URI: 
       # taz.de -- Nachruf auf einen wilden Freund: Wer die Kurve kriegt
       
       > Seine Autos und Motorräder waren schnell, seine Unfälle spektakulär. Doch
       > M. bekam die Kurve und baute sich was auf. Nun ist mein wilder Freund
       > gestorben.
       
   IMG Bild: Wer die Kurve kriegt, ist noch lange nicht auf der sicheren Seite
       
       Sich zu entziehen wissen – das war unsere Parole gewesen als halbwüchsige
       Hilfsverpflichtete im elterlichen Haushalt. Dass es schlimmer kommen
       konnte, als die Arbeit kennen und sich nicht zu drücken, wurde uns klar,
       als M.s Eltern ihn sitzen ließen: Er hatte jetzt jeden Tag sturmfrei, was
       folgte, waren „Star Wars“-Nächte ohne Ende, mit VHS und Mirácoli.
       
       Im Suff hatte irgendwer, ich hoffe nicht ich, die Idee, die übrigen
       Spaghetti im Klo zu entsorgen. Da zogen sie dann durch, bis sie wer
       rausholte, möglicherweise ich. M. musste bald raus aus der buchstäblichen
       Scheiße, in der die Wohnung versank, all das war eine Riesentragödie, aber
       [1][wir waren 18 und tranken besinnungslos Bierkästen aus], ein Teil von
       M.s Sachen kam ins Umzugsauto, ein Teil in den Müll, darunter alle seine
       wichtigen Dokumente, das war ziemlich sicher ich. Er verfluchte mich, wir
       kamen wieder zusammen, waren aber schon auf getrennte Gleise gesetzt.
       
       Der Sommer 74 ist mit milchiger Patina überzogen, es war der letzte Sommer
       vor der Schule, als ich begann, allein draußen zu spielen, als ich M.
       kennenlernte, auf dem Spielplatz vom Nachbarblock. Er war klein, zart und
       hatte Schneckerlhaare, er war frech und mutig, auf dem Nachhauseweg von der
       Grundschule, in die wir ab September gingen, prügelten wir uns jeden Tag,
       um uns nach Mittagessen und Hausaufgaben selbstverständlich wieder
       abzuholen.
       
       Daheim bei ihm roch es nach Zigaretten und Weichspüler, ein
       verführerisch-abstoßendes Gemisch, das sich mir tief eingeprägt hat, ich
       konnte dort nie übernachten. Nach der vierten Klasse kam ich aufs
       Gymnasium, M. blieb auf unserer Schule sitzen. Wir sahen uns noch auf dem
       verbotenen Bolzplatz mit dem irren Hausmeister. M. brachte mir bei, wie man
       GSG9-mäßig über die Zäune plankte und sich vor seiner Mordlust rettete.
       
       ## Seine Autos wurden schneller, seine Unfälle spektakulärer
       
       Manchmal kam M. mit auf meine Schulfeste, schüttete sich Whiskey in seine
       Cola, sagte nichts, tanzte nicht, ging eine rauchen und nahm das schönste
       Uptowngirl des Abends auf seiner 80er-Enduro mit in die Nacht. Er zog in
       eine WG mit Bohemefreunden von mir, der Konflikt wurde mörderisch, er zog
       zum Glück für die anderen gerade noch rechtzeitig aus. Dann stellte er uns
       alle in einem Pizzaausfahrdienst an, gründete Firmen, politisierte
       problematisch, legte Offenbarungseide ab.
       
       Seine Autos und Motorräder wurden schneller, seine Unfälle spektakulärer.
       Hätte mich wer angerufen und gesagt, M. sei auf einer Südtiroler Passstraße
       aus der Kurve getragen worden, ich hätte geschluckt und [2][„In the Dutch
       Mountains“] gesummt, seinen Lieblingssong in Verbindung mit
       Geschwindigkeit.
       
       Aber M. bekam sie, die Kurve, er baute sich was auf, eine Familie, eine
       Eigentumswohnung, einen Weinberg, er schuf sich eine eigene Ordnung, er
       konnte mit allen Menschen sprechen, ohne ihre Sprache zu lernen, er wurde
       wer, in dem neuen Land, das er sich erschlossen hatte. Gestorben ist er
       jetzt allein im Bett, mein wilder Freund, mein kleiner großer
       gleichaltriger Bruder.
       
       17 Apr 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Alkoholfreier-Januar/!5906658
   DIR [2] https://www.youtube.com/watch?v=-o86s10YyBo
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ambros Waibel
       
       ## TAGS
       
   DIR Kolumne Das bisschen Haushalt
   DIR Tod
   DIR Jugend
   DIR Alkohol
   DIR Kokain
   DIR Joggen
   DIR Kolumne Das bisschen Haushalt
   DIR Kolumne Das bisschen Haushalt
   DIR Kolumne Das bisschen Haushalt
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Aufputschen im Alltag: Der nette Mann mit dem Koks ist da
       
       Mit stimulierenden Mikrodosierungen flirtet inzwischen auch mancher
       Elternzeit-Vati. Unser Autor hat dagegen schon lange keine Lust mehr
       darauf.
       
   DIR Joggen gehen und nachdenken: So schön lost and alone
       
       Unser Autor mag es, sich in Innenräumen aufzuhalten - aber noch lieber,
       draußen zu sein. Beim Joggen denkt er über Romane nach und hat dabei
       Erkenntnisse.
       
   DIR taz zwei auf Klausur in Brandenburg: Die Dialektik des Chaos
       
       Beim Geschirreinräumen entstehen Konflikte. Die Älteren sehnen sich nach
       Ordnung, während die Jüngeren jede vorhandene Leerstelle mit Chaos füllen.
       
   DIR Journalismus und Haushalt: Dem Moloch geopfert
       
       Eitel ist der Journalismus. Sehr eitel. Aber irgendwer muss die Bude
       putzen, bevor wieder neuer Dreck entstehen kann.
       
   DIR Unordnung im Zusammenleben: Der besonnene Wasserträger
       
       Nicht jeder hält Unordnung aus. Der Deutsche sieht überall nur halbleere
       Gläser statt halbvolle. Immerhin schafft er es, nicht cholerisch zu werden.