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       # taz.de -- Roman über alte und junge Väter: Das Gebiss entspannen
       
       > Sein eigener Vater lieferte Paul Brodowsky kein gutes Vorbild. Wie viel
       > Wut färbte auf ihn selbst ab? Der so schroffe wie ehrliche Roman „Väter“.
       
   IMG Bild: Vom Suchen und Finden der Vaterrolle: Paul Brodowsky in seiner Arbeitswohnung
       
       Unter den Brodowsky-Geschwistern im Roman „Väter“ kursierte in der Kindheit
       ein Code-Begriff für die Wutanfälle des Vaters: das „Schafe schlachten“.
       Als unauffällige Warnung vor dem Aggressionsgewitter, das sich willkürlich
       entladen konnte („Nicht, dass dann wieder Schafe geschlachtet werden“) oder
       als Formel, die man sich entnervt zuraunte, wenn es gerade wieder passiert
       war („Vorhin wurden deshalb wieder Schafe geschlachtet“).
       
       Wenn der Vater Schafe schlachtete, dann verzog sich das Gesicht zur
       sogenannten Vatergrimasse, dann wurde der Kiefer aufeinandergepresst und
       die Luft scharf eingesogen; dann wurde nicht gesprochen, sondern gebellt.
       
       Als Paul Brodowsky, der Ich-Erzähler, von den acht Geschwistern der
       jüngste, selber Vater ist, will auch sein Gesicht sich immer wieder in
       diese Grimasse hineinlegen. Wenn der sechsjährige Milan ihn zur Weißglut
       bringt, eine Schraube festgerostet ist, wenn ein Bekannter irgendwas
       Rechtes auf Facebook postet. Dann erschreckt er, denkt „die Vatergrimasse!“
       und versucht das malmende Gebiss zu entspannen.
       
       Für Paul Brodowsky, den realen, war diese Wut, die er an sich selbst
       entdeckte, einer der Erzählmotoren für „Väter“. An einem Mittwoch sitzt er
       jetzt in seiner Arbeitswohnung am Berliner Maybachufer, ein Zimmer,
       funktional-studentisch, tropfender Wasserhahn, bisschen zugig, alter
       Mietvertrag.
       
       ## Jahre auf der Napola
       
       Der 42-Jährige hat einen Roman geschrieben, seinen ersten, über einen Mann
       namens Paul Brodowsky, zweifacher Vater und Sohn eines Professors,
       aufgewachsen mit vielen Geschwistern in Schleswig-Holstein; ein in Neukölln
       lebender Dramaturg und Dozent an der Uni, der, als sein erstes Kind zur
       Welt kommt, beginnt, sich mit der Kindheit des eigenen Vaters
       auseinanderzusetzen. Ihn über einen langen Zeitraum hinweg interviewt zu
       seinen Jahren in der Napola, der Nationalpolitischen Erziehungsanstalt, an
       der Jugendliche während des „Dritten Reiches“ [1][zur künftigen NS-Elite
       herangezogen] werden sollten. Der herausfinden will, wie die Traumata
       seines Vaters ihn selbst geprägt haben, und über diese Unternehmung einen
       Roman schreibt.
       
       So weit, so meta, denn all das trifft auch auf den realen Paul Brodowsky
       zu, was es ein bisschen hakelig macht, Fragen über ihn und das Buch zu
       stellen: dem Ich-Erzähler aus „Väter“ also nicht ständig die Fiktion
       abzusprechen oder voreilige Schlüsse auf Vita und Psyche seines Erfinders
       zu ziehen. Der Roman ist „fiktionalisiert und subjektiviert“, so Brodowsky,
       manches weit weg und verfremdet, einiges nah dran und womöglich genauso
       gewesen.
       
       Mit der Entscheidung, dem Romanhelden den eigenen Namen zu geben, wollte
       Brodowksy „Väter“ einerseits als eindeutig autofiktionalen Stoff
       kennzeichnen, andererseits versuchen, möglichst „schroff, offen und
       ehrlich“ zu sein, insbesondere, wenn es um die Täter-Vergangenheit seiner
       Familie geht: Paul Brodowsky ist nach seinem Großonkel benannt,
       NSDAP-Funktionär und derjenige, der seinen Vater seinerzeit zur Napola
       schickte.
       
       Für den Ich-Erzähler, wie auch für Paul Brodowsky, verändert die Geburt des
       ersten Kindes die Art und Weise, wie sie sich selbst in der Zeit verorten.
       War das Leben vorher in leicht verdauliche Wochen- und Jahresrhythmen
       eingeteilt, ohne Notwendigkeit, den Blick weit in die Zukunft oder in die
       Vergangenheit zu richten, denkt der 30-jährige Brodowsky mit Neugeborenem
       im Arm plötzlich in Generationen. Rechnet 30 Jahre vor und 30 Jahre zurück
       und nochmal zurück, ist beim Jahr 1950, das nur 30 Jahre vor seiner eigenen
       Geburt liegt, fünf Jahre nach Ende des Nationalsozialismus.
       
       ## Geröll der Nachkriegszeit
       
       „Ich glaube, dass mit dieser neuen Zeitwahrnehmung auch eine neue Art von
       Verantwortung und Politisierung einhergeht“, sagt Paul Brodowsky. Eine
       Auseinandersetzung damit, was die eigenen Eltern an „unbeleuchtetem
       Geröll“, wie es im Roman heißt, aus der Kriegs- und Nachkriegszeit mit sich
       herumtragen, und wie einen dieser „Schutt und Schlamm“ beim Aufwachsen
       geprägt hat. Was davon sich vielleicht festgesetzt hat in einem selbst. Und
       wie man es loswird. Womit wir wieder bei der Wut wären.
       
       Mit der Vaterschaft enden für den Paul Brodowksy im Buch die Jahre des
       „emotionalen Mezzo“. Die späte Jugend, die Zwanziger, in denen er zwar
       starke Gefühle durchlebte, aber eben nicht die großen Erschütterungen, die
       „kalte gedeckelte Wut“, die irgendwann umschlägt in Schreien und den Drang,
       auf etwas einzutreten.
       
       Die Mezzojahre sind für den Ich-Erzähler eine Phase der sich öffnenden,
       sich ihm zuwendenden Welt, in der dem jungen Mann aus gutbürgerlichen
       Verhältnissen alles nur so zuzufallen scheint. Eigene Theaterinszenierungen
       an der Schule, ein Platz im [2][Schreibstudiengang in Hildesheim,] erste
       Veröffentlichungen seiner Texte.
       
       Dass all das so kommen musste, wird ihm schon als Kind vermittelt, in der
       Familie herrscht eine Art Überlegenheits-Denke, der „Brodowsky
       Exceptionalism“, dessen Ursachen sich der Ich-Erzähler mit den
       Vater-Interviews annähern will.
       
       ## Ringen um die Care-Arbeit
       
       Der echte Paul Brodowsky in seiner Arbeitswohnung am Maybachufer sehnt
       sich nicht zurück in dieses „halbbewusste Selbstbewusstsein“ vor dem ersten
       Kind, in dem für ihn fast schon ein „kolonisatorischer Gestus“ lag, so was
       „Welteroberndes und Ungebrochenes“, heute findet er das erschreckend.
       
       Der neue emotionale Ausnahmezustand als Vater hängt für ihn auch mit dem
       permanenten Ringen um [3][faire Aufteilung der Care-Arbeit] zusammen, dem
       Versuch, zwischen alldem beruflich weiterzukommen und natürlich für die
       Kinder da zu sein, und zwar auf eine andere Weise als der eigene Vater.
       
       Im Buch gibt es seitenlange Strecken, auf denen Paul und seine Partnerin
       Judith sorgsam Kita-Übergaben und Arztbesuche vorausplanen, nur damit diese
       Alltags-Choreografien im Anschluss in sich zusammenfallen, weil
       beispielsweise das Schloss des Lastenrads kaputtgeht.
       
       Dazwischen versucht der Ich-Erzähler herauszufinden, welcher Vater er
       eigentlich sein will. Zur Orientierung nutzt er überwiegend die
       Unzulänglichkeiten des eigenen, er seziert, was der falsch machte, und
       zieht daraus seine Schlüsse. Haben Gegenwartsväter keine Positiv-Vorbilder?
       Finden sie ihre Rolle nur über Abgrenzung?
       
       ## Momente der Erkenntnis
       
       Schon als Kind habe Paul Brodowsky für sich entschlossen, nie zu werden wie
       der eigene Vater, und das sei natürlich ein starker Gedanke, aber „daraus
       entsteht ja erst mal kein Handlungsgerüst, man befindet sich wie auf einer
       leeren Ebene“. Trotzdem habe Vaterschaft für ihn ganz viel mit „Unlearning“
       zu tun, also familiäre Dynamiken, mit denen man aufgewachsen ist, zu
       erkennen und abzubauen.
       
       Im Roman resultieren daraus Momente der Erkenntnis: Wenn der Ich-Erzähler
       im Streit mit den Kindern droht, aus dem Haus zu gehen, die beiden allein
       zu lassen, dann merkt er, dass sie mit existenzieller Angst darauf
       reagieren – und nicht mit Erleichterung, so wie er selbst, als er Kind war
       und sein Vater einfach abhaute.
       
       Je länger der Ich-Erzähler an seinem Romanprojekt arbeitet, desto
       naturgewaltiger werden die Metaphern, mit denen er es beschreibt: Mal muss
       er sich hineinbegeben in ein Bergmassiv, das Faltengebirge überqueren oder
       in dunkles Wasser der Ostsee abtauchen. Und auch für die Leserin ist
       „Väter“ eine herausfordernde Expedition, auf der man die Route hin und
       wieder hinterfragt – besonders wenn sich das Gefühl einschleicht,
       verlorenzugehen, zwischen Jugenderinnerung, Gegenwartsanekdote,
       akademischer Analyse von Machtphantasmen und historischer Aufarbeitung der
       Familienvergangenheit. Oder der Ich-Erzähler allzu waghalsige Parallelen
       zieht zwischen dem toxischen Männerbild, das seinem Vater eingeimpft worden
       sein muss, und ihm selbst.
       
       Als er etwa wie im Wahn eine wild gewordene Katze aus dem Haus zu jagen
       versucht und darin meint „die gleiche kalte Wut“ der „Täter bei Pogromen“
       wiederzuerkennen. Da wünscht man ihm, das Projekt einfach fallenzulassen,
       den Vater in seiner Unerschütterlichkeit in Frieden zu lassen, denn dass
       der sich auf die Aufarbeitungssitzungen mit seinem Sohn nur minimal
       einlassen wird, ist schon früh klar.
       
       ## Suchen und Finden einer Rolle
       
       „Väter“ ist dann am stärksten, wenn man dem Helden beim Suchen und Finden
       seiner Rolle in der eigenen kleinen Familie zuschauen darf, seinen
       Bemühungen, den Kindern nicht als Mann, sondern Mensch präsent zu sein und
       ihnen irgendwann mal möglichst wenig „unbeleuchtetes Geröll“ zu
       hinterlassen.
       
       Die Gnadenlosigkeit seinem Vater, dem Patriarch, gegenüber ist phasenweise
       schwer zu ertragen und wird nur gelindert durch die Härte, mit der er sich
       selbst analysiert und das eigene Alltags-Klein-Klein ausstellt. Wobei der
       Ich-Erzähler jede noch so absurde Szene mit den Kindern in einer solchen
       Ernsthaftigkeit referiert, dass man sich manchmal fragt, wo eigentlich der
       Humor geblieben ist.
       
       Doch ist diese Ernsthaftigkeit auch rührend und Kern des Romans. Brodowsky
       versucht beim Thema Vaterschaft nicht ansatzweise, Lächerlichkeiten
       aufzuspüren, sein Protagonist ist dead serious, wenn er
       Erziehungsstreitigkeiten mit der Schwiegermutter nacherzählt oder das
       Zubettbringen der Kinder beschreibt. Und tatsächlich ist das
       Nichtvorhandensein jeglicher Ironie hier auf eine eigene Art erfrischend.
       
       28 Apr 2023
       
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