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       # taz.de -- „Antigone“-Inszenierung in Berlin: Mustern entkommen
       
       > Die eigenen Grenzen überwinden: An diesem Ziel arbeitet Leonie Böhms
       > Inszenierung „Antigone“ im Gorki Theater Berlin, bleibt aber zu
       > allgemein.
       
   IMG Bild: Therapiesprech, doch die Traumata bleiben im Vagen: „Antigone“ im Gorki-Theater
       
       Am Ende wälzen sich die vier Schauspielerinnen größtenteils nackt im
       Schlamm. Sie tanzen, schlagen sich auf die Brüste, schütteln ihre Pobacken
       und freuen sich über Scheiße in der Unterhose. Ein infernalischer Anblick,
       ein Akt der – ja, was eigentlich – befreit?
       
       Anderthalb Stunden lang haben diese vier Frauen am Sonntagabend auf der
       [1][Bühne des Berliner Maxim Gorki Theaters] existenzielle Fragen
       miteinander verhandelt. Es ist die Premiere von „Antigone“ unter der Regie
       von Leonie Böhm. Es geht um Tod, um Mut, die Erbsünde. Vor allem aber geht
       es um die Angst davor, Grenzen zu überwinden, den inneren Schweinehund oder
       auch nur die eigene Komfortzone zu verlassen.
       
       Es wird gelacht, geflucht, getanzt, geheult, gesungen. Ein Abend zum
       Haareraufen. Herausfordernd, mal ermüdend, mal überfordernd. Mal einfach
       nur nervtötend. Nach der Verzweiflung folgt hier die Überwindung in einem
       Akt, der unangenehm an eine Urschrei-therapie erinnert. Einmal losgebrüllt
       und alle Probleme sind wie weggeblasen. Wäre es doch nur so einfach.
       
       ## Keine Antigone-Adaption, eher Inspiration
       
       Grenzüberschreitung und Überwindung – das sind die zentralen Begriffe, um
       die es in dieser Antigone-Adaption geht. Adaption ist vielleicht das
       falsche Wort. Die Antigone von Sophokles ist nicht mehr als eine
       Inspiration für freie Assoziationen. Antigone-Motive und -Zitate dienen
       dazu, einen ganz und gar eigenständigen Theaterabend zu entwickeln. Wer
       hier ins Theater geht, um Sophokles’ Antigone zu erleben, wird sich sehr
       wundern.
       
       [2][Leonie Böhm,] 41, hat sich mit dieser Art von Klassikerbearbeitungen
       einen Namen gemacht. Sie nimmt sich die bekannten Stoffe des Theaterkanons
       vor und befreit sie von allen Kausalitäten des Originaltextes. Böhm
       interessieren die Gedanken, die Gefühle, die das Geschehen vorantreiben.
       Nicht die Geschichte an sich. Heraus kommt eine intime Bestandsaufnahme
       menschlicher Interaktion.
       
       Wer ins Theater geht, um sich Geschichten erzählen zu lassen, ist bei
       Leonie Böhm an der falschen Adresse. Wer sich von radikaler Ehrlichkeit im
       zwischenmenschlichen Miteinander berühren lässt, ist bei ihr genau richtig.
       Mit ihrem Regieansatz trifft Böhm einen Nerv. Sie ist gefragt im
       deutschsprachigen Theater, inszeniert an den großen Häusern in Hamburg,
       Basel oder Zürich. Zu den von ihr adaptierten Klassikern gehören Goethes
       „Faust“, Shakespeares „Romeo und Julia“ oder Schillers „Die Räuber“. Mit
       ihrer am Schauspielhaus Zürich erarbeiteten „Medea“ wurde sie 2021 zum
       Theatertreffen eingeladen.
       
       ## Vorbild für Zivilcourage
       
       Jetzt also die „Antigone“ von Sophokles: die antike Heldin, die sich der
       Staatsräson widersetzt, weil sie an die übergeordnete Macht der Götter
       glaubt. Ein frühes Vorbild für Zivilcourage. Die in der Originalvorlage
       jedoch nicht glücklich macht. Am Ende wird sie lebendig in einer Grabkammer
       eingesperrt und begeht dort kurz vor ihrer Befreiung Suizid.
       
       Leonie Böhms Ansatz, den Antigone-Stoff allein auf das Motiv der
       Grenzüberschreitung abzuklopfen, ist also erst mal interessant. Zu Hilfe
       kommen ihr mit Lea Drager, Eva Löbau, Julia Riedler und Çiğdem Teke vier
       großartige Schauspielerinnen. Gleich zu Anfang werfen sie sich aufeinander,
       saugen aneinander und tauschen am Ende der Szene Spucke aus. Hier sind vier
       Schauspielerinnen, die bereit sind, gemeinsam ihre Scham- und Ekelgrenzen
       auszutesten.
       
       Böhms Inszenierung setzt da an, wo es im Original noch Hoffnung gibt, wo
       noch offen ist, ob der nächste Schritt in den Tod führt. Oder in ein
       besseres Sein. Das Happy End ist noch greifbar. Der mit schwarzem Stoff
       abgehängte Bühnenraum erinnert zwar an das Grab, in dem Antigone am Ende
       des Originals lebendig begraben wird. Eine hell erleuchtete Öffnung an der
       hinteren Bühnenwand aber weist auf einen noch möglichen Ausweg hin.
       
       Vielleicht ist es doch möglich, die vererbten Traumata und Verhaltensmuster
       zu überwinden? Was passiert, wenn sich die Menschen so sehen und lieben,
       wie sie sind? Wenn sie im Tod nicht allein sein müssen?
       
       Alles wichtige Themen, von Böhms Schauspielerinnen eindringlich
       dargestellt. Doch leider kommt die Inszenierung über allgemeinen
       Therapiesprech nicht heraus. Die Traumata bleiben im Vagen. Auf die Frage,
       warum es erstrebenswert sein sollte, Grenzen zu überwinden, gibt es keine
       Antwort. Und warum, um Gottes willen, sollte alles gut sein, wenn sich nur
       mal alle genüsslich im Schlamm respektive ihrer eigenen Scheiße wälzen?
       
       Theater muss nicht auf alles eine Antwort geben. Aber ein paar Hinweise
       wären da ganz hilfreich gewesen.
       
       18 Apr 2023
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Verena Harzer
       
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