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       # taz.de -- Britische Schriftstellerin A.L.Kennedy: Die Beichte eines Spitzels
       
       > Das Leben einer Grundschullehrerin bricht auseinander in A. L. Kennedys
       > neuem Roman. Da taucht zudem ein verhasster Mann aus der Vergangenheit
       > auf.
       
   IMG Bild: Die Autorin A. L. Kennedy situiert ihren Roman in einem vom Brexit gebeutelten Land
       
       „Verzeihen Sie mir, wenn ich unsere Eingangsszene so darstelle wie in einem
       Film. Ich wollte in keiner Spionagehandlung mitmachen, auch in keinem
       Actionfilm oder Politthriller, aber es ist immer wieder passiert.“ Mit
       diesen Worten wendet sich Anna McCormic, Grundschullehrerin und Erzählerin
       in A. L. Kennedys neuem Roman „Als lebten wir in einem barmherzigen Land“,
       an den Leser. Vor allem muss sie mit den Folgen des Corona-Lockdowns
       fertigwerden.
       
       Zusammen mit ihrem gerade erwachsen gewordenen Sohn sitzt sie in ihrem
       kleinen Haus in einem Londoner Hinterhof fest und versucht mühsam, über den
       Bildschirm den Kontakt zu ihren Schülern aufrechtzuerhalten. Dass ihr
       Freund vom Lockdown in Schottland festgehalten wird, macht das Leben für
       sie nicht leichter.
       
       Aber nicht nur die Folgen von Covid-19 setzen ihr zu. Es sind auch die
       anderen schlechten Nachrichten. Da ist ihre Heimat, die mit dem Brexit
       gerade versucht, ihre alte imperiale Größe auszugraben, und sich dabei auf
       den Weg in die Armut begibt. Da ist der Klimawandel, der für Millionen
       Menschen eine Klimakatastrophe ist und London gerade eine unerträgliche
       Hitzewelle beschert. Ihr größtes Problem aber ist das Auftauchen eines
       Mannes, den sie nie wieder sehen wollte. Den offenbar sein schlechtes
       Gewissen plagt und der ihr Umschläge mit einer Art Lebensbeichte vor die
       Tür legt. Um wieder Boden unter den Füßen zu bekommen, fängt McCormic an zu
       schreiben.
       
       [1][A. L. Kennedy] gelingt es mit „Als lebten wir in einem barmherzige
       Land“, sich mit großem Einfühlungsvermögen in das Leben eines anderen
       Menschen hineinzuversetzen. Ihre Erzählerin Anna McCormic drohen die
       Widersprüche zu zerreißen. Einerseits sieht sie, wie die englische
       Gesellschaft immer mehr auseinanderbricht, andererseits soll sie den
       Kindern in ihrer Klasse Zuversicht und Lust aufs Leben vermitteln.
       Einerseits hat sie mit F. L., wie sie ihren Freund Francis Lewis nennt,
       wenn sie ängstlich und unsicher ist, wieder einen Mann gefunden, zu dem sie
       Vertrauen haben kann, andererseits werden die alten Ängste wieder
       hochgespült, als der Mann wieder auftaucht, der sie auf die widerlichste
       Weise verraten hat.
       
       ## Strategien der Hoffnung
       
       Neben dem Schreiben versucht sie, den Problemen mit verschiedene Strategien
       die Stirn zu bieten. „An jedem Tag kann guter Wille uns auch helfen, gut zu
       sein“, schreibt sie. „Was wäre sonst der Sinn? Und wie bei den
       Fünftklässler-Eicheln ist es auch mit der Welt – wir wären in einem viel
       schlimmeren Schlamassel, wenn wir alle aufgeben würden. Außerdem sollte man
       begreifen: Was wir uns regelmäßig sagen, das werden wir auch.“
       
       Sie nennt den wiederaufgetauchten Mann „Buster“, weil sie seinen wahren
       Namen nicht kennt. Buster, nach „Buster Keaton, dem ungerührten Mann“, dem
       mit dem knochentrockenen Humor. Wobei es Unterschiede gibt. „Busters
       Ausdruck hat nichts mit Können zu tun. Es ist einfach sein glücklicher Ort:
       eine Art Nirgendwo. Er zeigt mir nicht Knochentrocken, er zeigt mir den
       entspannten Psychopathen. Leicht zu verwechseln, wie sich herausstellt.“
       
       Er ist ein „Stilzchen“, einer, der wie Rumpelstilzchen seine böse Macht
       entfaltet, indem er seinen wahren Namen verschweigt. In den 1980er Jahren,
       während ihres Studiums, war er in McCormics Straßentheatertruppe
       aufgetaucht, dem „UnRule OrKestrA“, das bei Streiks und Demonstrationen mit
       Sketchen und Akrobatik auftrat.
       
       Damals nannte er sich „Der Baron“ und seine Nummer bestand darin, dass er
       ein langes Gummiband, an dessen Ende ein Stoffhase befestigt war, mit Hilfe
       eines Kindes um die Zuschauergruppe spannt. Auf Befehl des Kindes hin ließ
       er den Hasen los, der dann um und durch die Gruppe sauste.
       
       ## Ein V-Mann der Londoner Polizei
       
       Irgendwann waren „Der Baron“ und McCormic ein Paar. Bis sich herausstellt,
       dass Buster ein V-Mann der Londoner Polizei ist und von einem Augenblick
       auf den anderen verschwand. Jahrzehnte später erkennt ihn Anne McCormic in
       dem Gerichtsgebäude wieder, in dem ein Prozess gegen das OrKestrA
       stattfindet. Die anarchische Theatertruppe, die sich nach Busters
       Verschwinden aufgelöst hatte, war noch einmal auf einer Demonstration
       aufgetreten. Sie hatten Laternen mit offenem Feuer fliegen lassen, durch
       die es unbeabsichtigt zu einem Brand gekommen war.
       
       Aber wer ist dieser Buster wirklich? Zu der Figur inspiriert hat A. L.
       Kennedy wohl der [2][Polizist Mark Kennedy], der von 2002 bis 2009 erst in
       England und dann in ganz Europa als V-Mann der Londoner Metropolitan Police
       linke Gruppen unterwandert hat. Fünf Jahre lang hatte er eine Beziehung zu
       einer Aktivistin. Als Agent Provokateur hat er verschiedene Gruppen immer
       wieder zu mehr Radikalität angespornt.
       
       Aber er war kein Killer, kein Rächer, der Pädophile und Mafiabosse
       umbringt, wie Buster gleich in der ersten Passage, die A. L. Kennedys
       Erzählerin dem Leser vorlegt, behauptet. Wobei Morde durch die Metropolitan
       Police auch nicht aus der Luft gegriffen sind. 2021 wurde der Polizist
       [3][Wayne Couzens] wegen mehrfacher Vergewaltigung und Mord zu lebenslanger
       Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt.
       
       Der Leser von Kennedys Roman wird im Unklaren darüber gelassen, wer Busters
       Lebensbeichte geschrieben hat: er selbst oder die in Wut, Hass und
       Verunsicherung hin und her geworfene Erzählerin. Ein Hinweis, dass viele
       Teile nicht von ihm stammen, gibt McCormic selbst, indem sie erklärt, dem
       Leser nicht alles aus den Umschlägen vorzulegen. Zudem unterscheidet sich
       eine Passage weiter hinten im Roman in ihrer Schreibweise stark von den
       ersten Teilen.
       
       Oder hat sich Buster auch hier wieder nur verstellt, wie er sich sein
       ganzes Leben lang verstellt hat? A. L. Kennedy hat mit „Als lebten wir in
       einem barmherzigen Land“ einen Roman geschrieben, der auf berührende Weise
       die Geschichte einer Grundschullehrerin in einer prekären Welt erzählt.
       Dazu kommt die irritierend einfühlsame Lebensbeichte eines V-Mannes. Ein
       Buch, das den Stilzchen dieser Welt etwas entgegenzusetzen versucht, oft
       mit Ironie und Sarkasmus, kurz: mit Lachen. Das die großen Fragen des
       Lebens stellt, ohne letztlich Antworten auf sie geben zu können.
       
       Die Frage aber, die A. L. Kennedys Erzählerin bis zum Ende umtreibt und die
       nicht nur mit Buster zu tun hat, sondern mit etwas anderem Schrecklicheren,
       eine Frage, die für sie selbst existentielle Bedeutung hat, ist die nach
       der Barmherzigkeit: Wie kann man barmherzig gegenüber jemandem sein, der
       etwas Unverzeihliches getan hat?
       
       5 Apr 2023
       
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