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       # taz.de -- Konzert für Erdbebenopfer in „Verti Music Hall“: Endlich wieder Musik
       
       > Mit Arif Sağ und Kardeş Türküler spielen Größen der türkischen und
       > kurdischen Musik in Berlin. Das Konzert belegt, wie politisch ihre
       > Musiktradition ist.
       
   IMG Bild: Musik-Virtuos*innen bei der Arbeit: Die Gruppe Kardeş Türküler bei einem Konzert 2008 in Izmir
       
       Berlin taz | Das türkische Wort „Yuh“ ist deshalb so schön, weil es eine
       befreiende Wirkung auf denjenigen hat, der es spricht. Die Bedeutung auf
       Deutsch liegt irgendwo zwischen „pfui“, „schäm' dich“ und „weg mit dir“,
       und all das haben einige der größten Musiker*innen aus der Türkei am
       Freitag in Berlin der Regierung des Landes und namentlich dem Präsidenten
       entgegengeschleudert. Es war ein Konzertprogramm, bei dem sich einige
       verwundert die Augen gerieben haben dürften, als sie es sahen.
       
       Es sind die Größen der türkischen und kurdischen Musik, die am Freitagabend
       in Berlin spielen. Jeder von ihnen könnte bequem ein mehrstündiges Konzert
       alleine bestreiten: Darunter Bağlama-Großmeister Arif Sağ, der mit seinen
       78 Jahren und nach längerer Krankheit im Quintett unter anderem mit Cengiz
       Özkan und Yılmaz Çelik auftritt. Aber auch die kurdische Sängerin Aynur
       Doğan und die Virtuos*innen von Kardeş Türküler [1][sind auf Einladung
       der Alevitischen Gemeinde in Berlin gekommen.] Die 4.500 Plätze in der
       „Verti Music Hall“ sind ausverkauft.
       
       Die Bandmitglieder haben sich aus den Trümmern befreien können, [2][ruft
       Barış Atay in den riesigen Konzertsaal.] „Unsere Gruppe kommt aus Antakya.“
       Anfang Februar hat das Erdbeben die Stadt im Süden der Türkei verwüstet. Am
       Freitagabend steht auch Atay mit fünf anderen Musikern seiner neuen
       Folkrock-Band „Mengene“ in Berlin auf der Bühne. Viele Menschen in der
       Halle kennen Atay aber auch aus einem anderen Zusammenhang: Der Mann sitzt
       für die Türkische Arbeiterpartei in der Nationalversammlung des Landes.
       
       Zu ihrem ersten Song klatscht der gesamte Saal im Takt. Das Stück „Yuh,
       Yuh“ des Dichters Mahzuni Şerif (1940-2002) wirft den „Stehlenden, denen
       die das Land berauben und weglaufen“, ein beherztes „Yuh“ entgegen. Weil
       die Ungerechtigkeiten in der Türkei tief verwurzelt und himmelschreiend
       sind, wurde das Lied schon vielfach vertont, darunter auch von Selda Bağcan
       und Ibrahim Tatlıses. Die Gruppe „Mengene“ liefern ihre eigene Version des
       Stücks – ohne das auch als Saz bekannte Seiteninstrument Bağlama und ohne
       das für deutsche Hörgewohnheiten komplizierte Taktmaß, das die türkische
       Volksmusik auszeichnet. Dafür mit prominentem Schlagzeug und kreischendem
       E-Gitarren-Solo, das den Saal ausfüllt.
       
       ## Politische Musiktradition
       
       Es ist klar, wem das „Yuh“ hier gilt, Sänger Barış Atay wird aber trotzdem
       nochmal deutlich: „Nach dem Erdbeben haben wir das erste Mal den Staat
       gebraucht, und er war nicht da.“ Fast zwei Monate nach der Naturkatastrophe
       mit etwa 52.000 Toten leben in der Türkei tausende Menschen in Zelten
       [3][und werfen der Regierung ein desaströses Nothilfe-Management vor].
       Menschenleben hätten gerettet werden können, wäre die Hilfe in der
       Erdbebenregion schneller eingetroffen, sagen Kritiker*innen. Viel Leid wäre
       den Menschen erspart geblieben, wäre in der Region erdbebensicher gebaut
       worden.
       
       Es ist ein politischer Musik-Abend in Berlin. Die Redebeiträge sind auf
       Türkisch, einige wenige Worte auf Kurdisch. Hier geht es einerseits darum,
       nach dem Erdbeben die Menschen zusammenzubringen und musikalisch
       aufzubauen. Andererseits wird mobilisiert: Für die Wahlen am 14. Mai und
       den oppositionellen Politiker Kemal Kılıçdaroğlu, dem ernsthafte Chancen
       zugerechnet werden, der neue Präsident der Türkei zu werden.
       
       Gegen die Mächtigen und gesellschaftliche Ungleichheit aufzubegehren ist in
       das Wesen der türkischen Volksmusik übergegangen. Die politischen Reden
       wirken nicht aufgesetzt, sondern bilden einen fast natürlichen Rahmen um
       die Musik des Abends. Nicht zufällig saß auch Sänger und Liedermacher Arif
       Sağ mehr als zehn Jahre für die sozialdemokratische Partei SHP in der
       türkischen Nationalversammlung.
       
       Der Saal quittiert den Auftritt von Arif Sağ am Freitagabend mit stehendem
       Applaus. Sağ ist einer der letzten noch lebenden Vertreter der älteren
       Musiker-Generation in der Türkei. Er hat einen entscheidenden Beitrag zur
       Popularisierung der Bağlama geleistet. Durch ihn ist das alevitische
       Volksinstrument auch in die intellektuellen Kreise Istanbuls eingezogen.
       Sağ spielt an diesem Abend fünf Stücke mit seinem Sohn Tolga und den
       Künstlern Muharrem Temiz, Yilmaz Çelik und Cengiz Özkan. Das Quintett aus
       vier Bağlamas und einer Cura genannten kleineren Laute wirkt fast
       transzendental – wer sich darauf im Saal nicht einlassen kann, schweift ab.
       
       Es sind die Reden, die den Rahmen und die Struktur des Abends ausmachen.
       Hüseyin Mat, Vorsitzender der Alevitischen Gemeinde in Deutschland, hält
       eine flammende Ansprache: Die türkische Regierung habe es immer noch nicht
       geschafft, vom Erdbeben betroffene Gebiete unter Kontrolle zu bekommen. Es
       sei eine große Hürde, die privaten Hilfen der alevitischen Gemeinden an der
       Regierung vorbei zu den Betroffenen zu bekommen.
       
       Die Alevitische Gemeinde Berlin möchte die Konzert-Einnahmen in die
       Erdbeben-Region spenden. Barış Atay bekommt großen Applaus für diesen Satz:
       „In 45 Tagen werden wir noch einmal ‚yuh‘ rufen und die Regierung
       wegschicken.“ Dann wählt die Türkei nämlich den neuen Präsidenten. Und der
       Saal ist davon überzeugt: Dieses Datum wird das Ende von Recep Tayyıp
       Erdoğans Amtszeit markieren.
       
       1 Apr 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Cem-Odos Güler
       
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