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       # taz.de -- Unterwegs im abendlichen Regionalzug: Das Fürsorge-Geschenk
       
       > Im Regionalzug traf ich eine Zugbegleiterin, die allein reisenden Frauen
       > kostenlos einen Platz in der ersten Klasse anbot. Was für ein netter
       > Mensch.
       
   IMG Bild: Kann entspannend sein oder beängstigend: Regionalzug in der Dämmerung, hier in Bayern
       
       Es wird Abend nach einem sonnendurchtränkten, anstrengenden Tag. Eine Möwe
       hat mir eben im Flug ein Brötchen aus der Hand gerissen. Ich habe es mit
       meinem Rad knapp in einen der letzten Regionalzüge nach Hamburg geschafft.
       
       Im Zug kann ich mein Rad im Fahrradabteil nicht anbinden, daher halte ich
       mich in Sichtweite. Im Viererabteil davor sitzt ein großer Mann, der laut
       in ein Telefon spricht, neben sich einen Döner. Ich setze mich etwas weiter
       von ihm weg.
       
       Plötzlich erklingt eine Durchsage, dass wir in drei Stunden unsere
       Endstation Hamburg-Altona erreichen: „Schauen Sie aus dem Fenster. Genießen
       Sie gleich den Sonnenuntergang“, sagt eine freundliche Stimme.
       
       Ich blicke von meinem Buch auf. Draußen beginnt das Licht vom Tag in den
       Abend zu kippen. Windräder ziehen vorbei. Kurz darauf kommt die
       Zugbegleiterin, der die Durchsage-Stimme gehört, und kontrolliert die
       Tickets.
       
       „Ist es nicht toll, wie weit man heute sehen kann“, sagt sie. Wir blicken
       zusammen aus dem Fenster, sprechen über die Orte, die wir in der Ferne
       erblicken. Es wirkt, als hätte die Zugbegleiterin alle Zeit der Welt.
       Vielleicht liegt es daran, dass der Zug so leer ist. „Sie fahren bis nach
       Hamburg?“, fragt sie. „Wenn es gleich dunkel wird, können sie sich ruhig
       vorne in die erste Klasse setzen. Dann ist es nämlich manchmal unangenehm,
       wenn man hier so allein sitzt und es um einen herum dunkel wird.“
       
       „Aber ich habe hier mein Rad“, sage ich. „Ketten Sie es einfach da an die
       Mitte im Gang an die Stange an“, sagt sie.
       
       Danach gehe ich ins Erste-Klasse-Abteil. Es ist ein erleichterndes Gefühl,
       als ich mich setze. Die Sitze sind weich, es ist ruhig und hell hier. Ich
       spüre, wie ich sofort entspanne.
       
       Die Zugbegleiterin kommt wieder vorbei: „Na, ist gut oder?“ Sie lächelt.
       
       Später kommt ein junges Mädchen mit einem Klappstuhl in den Waggon. Ich
       frage mich, ob sie auch wie ich kein Erste-Klasse-Ticket hat. Als die
       Zugbegleiterin kommt, bedankt sich das Mädchen bei ihr: „Sehr aufmerksam
       von Ihnen.“ „Ja ich bin froh, wenn ich euch Mädchen und Frauen, die so spät
       abends allein reisen, bei mir hab“, sagt die Zugbegleiterin. „Es ist ja so
       schade, wenn das Erste-Klasse-Abteil leer ist.“
       
       Ich denke, dass sie die erste institutionelle Vertreterin überhaupt ist,
       die sich eigenständig um dieses Gefühl kümmert, das man sonst mit sich
       allein teilt. Abends allein [1][im Dunkeln] aufzupassen. Sie ist die Erste,
       der ich begegne, die das mitdenkt. Das Gefühl ist schon so tief in mich
       hinabgesunken, abends darauf zu achten, wer mit mir in einem leeren Abteil
       sitzt, dass ich gar nicht mehr darüber nachdenke. Eine Art internalisierte,
       proaktive Selbstverteidigung einer Frau. So traurig das ist.
       
       Die Videoüberwachung ist ja nur [2][eine vermeintlich sichere]. Denn es ist
       ja nicht so, dass einen dahinter eine Sicherheitsperson ständig im Blick
       hätte und sich direkt mit einem Hubschrauber ins Abteil abseilen lassen
       könnte, wenn etwas geschieht. Die Kamera beurteilt oft nur im Nachhinein,
       was passiert ist.
       
       ## Draußen geht die Sonne tiefrot unter
       
       Später steigt noch eine dritte Frau in das Erste-Klasse-Abteil. Draußen
       geht die Sonne tiefrot unter. Ich werde müde, strecke mich aus und schlafe
       ein. Als ich aufwache, schläft auch das Mädchen hinter mir. Es ist eine
       friedliche Atmosphäre. Ein exklusiver Erste-Klasse-Wagen für [3][Frauen],
       persönlich bewacht von einer Zugbegleiterin.
       
       Später unterhält sich die Zugbegleiterin mit der letzten Frau, die
       zugestiegen ist. „Ich habe in Altona drei Stunden Aufenthalt“, sagt sie.
       „Iiihhhh“, antwortet die Zugbegleiterin mitfühlend. „Aber dann können Sie
       ja im nächsten Zug schlafen.“ „Ich kann in Zügen nicht schlafen. Vor allem,
       wenn meine Kinder dabei sind“, sagt die Frau. „Aber jetzt sind Sie ja
       allein“, sagt die Zugbegleiterin. „Einfach loslassen, einfach fließen
       lassen.“
       
       Wie sie auf alle eingeht, denke ich. Was für ein netter Mensch. Mir fällt
       plötzlich auf, dass sie wie eine Mutter hier für alle Frauen ist. Und wie
       gut es tut, diese Fürsorge geschenkt zu bekommen.
       
       7 May 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Christa Pfafferott
       
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