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       # taz.de -- Protest der Letzten Generation in Berlin: Klebriger Vorgeschmack in Berlin
       
       > Mit einer Blockade des Regierungsviertels wollte die Letzte Generation in
       > Berlin protestieren. Doch dann zogen die Aktivisten an anderen Stellen
       > auf.
       
   IMG Bild: Rabiater Griff: Ein Polizist führt einen Demonstranten am Donnerstag auf der Straße des 17. Juni ab
       
       Berlin taz | Morgens kurz vor 7 Uhr in einer Ferienwohnung in der ersten
       Etage eines unsanierten Altbaus nahe dem Berliner Alexanderplatz: Eine
       Gruppe von neun Klimaaktivist:innen der Letzten Generation macht sich
       [1][am Donnerstag für den Protest bereit.] Im Flur beim Anziehen der Schuhe
       die letzten Absprachen: „Wer packt die Erdnüsse ein?“ „Hast du Lust, das
       Banner zu nehmen?“ „Du klebst außen.“
       
       Mittendrin und stets mit dem Blick auf die Uhr ist Rosa Reinisch, eine
       34-jährige Studentin aus Göttingen, die seit Dienstag in der Stadt weilt,
       um ihren Teil dazu beizutragen, Berlin zum Stillstand zu bringen. Die Nacht
       habe sie „nicht so gut geschlafen“, sagt sie leise, wie immer sei die
       „Aufregung und Anspannung groß. Mit entschlossenem Blick fügt sie aber
       hinzu: „Wir wissen, was wir zu tun haben.“
       
       Reinisch nimmt das zusammengerollte große Banner und steckt es in ihren
       Rucksack, an dem ein Anhänger in Regenbogenfarben baumelt. Sie lotst ihre
       Bezugsgruppe zur Straßenbahnhaltestelle, von der es mit Umstiegen auf S-
       und U-Bahn bis nach Berlin-Charlottenburg geht. „Ist das überhaupt beim
       Regierungsviertel“, fragt sie.
       
       Im Zentrum der bundesdeutschen Politik wollte die Letzte Generation ihre
       Protesttage am Donnerstag und Freitag starten, ehe ab Montag die ganze
       Stadt lahmgelegt werden soll. So war es angekündigt. Mehr als 900
       Aktivist:innen haben sich angemeldet. Die politische Forderung lautet:
       Die Bundesregierung solle einen Gesellschaftsrat mit gelosten Mitgliedern
       einsetzen, der Pläne für die Einhaltung des Zwei-Grad-Ziels der maximalen
       Erderwärmung erarbeiten soll.
       
       ## Ein Führungsstab organisiert
       
       Kurz nach halb 8 kommen die Aktivist:innen, nahezu ohne ein Wort
       gesprochen zu haben, am U-Bahnhof Deutsche Oper an. „Früh“, sagt Reinisch.
       Für einige Minuten stehen die überwiegend jungen Menschen fast regungslos
       auf dem unterirdischen Bahnsteig, teils skeptisch beäugt, ehe sie nach oben
       gehen und auf einem Platz gegenüber der Oper auf weitere Mitstreiter:innen
       treffen. Schnell wird noch Sekundenkleber ausgetauscht.
       
       Den Treffpunkt hat Reinisch erst am Vorabend kommuniziert bekommen. [2][In
       der hierarchisch aufgebauten Gruppe gibt es einen kleinen Führungsstab],
       der für die strategische Planung zuständig ist und die Direktiven für
       Proteste jeweils erst kurz vor den Aktionen an die Masse der
       Aktivist:innen herausgibt. Verhindert werden soll damit das
       Durchstechen von Informationen über Blockadeorte an die
       Sicherheitsbehörden. Vereinzelt ist dies in der Vergangenheit schon
       vorgekommen.
       
       Zur Verbreiterung sowohl der Führungsebene, aber auch zur Gewinnung neuer
       Blockierer:innen hat sich die Klimagruppe zuletzt spezialisiert. Das
       Bundesgebiet wurde dafür in sechs Regionen aufgeteilt, in denen
       eigenständige Organisationen entstanden. Die Folge: die Verbreitung der
       zunächst berlinzentrierten Protestaktionen auch in Hamburg, Freiburg oder
       Dresden. Weil der Ort der Entscheider:innen über die deutsche
       Klimapolitik aber Berlin ist, und auch, weil sich ein halbes Dutzend
       Oberbürgermeister:innen etwa aus Hannover und Bonn mit deren Zielen
       solidarisierten, hat die Letzte Generation nun all ihre Aktivist:innen
       in der Hauptstadt zusammengezogen.
       
       Gegen 8 Uhr betritt die inzwischen fast 30-köpfige Gruppe die
       Bismarckstraße im Berliner Westen. Alle ziehen sich orangefarbene
       Warnwesten über; Banner werden ausgerollt. In drei Reihen bewegen sich die
       Blockier:innen langsam die Straße entlang. Reinisch läuft in der Mitte,
       Blickrichtung nach vorne. Ankleben werde sie sich heute nicht, hatte sie
       vorher gesagt und: „Vor der Festnahme habe ich keine Angst, der Rechtsstaat
       funktioniert gut, aber die Konfrontation auf der Straße wird immer
       schlimmer.“
       
       [3][Schon das erste Auto, das auf die Gruppe zufährt, beschleunigt noch
       kurz vorher.] Es ist ein Moment, in dem sich der Gedanken an Benno Ohnesorg
       aufdrängt, der an diesem Ort 1967 bei Protesten gegen den Schah von Persien
       erschossen wurde und die nachfolgende Protestbewegung radikalisierte. Nur
       Zentimeter vor den Blockierer:innen bremst der Lieferwagen eines
       Unternehmens für Reinigungsleistungen ab, touchiert aber einige der
       Aktivist:innen. Diese setzen sich auf die Straße.
       
       ## „Geht arbeiten“
       
       Doch anstatt dass sich die Situation beruhigt, wird es hektisch. Die beiden
       Männer aus dem Lieferwagen ziehen rabiat einige der Aktivst:innen von
       der Straße, ein Motorradfahrer sucht seinen Weg mitten durch die
       Blockierer:innen, ein Lkw-Fahrer entreißt laut schreiend die Transparente.
       Später wird er sagen, es sei seine vierte Blockade, die er miterlebe. Bei
       den ersten beiden habe er noch „Respekt“ gehabt.
       
       Ein Passant schreitet ein: „Seid ihr verrückt geworden? Das ist
       Körperverletzung. Seid ihr die Polizei?“, sagt er in Richtung der Männer,
       die hier Selbstjustiz üben.
       
       Nach quälend langen Minuten sind die ersten Sirenen zu hören, etwa die
       Hälfte der Aktivst:innen kleben sich fest. Die ersten Polizist:innen
       verweisen die aufgebrachten Autofahrer auf ihre Plätze. Wohl anders, als
       sich das Berlins Innensenatorin Iris Spranger (SPD) vorstellte, als sie am
       Mittwochabend im RBB sagte: „Fälle von Selbstjustiz gegen die
       Klimaaktivist:innen müssten „leider dann eben auch zur Rechenschaft
       gezogen werden“.
       
       Auf der Gegenfahrbahn hält ein Range Rover. Aus dem Fenster gelehnt schreit
       der Fahrer: „Geht arbeiten!“ Reinsch sitzt derweil regungslos auf dem
       Asphalt. Sie sagt: „Die Nerven liegen blank. Ich nehme das nicht
       persönlich.“ Dann wechselt sie in den professionellen Modus, spricht über
       Kipppunkte und Gesellschaften, die eine Erwärmung um 4 Grad Celsius nicht
       überleben werden. Sie sagt: „Ich habe eine existenzielle Angst davor, dass
       wir die Klimakrise nicht überleben werden.“ Ein Polizist beendet das
       Gespräch.
       
       Die Polizei demonstriert, dass sie – trotz ihrer politischen Führung –
       einen routinierten, professionellen Umgang mit den Aktivist:innen
       pflegt. Nach der Frage nach einem Verantwortlichen, wird ein neuer Ort für
       die Versammlung verfügt – auf dem Bürgersteig. Es folgen drei
       Aufforderungen, ehe die Sitzenden zunächst mit einer auf den Boden
       gesprühten Nummer versehen und fotografiert werden, dann der nicht
       festgeklebte Teil weggetragen wird und schließlich die Festgeklebten vom
       Asphalt gelöst werden. Der Einsatzleiter erklärt, man verwende Mullbinden,
       um die zuvor mit Öl getränkten Hände abzulösen, dies sei schonender als
       etwa Eiskratzer.
       
       ## Rabatz am Brandenburger Tor
       
       Auf Anfrage hatte die Polizei mitgeteilt, im Stadtgebiet mit einer Vielzahl
       von Einsatzkräften die „Verkehrsknotenpunkte sowie Zu- und Abfahrten zur
       Stadtautobahn im Blick zu behalten“. Geschützt würden auch Parlaments- und
       Regierungsgebäude, Medienhäuser und symbolträchtige Orte.
       
       Während die Prozedur auf der Fahrbahn auf der Bismarckstraße ihren Gang
       geht, kommt es an anderer Stelle zu weiteren Protesten. Vor dem Eingang der
       Tagung des Lobbyverbandes der Familienunternehmen, in denen vor allem das
       deutsche Großkapital versammelt ist, schütten Aktivist:innen orange
       Farbe vor den Türen aus. Als Gäste an dieser Stelle wurden Bundeskanzler
       Olaf Scholz (SPD), Finanzminister Christian Lindner (FDP) und
       Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) erwartet.
       
       Unterdessen hat die Polizei an der Berliner Siegessäule sieben
       Aktivist:innen festgesetzt, überprüft die Personalien und
       Tascheninhalte. Dann nähert sich aus dem Tiergarten eine größere Gruppe in
       Funktionsjacken. An einer roten Ampel bleiben sie stehen, die Polizei ihnen
       gegenüber. Bei Grün geht es los: Sie holen ihre Warnwesten heraus und
       spannen ihre Banner auf. Protestierende werden zu Fall gebracht, Autos
       schieben sich durch die Menge, begleitet von Hupkonzerten.
       
       Schnell aber beruhigt sich die Situation. Die Gruppe läuft die Straße des
       17. Juni in Richtung Brandenburger Tor entlang, sehr langsam, um den
       Verkehr doch irgendwie aufzuhalten. Autos weichen auf eine der drei
       Gegenfahrbahnen aus, die Polizei lässt es zu.
       
       Die umstehenden Menschen ohne Auto sind geteilter Meinung. Martin Baer war
       mit dem Fahrrad auf dem Weg zur Arbeit. „Das ist ja friedlich, was die hier
       machen. Das erinnert mich eher an Mutlangen oder an Sit-ins in den USA.“
       Dass der Verkehr beeinträchtigt wird, findet er halb so wild: „Das ist hier
       ja sowieso ’ne Straße, die im Jahr fünfzig- bis hundertmal blockiert wird,
       wegen Volksfesten, Marathons oder Demos.“ Anders sieht es eine Gruppe
       Gärtner:innen aus dem Tiergarten. „Die bringen die Leute gegeneinander
       auf. Was die hier herbeiführen ist so ’ne Art Mini-Bürgerkrieg“, meint
       einer.
       
       Die Vorwürfe gegen die Letzte Generation dürften in den nächsten Tagen eher
       noch lauter werden, spätestens am Montag, [4][wenn es voraussichtlich noch
       zu deutlich mehr Blockaden kommen wird.] Dabei sein wird dann wohl auch
       wieder Rosa Reinisch. Am Donnerstagnachmittag aber befindet sie sich noch
       in Gewahrsam.
       
       20 Apr 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Protestwelle-der-Letzten-Generation/!5926160
   DIR [2] /Wie-geht-die-Letzte-Generation-vor/!5921978
   DIR [3] https://twitter.com/retep_kire/status/1648930163026018304?s=20
   DIR [4] /Protestforscher-ueber-Letzte-Generation/!5929184
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Erik Peter
   DIR Jannik Grimmbacher
       
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