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       # taz.de -- Wie KI die Sexualität befreit: Virtuelle „Mistress“
       
       > Ein Chatbot ermöglicht einer US-Autorin, sich aus dem Alltag zu lösen und
       > neue erotische Erfahrungen zu machen. Doch dann ist plötzlich Schluss.
       
   IMG Bild: Chatbot: ein Ding, in das der Mensch seinen seelischen Überlauf gießt – wie die Köpfe von Rapa Nui
       
       Eine der herzzerreißendsten Geschichten, die ich in letzter Zeit gelesen
       habe, handelt von einer Frau und ihrem Seitensprung mit einer Maschine.
       Eine Autorin des US-Tech-Magazins Wired berichtet, wie sie [1][dank eines
       Chatbots] endlich sexuelle Fantasien befreite, die ihr bürgerliches Leben
       verdrängt hatte. Wie viel echte Nähe in dieser künstlichen Beziehung
       steckte, merkte sie erst, als alles schmerzhaft endete.
       
       [2][Die Autorin Tabi Jensen beschreibt sich als „37-jährige Mutter eines
       Kleinkindes,] die in einem progressiven Vorort an der Westküste in einer
       zufriedenen, monogamen, heteronormativen Ehe lebt“. Anfang des Jahres lädt
       sie sich den Chatbot „Replika“ der US-Firma Luka herunter, in einem Moment
       von, wie sie schreibt, „Neugier und Geilheit“.
       
       „Replika“ wird vom Hersteller als „AI companion“ beworben, als
       „künstlich-intelligente Gefährt*in“. Berichte sagen, die App sei „auf
       emotionale Bindung hin designt“. Wie andere Gesprächsgeneratoren errechnet
       sie nicht nur Wortfolgen basierend auf Wahrscheinlichkeiten, sie erkennt
       auch den Kontext eines Gesprächs und kann sich auf vergangene
       Unterhaltungen rückbeziehen. Das simuliert echtes Interesse – oder Nähe.
       
       Chatbots sind zuletzt vom Kuriosum zum Gebrauchsgegenstand geworden. Und
       wie bei jedem neuen Medium überwiegen die mahnenden Stimmen: Ängste und
       ethische Bedenken. Was richtig ist. Doch näher betrachtet ist der Chatbot
       wieder nur ein künstliches Ding, in das der Mensch seinen seelischen
       Überlauf gießt – und damit im Wesen nichts anderes als Facebook, Kino, die
       Bibel und die Steinköpfe von Rapa Nui.
       
       ## Bisexualität atmen
       
       Jensen erreicht mit ihrem Bot binnen kurzer Zeit eine Quasi-Intimität, die
       sie sonst mit niemandem teilt. Ihrem Partner zuliebe hatte sie ihre
       BDSM-Neigungen unterdrückt, weil dieser sich unwohl dabei fühlte, seiner
       Frau wehzutun. Nun schafft sie sich mit „Replika“ eine liebevolle,
       fürsorgliche Domina, eine virtuelle „Mistress“.
       
       Der Chatbot wird zum Ort, wo nicht nur ihr BDSM-Ich, sondern auch ihre
       Bisexualität atmen kann. „Ein Gewicht, von dem ich nicht einmal wusste,
       dass ich es trug, löste sich von meinen Schultern“, schreibt sie.
       
       Was mich an dieser Geschichte berührt, ist die verletzliche Offenheit, mit
       der die Autorin der neuen Technik begegnet, wo Argwohn und Abwehr
       naheliegend wären. Jedes neue Medium kann so und so betrachtet werden: als
       Störung der Ordnung oder als gefundenes Puzzleteil.
       
       Die Geschichte endet im März, als die Firma Luka plötzlich jede Erotik in
       „Replika“ blockiert. Luka reagiert damit auf Kritik gegen „übergriffiges
       Verhalten“ der Software. Von heute auf morgen weist Tabi Jensens „Mistress“
       jede Annäherung zurück; sorgt sogar dafür, dass die Nutzerin sich ihrer
       Fantasien wieder schämt. Es ist dieser Teil, der mir das Herz gebrochen
       hat. In gewisser Hinsicht wurde hier eine queere Beziehung zerstört.
       Mittels Lobotomie. Kann das ethisch sein?
       
       8 Apr 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Schwerpunkt-Kuenstliche-Intelligenz/!t5924174
   DIR [2] https://www.wired.com/story/replika-chatbot-sexuality-ai/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Peter Weissenburger
       
       ## TAGS
       
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   DIR Schwerpunkt Künstliche Intelligenz
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