Bewegung schuld?
       
       Eher am Rand der Schlussdebatte zetteln einige (darunter die FDP) nun eine
       Art Historikerstreit über die Rolle der Atomenergie in Deutschland an, mit
       der die erfolgreiche Anti-AKW-Bewegung nachträglich ins Unrecht gesetzt
       werden soll. Man stellt die Frage, ob sich die progressiven Kräfte der
       alten Bundesrepublik zu lange und zu ausschließlich an der Überwindung der
       Atomkraft abgearbeitet und darüber die Klimakrise vernachlässigt haben. Ist
       also die Anti-AKW-Bewegung am Ende daran schuld, dass uns nun beim
       Klimaschutz die Zeit davon läuft?
       
       Diese These ist auf den ersten Blick nicht unplausibel. Denn unbestritten
       hätte das Kohleland Deutschland viel früher anfangen müssen, sich ernsthaft
       um den Klimawandel zu kümmern. Ebenso unbestritten ist, dass bei der
       Stromproduktion aus Atomkraft keine Treibhausgase entstehen. Erst aus der
       fossilen Verbrennung auszusteigen, um sich dann um die Risiken der
       Atomenergie zu kümmern, wäre also eine Option gewesen.
       
       ## Die Anti-AKW-Bewegung war milieuübergreifend wirkmächtig
       
       Auf den zweiten Blick jedoch ist schon die Frage falsch gestellt. Denn die
       Option Kohleausstieg first, Atomausstieg second war nicht einmal
       theoretisch im Angebot. Anfang der 1970er Jahre, als sich die Standorte der
       Atomwirtschaft zu Kristallisationspunkten von zuvor eher unabhängig
       voneinander agierenden Strömungen der außerparlamentarischen Opposition
       entwickelten, wussten von der Physik des Treibhauseffekts nur wenige
       Wissenschaftler:innen. Warum also aus der Kohle aussteigen?
       
       Milieuübergreifend wirkmächtig war hingegen seinerzeit der Widerstand gegen
       die Atomkraft. Friedensbewegung, Umweltbewegung, Frauenbewegung,
       Alternativbewegung – sie alle erfuhren im gemeinsamen Widerstand gegen die
       Hochrisikotechnologie einen über ihr jeweiliges Kernanliegen
       hinausweisenden Politisierungsschub. Dieser mündete in die Gründung der
       Grünen Partei.
       
       Die Anti-AKW-Bewegung wurde zum Kitt eines Milieus, ohne das sich späterhin
       auch der Klimaschutzgedanke nicht zum politischen Mainstream der deutschen
       Gesellschaft entwickelt hätte. Schon aus dieser Perspektive war – in der
       Rückschau – die Fixierung auf eine Technologie mit dem traumatischen
       Hintergrund von [4][Hiroshima] und Nagasaki eine ziemlich gute Idee, um die
       Energiewende-Debatte in Deutschland zu begründen.
       
       ## Sinn der Übung war der „Sofortausstieg“
       
       Der nächste Punkt in der retrospektiven Betrachtung der Anti-AKW-Bewegung
       betrifft eine ebenfalls von den handelnden Personen nicht vorgesehene,
       dafür aber umso handfestere Folgewirkung. Sinn der Übung war eigentlich der
       „Sofortausstieg“. Im realen Leben erstreckte sich dieser aber fast über ein
       halbes Jahrhundert.
       
       Die zentrale, wenn auch nicht intendierte Wirkung der Bewegung, die den
       Sofortausstieg forderte, war nicht die schnelle Abkehr von der
       Hochrisikotechnologie, sondern eine Fokussierung auf die Begrenzung der
       Risiken und ihre Ausleuchtung bis in die kleinsten technischen
       Verästelungen hinein. Die Ausprägung von alternativer Expertise, die es bis
       im Laufe der Zeit an die Spitze einschlägiger Bundesbehörden und
       Regierungskommissionen schaffte, hat eine kaum beherrschbare Technologie
       zwar nicht sicher, aber ohne Frage sicherer gemacht. Als Nebeneffekt wurde
       sie abschreckend teuer. Dass dieses dicht besiedelte Land bis heute von
       einem Super-GAU verschont blieb, liegt auch an den unter der
       Dauerbeobachtung ihrer Kritiker:innen vergleichsweise seriös
       betriebenen Atomanlagen.
       
       ## Aus der Bewegung entstanden neue Wissenschaftszweige
       
       Kommen wir zum Kern des Vorwurfs eines strategischen Irrtums der deutschen
       Anti-AKW-Bewegung. Von Anfang an – spätestens jedoch mit der Anerkennung
       des menschengemachten Klimawandels als eines physikalischen Epochenproblems
       – stand die AKW-Kritik unter hohem Rechtfertigungsdruck. Wer aussteigt,
       muss irgendwo anders einsteigen, verlangten die Gegner der Atomkraftgegner
       schon, als der Bezug zur Klimaaufheizung noch gar nicht hergestellt war –
       und sie hatten recht damit.
       
       Die Entwicklung erneuerbarer Energietechnologien zu einer Alternative im
       Energiesystem wurde so in Deutschland früher als anderswo zum Kernauftrag
       einer atomkritischen Wissenschaftler-Generation. Auch hier von historischem
       Irrtum keine Spur. Im Gegenteil, das Ergebnis ist einer der wichtigsten,
       wenn nicht der wichtigste Innovationsschub, den Nachkriegsdeutschland
       hervorgebracht hat: Aus kleinen, schlecht bezahlten, aber hoch motivierten
       Gruppen junger Wissenschaftler:innen entwickelten sich neue,
       ökologisch orientierte Wissenschaftszweige, Institute und Institutionen,
       die heute hohes Ansehen genießen. Sie haben die Energiegewinnung aus Wind
       und Sonne weltweit zu den günstigsten Stromerzeugungstechnologien gemacht.
       
       ## „Aufstand der Amateure“ war ein Auslöser der Transformation
       
       Das aus der Mitte des Deutschen Bundestags formulierte
       Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) wurde zum Treibsatz des weltweiten Booms
       dieser Technologien und ungeplant zum erfolgreichsten
       Entwicklungshilfeprojekt der bundesdeutschen Geschichte.
       
       Ja, es war auch eine teure Veranstaltung, wie die Gegner:innen des
       Stroms aus Wind und Sonne in der Hochlaufphase nicht müde wurden
       anzuprangern. Bezahlt wurde sie von deutschen Stromverbraucher:innen, die
       mit ihren Stromrechnungen die Entwicklungskosten finanzierten. Das Gesetz
       wurde so oder ähnlich in mehr als 100 Staaten der Erde kopiert. Die von der
       FAZ im Jahr 1979 unter dem Beifall damaliger Unionsgranden als „Aufstand
       der Amateure“ denunzierte wissenschaftliche Anti-AKW-Bewegung war ein
       wesentlicher Auslöser der Transformation, die heute weltweit stattfindet.
       
       ## Große Teile der Wirtschaft haben die Seite gewechselt
       
       Es sind vor allem fachfremde Politiker:innen, die sich nun für eine
       gescheiterte Technologie begeistern. Große Teile der Wirtschaft, die über
       Jahrzehnte fundamentaler Antipode der Anti-Atom-Bewegung war, haben längst
       die Seite gewechselt. Als „wirtschaftlichen Unsinn“ geißelte etwa Rolf
       Martin Schmitz, der frühere RWE-Chef, im Jahr 2020 die Idee einer neuen
       AKW-Generation: „Warum soll man Milliarden Euro in eine Technologie
       investieren, bei der die Kilowattstunde Strom mindestens 10 Cent kostet,
       wenn es mit Windkraft schon für 4 Cent geht? Das leuchtet mir nicht ein.“
       
       Ohne die beharrliche Fixierung der frühen außerparlamentarischen
       Oppositionsbewegung auf den AKW-Widerstand gäbe es die neuen Erneuerbaren
       als konkurrenzfähige Energietechnologien heute noch nicht. Deshalb ist
       seltsam, wenn Politiker:innen aus den Parteien, die diese Entwicklung
       über Jahrzehnte zu hintertreiben versuchten, nun angebliche strategische
       Fehler der Anti-AKW-Bewegung beklagen.
       
       15 Apr 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Treffen-des-konservativen-Thinktanks-R21/!5920185
   DIR [2] /AKW-Abschaltungen-in-Deutschland/!5927854
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       ## AUTOREN
       
   DIR Gerd Rosenkranz
       
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