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       # taz.de -- Deutscher Arbeitsmarkt: Den Tarifdschungel lichten
       
       > Löchrige Tarifverträge, Sonderbelohnungen, ungeklärte Zuständigkeiten –
       > der Wirrwarr auf dem deutschen Arbeitsmarkt schadet Beschäftigten und
       > Firmen.
       
   IMG Bild: Ein Zugbegleiter der Deutschen Bahn bei der Arbeit: Was ist Belastung, und wie wird sie bezahlt?
       
       Wenn die Tarifrunde im öffentlichen Dienst vorbei ist, ob mit Schlichtung
       oder langen Streiks, wird es wieder gemütlich. Die Bahn fährt, der Müll
       kommt weg, und der nächste spürbare [1][Streik] liegt wieder in weiter
       Ferne. Verdi und EVG werden stolz verkünden, dass vor allem die unteren
       Einkommen einen guten Schluck aus der Pulle bekommen haben, die Arbeitgeber
       von schmerzhaften, aber notwendigen Erhöhungen sprechen.
       
       Danke, und tschüs bis zum nächsten Mal? Das wäre ein Fehler. Es wird
       höchste Zeit, dass Tarifpartner nicht nur höhere Löhne verhandeln, sondern
       über den Inhalt der Tarifverträge sprechen: den Wert der Arbeit. Denn die
       Welt der [2][Tarifverträge] ist bei Weitem nicht so schön und harmonisch,
       wie sie gerne präsentiert wird. Nicht nur, weil die Tarifbindung sinkt –
       nicht mal jeder zweite Beschäftigte arbeitet unter dem Dach eines
       Tarifvertrags. Es rumst auch gewaltig in den bundesweit 80.000
       Tarifverträgen. Die fehlende Debatte darüber ist eine Gefahr für anstehende
       Herausforderungen wie die demografische Entwicklung.
       
       Das Problem fängt bei der Konkurrenz unter den Gewerkschaften an, die nicht
       nur die Lokführergewerkschaft und die EVG pflegen. Mit der Digitalisierung
       verschwimmen Branchengrenzen; da werden IT-Experten mal von der IG Metall,
       mal als Dienstleister von Verdi umworben, Solarenergieleute von der IG BCE
       und von der IG Metall – alle mit eigenen Lohnvorstellungen. Da sind mal im
       Betrieb Kantine, Reinigung und IT outgesourct und mehrere Gewerkschaften
       rangeln um Anteil am selben Kuchen. Da stehen in einer Branche
       Haustarifverträge neben Flächenverträgen neben Betrieben ohne jeden
       Tarifvertrag. Wo es dank Demografie richtig eng wird, greift die
       Personalabteilung zur außertariflichen Bezahlung oder anderen, mehr oder
       weniger versteckten Nasenprämien. Etwa eine „Personalgewinnungsprämie“ von
       zigtausend Euro, und ein monatliches Sahnehäubchen obendrauf. Was soll man
       auch machen? Die Fachkraft wird gebraucht. Und die Nasenprämien werden
       immer mehr. Beim Bayer-Konzern in Leverkusen sind von 7.000 Beschäftigten
       2.500 außertariflich beschäftigt.
       
       So what, freier Markt, ging doch bisher gut. Ja, aber in Zeiten des
       Fachkräftemangels, dessen erste Auswirkungen zu spüren sind, bald nicht
       mehr. Aus einem friedlichen Nebeneinander löchriger Tarifverträge,
       stillschweigend akzeptierter Sonderbelohnungen und ungeklärter
       Zuständigkeiten könnte eine gefährliche Konkurrenz zwischen Stadt, Land,
       Ost, West, kleinen und großen Betrieben und zwischen Branchen werden. Denn
       die Nasenprämie kann die Kommune, das Pflegeheim, die kleine Bäckerei im
       3.000-Seelen-Städtchen nicht zahlen – Konzern sticht Kleinbetrieb,
       Metropole Dorf, Achtstundentag Schichtbetrieb. Die Verlierer: die
       Beschäftigten, die sich fragen, was ihre Arbeit denn nun wert ist, und in
       dem Tarifwirrwarr längst keine Orientierung mehr sehen.
       
       Einfach alle mal für mehr Geld streiken, rufen Freunde der einfachen
       Lösungen, dann wird alles gut. Wer braucht schon Tarifregeln, Tarifpolitik
       und anstrengende Verhandlungen? Aber wildes Streiken aller gegen alle löst
       die Frage nicht, welcher Job wie viel wert ist.
       
       Der erste Schritt wäre: aufräumen im Tarifdschungel. Das geht – die
       Metallbranche hat es schon mal durchgemacht. Vor rund 20 Jahren hat die IG
       Metall gemeinsam mit dem Arbeitgeberverband sich jeden Arbeitsplatz
       vorgenommen und durchgeprüft. Anlass war die Erkenntnis, dass der ehemals
       klare Tarifrahmen völlig veraltet und zerlöchert war. In einem jahrelangen
       Prozess wurde also jede Handreichung, jede Jobbeschreibung neu bewertet;
       Tausende Unternehmen stellten ihre Lohnstruktur um. Die Lohngrenze zwischen
       Angestellten und Arbeitern fiel; der CNC-Fräser mit digitaler
       Zusatzqualifikation konnte mehr wert sein als der Sekretär im
       Vorstandsbüro. Der Prozess hat Zeit, Tränen, Wut und Nerven gekostet. Aber
       er war sinnvoll.
       
       Diese Fragen stellen sich heute wieder: Ist die IT-Expertin wirklich mehr
       wert als viele andere, nur weil viele nicht verstehen, was sie macht – und
       schon gar nicht, ob sie es gut macht? Nur weil der IT-Mensch (relativ)
       selten ist? Ist die Systemadministration im Autokonzern mehr wert als in
       der Stadtverwaltung? Wie viel ist die Arbeit eines Krankenpflegers wert –
       in München oder in einer ländlichen Kleinstadt in Mecklenburg? Zulage,
       Sonderzahlung, Extraurlaub – wann für wen? Was ist Belastung, und wie wird
       sie bezahlt: Warum gibt es in der Industrie eine Schmutzzulage, aber keine
       Zulage für die, die täglich Gewaltvideos aussortieren müssen? Und dass die
       Gleichstellung von Mann und Frau auch in allen Tarifverträgen überprüft
       werden sollte, ist längst überfällig.
       
       Und die Politik lehnt sich zurück und schaut zu? Mitnichten. Maßnahmen wie
       gesetzlich verankerte Personalgewinnungspämien, wie im öffentlichen Dienst,
       schüren den Neid, statt ihn zu dämmen. Und auch wenn kaum ein Mensch den
       Deutschen Qualifikationsrahmen (DQR) kennt – er gehört auf den Prüfstand.
       Die Institution von Politik und Verbänden unter dem Dach einer
       Bund-Länder-Koordinierung ordnet Abschlüsse und Qualifikationen ein,
       sprich, ob der Meisterabschluss so viel wert ist wie der Master. Da ist
       dann eine Pflegefachfrau seit Jahren auf Niveau 4 – trotz Forderungen, das
       endlich anzuheben, trotz der Tatsache, dass die EU die Fachkraft auf Niveau
       6 einordnet. Wer für sie eine bessere Einstufung in Deutschland fordert,
       läuft gegen Wände. Das dürfte nicht die einzige Baustelle sein.
       
       Das große Aufräumen ist keine leichte Aufgabe, nicht für die Tarifpartner,
       nicht für die Politik, nicht für die Beschäftigten. Aber eine dringend
       notwendige. Die Verträge und Regeln aus vordigitalen, von der
       Nachkriegsgeneration geprägten Zeiten sind keine Basis für die Zukunft.
       
       20 Apr 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Maike Rademaker
       
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