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       # taz.de -- Debatte über tödliche Polizeigewalt: „Ich kriege keine Luft!“
       
       > Regelmäßig ersticken Menschen, weil sie von der Polizei bäuchlings auf
       > dem Boden liegend fixiert werden. KOP fordert ein Verbot dieser Praxis.
       
   IMG Bild: Bei der Fixierung gehen Polizist*innen oft sehr gewaltsam vor – teils mit tödlichen Folgen
       
       Berlin taz | In der Nacht auf den 4. November 2019 gerät der [1][Schwarze
       Zefanias M.] im U-Bahnhof Hermannstraße in eine zunächst verbale
       Auseinandersetzung mit Sicherheitskräften. Die Polizei wird gerufen – und
       behandelt M. sofort wie einen Beschuldigten. Die Situation eskaliert, M.
       wird geschlagen und bäuchlings auf dem Boden fixiert. „Ich kriege keine
       Luft!“, habe er gerufen, doch die Polizisten hätten minutenlang nicht von
       ihm abgelassen. Mehrfach sei er ohnmächtig geworden.
       
       „Ich war nah am Erstickungstod“, sagte der 30-jährige Musiker nun, mehr als
       drei Jahre später, vor über 70 Leuten, die am Dienstagabend in das
       Nachbarschaftszentrum Urban zur Veranstaltung „let us breathe“ gekommen
       sind. Sie diskutierten dort mit der „Kampagne für Opfer rassistischer
       Polizeigewalt“ (KOP) über eine umstrittene Polizeipraxis, bei der Menschen
       ersticken können, weil sie auf dem Bauch liegend fixiert werden. Oft noch
       mit einem Knie auf dem Kopf oder im Nacken.
       
       Zusätzliche Aktualität erlangte die Diskussion durch den [2][Tod des
       45-jährigen Bulgaren Vitali N.], der nur eine Woche zuvor bei einem
       Polizeieinsatz in Königs Wusterhausen ohnmächtig geworden und am Tag darauf
       im Klinikum Neukölln verstorben war. Bei der Veranstaltung spielte dieser
       Todesfall allerdings keine Rolle.
       
       Bei der KOP kennt man bislang nur Medienberichte über den Einsatz und den
       Tod von Vitali N., sie wollen weitere Ergebnisse abwarten und Kontakt zu
       den Angehörigen aufnehmen, heißt es am Dienstag. Noch sind die
       Untersuchungen im Fall Vitali N. nicht abgeschlossen, doch es gibt Hinweise
       darauf, dass die Fixierung durch die Polizei auch bei ihm zum
       „lagebedingten Erstickungstod“ geführt haben könnte.
       
       ## People of Color besonders oft betroffen
       
       Spätestens seitdem 2020 der schwarze US-Amerikaner George Floyd von einem
       Polizisten bei seiner Festnahme mit dem Knie im Nacken [3][erstickt worden
       war], ist auch hierzulande bekannt, dass diese umstrittene Polizeipraxis
       tödlich sein kann. Dass eine Fixierung in Bauchlage also lebensgefährlich
       ist und zum Tod führen kann, ist seit vielen Jahren auch innerhalb der
       Polizeibehörden bekannt.
       
       „Der lagebedingte Erstickungstod ist die Folge von Atemnot und
       Herzstillstand“, stellen die Polizeiwissenschaftler Wolfgang Mallach und
       Thomas Feltes in einem Beitrag für das „Handbuch polizeiliches
       Einsatztraining“ fest. „Dies gilt insbesondere dann, wenn als
       Zwangsmaßnahme Handschellen hinter dem Rücken in Kombination mit der
       Platzierung der Person in einer Bauchlage angewendet werden. Auch das
       Auflegen eines Knies oder Gewichts auf die zu fixierende Person und
       insbesondere jede Art von Druck auf den Hals kann problematisch sein.“
       Faktoren wie ein psychischer Ausnahmezustand, Drogen- oder Alkoholkonsum
       kommen erschwerend hinzu, gefährlich wird es auch, wenn der Fixierte in
       Panik verfällt oder fettleibig ist.
       
       Dennoch sei dies auch in Deutschland gängige Polizeipraxis, sagt
       Rechtsanwalt Armin Grimm, der Strafverteidiger von Zefanias M., die
       Rechtslage hierzu sei unklar: „Es gibt keine Verordnung, die das
       untersagt“, sagt Grimm. Es sei zwar nicht offiziell Teil der Ausbildung,
       werde aber scheinbar im Rahmen der Gefahrenabwehr angewendet. Und so kommen
       auch in Deutschland immer wieder Menschen dadurch ums Leben; besonders oft
       sind People of Colour, Migrant*innen und Menschen mit psychischen
       Erkrankungen betroffen.
       
       ## Nicht Bestandteil der Ausbildung, aber der Praxis
       
       Zwar antwortete die Berliner Landesregierung im Oktober 2022 auf eine
       schriftliche Anfrage von Abgeordneten der Linkspartei, eine Fixierung von
       Verdächtigen auf dem Boden mithilfe des Knies auf Brust, Rücken oder Nacken
       sei „nicht Bestandteil der polizeilichen Ausbildung“. Doch die KOP hat da
       andere Beobachtungen gemacht.
       
       „Die machen das regelmäßig“, sagt KOP-Mitbegründer Biplab Basu. Das hätten
       zuletzt etwa Zeug*innen bei einem Polizeieinsatz im August 2022 im
       Wrangelkiez beobachtet, und das hat auch Zefanias M. nach eigenen Aussagen
       erleiden müssen. Diese Art der Fixierung wende die Polizei im Dienstalltag
       also offensichtlich an.
       
       Was kann man tun, wenn man Betroffene*r oder Zeug*in eines solchen
       Einsatzes wird? Alles genau aufschreiben, empfiehlt Basu: was passiert wo,
       wie viele Beamt*innen sind beteiligt, welche Dienstnummer haben sie. Zum
       Arzt gehen, Gedächtnisprotokoll erstellen, mit anderen Zeug*innen
       sprechen. Sich an eine Hilfsorganisation wie KOP wenden.
       
       ## Wenn möglich filmen
       
       „Wir müssen klarmachen, dass diejenigen, die Polizei, Staatsanwaltschaft
       und Medien als Täter darstellen, nicht automatisch die Täter sind“, sagt
       Basu. Er regt an, politisch auf ein Verbot der polizeilichen Fixierung in
       Bauchlage hinzuarbeiten. Wer solche Einsätze beobachte, solle sich verbal
       einmischen und wenn möglich filmen.
       
       Zefanias M. hat Anzeige gegen die Polizei erstattet. Doch zunächst wird er
       selbst wegen Beleidigung und Widerstands zu einer Geldstrafe verurteilt.
       Doch hätten Überwachungskameras nicht die 50 Minuten dauernde
       Auseinandersetzung im U-Bahnhof aufgezeichnet, wäre das Urteil gegen ihn
       wohl höher ausgefallen. Allerdings fehlen bei drei Kameras jeweils etwa 15
       Minuten, die für die Polizisten belastendes Material beinhalten könnten.
       Warum, ist nicht klar.
       
       M. ist gegen sein Urteil in Berufung gegangen. Auf die Verhandlung gegen
       die Polizisten wegen Körperverletzung im Amt wartet er noch immer. Er sagt,
       mögliche Beweisvideos sollten an eine unabhängige Beschwerdestelle gehen.
       Damit nicht wieder Sequenzen fehlen.
       
       19 Apr 2023
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Darius Ossami
       
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