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       # taz.de -- Andreas Maiers Roman „Die Heimat“: Ein Land vor der Sesamstraße
       
       > Der Schriftsteller Andreas Maier springt und hascht nach der verlorenen
       > Zeit. Sein Roman „Die Heimat“ beschreibt, was sich hier alles verändern
       > musste.
       
   IMG Bild: So waren die 70er Jahre. Das Kreuz und das römische Imperium gehörten dazu
       
       Schwester Adelheid, so heißt die Nonne. Sie leitet den Religionsunterricht
       auf diesem Gymnasium in Hessen. In das weltliche Treiben der Schulklasse
       bricht Schwester Adelheid mit dem Maß ihrer Inbrunst ein wie ein Alien.
       Andreas Maier beschreibt das so: „Alles, was sie mit viel zu hoher Stimme
       und stets deklamierend in ihrer einen Stunde pro Woche darbot, war
       monströs. Es ging in einem fort um Leiber, Sterben, Tote, um Zeugnisse
       inbrünstigen Glaubens, um Verklärung und Erlösung.“
       
       Erlösung in Westdeutschland. Wir sind in den 70er Jahren in der alten und,
       was Inbrunst betrifft, eigentlich stark abgerüsteten Bundesrepublik.
       Selbstverständlich war dieses religiöse Pathos längst aus der Zeit
       gefallen. Aber es war eben auch noch authentisch vorhanden in der
       Lebenswelt der angehenden Abiturienten. Und es hatte Stacheln.
       
       Wie viel Aggressivität Schwester Adelheid antreibt, erzählt Andreas Maier
       so lakonisch wie gekonnt. Was macht ihr, wenn ihr zum Äußersten gebracht
       werdet und die Kraft schwinden spürt, euren Glauben zu bewahren vor den
       Feinden?, lässt er sie ihre Schülerinnen und Schüler fragen. Und sich
       selbst die Antwort geben: „Kinder, dann müsst ihr euch selbst töten!“
       
       ## Springen nach der verlorenen Zeit
       
       Andreas Maier umreißt in diesem Roman auf 245 Seiten vier Jahrzehnte
       Mentalitätsgeschichte – nein, das klingt zu sperrig. Lieber: Er geht
       erzählerisch seitlich an vier Jahrzehnten Mentalitätsgeschichte vorüber.
       Und dabei entwirft er keine geruhsam sich entwickelnde Suche nach der
       verlorenen Zeit. Es ist eher ein Springen und ein Haschen nach ihr.
       
       Der 1967 geborene Schriftsteller muss das Gewesene nämlich gar nicht groß
       als historischen Roman rekonstruieren. Er kann etwas Besseres. Er kann
       die Fremdheit des Vergangenen aufblitzen lassen und so einen Eindruck davon
       vermitteln, wie weit entfernt von der Gegenwart es inzwischen ist. Und
       zugleich, wie sehr es immer noch da ist, wenn man nur ernsthaft ein
       bisschen gräbt.
       
       Gegen Ende des Romans reflektiert der Ich-Erzähler mit einer Mischung aus
       Staunen und Klarheit, die man nur bewundern kann, seine Herkunft. Seine
       „eigene Vergangenheit“ bezeichnet er als den „entferntesten Ort“ seines
       Lebens: „Ein Land vor der Sesamstraße […] Ein Land erst fünfundzwanzig
       Jahre nach Adolf Hitler.“ Und in diesem Land sind heutige Erwachsene, die
       mitten im Leben stehen, zum Beispiel noch mit solcher Schwarzen Pädagogik
       wie der von Schwester Adelheid aufgewachsen.
       
       Der Einblick in den Religionsunterricht ist dabei keine bloße Anekdote,
       sondern zielt ins Grundsätzliche. „Die Heimat“ lautet der Titel dieses
       Romans, der [1][Andreas Maiers 2010 begonnenes Erzählprojekt]
       „Ortsumgehung“ als inzwischen neunter Teil fortführt, den man aber auch gut
       für sich lesen kann. Der Titel ist mit vollem Ernst in all seiner Schwere
       aufs Cover gesetzt.
       
       ## Heimatbegriff und Heimatdiskurs
       
       „Man muss sich unsere damalige Heimat wie ein verängstigtes, aggressives
       Tier vorstellen. Die Furcht vor dem Fremden war allerorten“, schreibt
       Andreas Maier. Zugleich konstatiert er eine markante Lücke zwischen dem
       affirmativ noch mit Blut und Boden gründelnden Heimatbegriff etwa der
       Vertriebenenverbände und den kritischen Heimatdiskursen der, wie er es
       nennt, „linksutopischen Sozialatmosphäre“, für die Heimat ein „Unwort“ war.
       
       In dieser Lücke ist Andreas Maier aufgewachsen. Er will sie in diesem Roman
       nicht erzählerisch füllen, schon gar nicht heilen – jenseits des Umstands,
       dass sein Erzähler die Wetterau irgendwann als seine Heimat bezeichnet –,
       sondern erzählerisch ausmessen.
       
       Damit rührt der Roman, stets beim Konkreten und Individuellen bleibend, an
       grundlegende Erschütterungen und Versäumnisse der Bundesrepublik. In einer
       markanten Szene sitzt der Vater des Erzählers im Wohnzimmer und zeichnet
       etwas mit dem Videorekorder auf – ein technisches Gerät, das sich gerade
       erst im Alltag durchgesetzt hat. Andere Väter taten das Gleiche.
       
       Andreas Maier: „In den folgenden Tagen herrschte Unruhe auch unter meinen
       Mitschülern. Offenbar waren in jeder Familie seltsame und ungewöhnliche
       Dinge vorgefallen, was das Fernsehzimmer betraf.“
       
       ## „Holocaust“-Serie im deutschen TV
       
       In den Schulhofgesprächen der Schüler sickerte dann allmählich durch, was
       die Väter da aufnahmen: „Die führen da Leute in so einen Raum, und dann
       lassen die Gas rein, und die sterben alle! Die im Raum wussten das aber
       vorher nicht, die haben gedacht, sie gehen bloß duschen!“ Die Fernsehserie
       „Holocaust“ war im deutschen Fernsehen gezeigt worden.
       
       Bei solchen mit knappen erzählerischen Strichen hingeworfenen Szenen hält
       man beim Lesen immer wieder die Luft an. Andreas Maier verpackt hier nicht
       einfach nur Bekanntes literarisch. Das Literarische an diesen Szenen
       leistet vielmehr Augenöffnendes.
       
       Der Punkt ist, dass Andreas Maier nicht nur vermitteln kann, wie weit
       entfernt die gerade einmal eine Generation zurückliegende Erfahrungswelt
       inzwischen geworden ist, sondern auch, wie eingebunden und verstrickt die
       Personen in sie waren und teilweise bis heute sind.
       
       Er beschreibt nicht nur, wie fremd einem die eigene Vergangenheit
       inzwischen geworden sein kann, sondern gleichzeitig auch von innen heraus
       die Verrenkungen der Menschen, sich aus ihr herauszuarbeiten. Die Fremden
       sind nicht die Anderen. Die Fremden sind „wir“. Das mag abstrakt klingen.
       Bei Andreas Maier wird das konkret.
       
       ## Autofiktionales Schreiben
       
       Die Romanreihe „Ortsumgehung“ begann der Schriftsteller – seine Herkunft im
       Ort Friedberg in der Wetterau, nördlich von Frankfurt, mit immer wieder
       neuen Aspekten umkreisend –, als das autofiktionale Schreiben noch nicht im
       Zentrum des literarischen Diskurses stand. Inzwischen hat sich die
       Autofiktion durchgesetzt, und zwar schließlich von den sogenannten Rändern
       her, weil mit Autofiktionen Aufstiegsschicksale aus Arbeitermilieus (Annie
       Ernaux) und zuletzt etwa auch queere Erfahrungswelten (Kim de l’Horizon)
       fassbar wurden.
       
       Andreas Maier aber schreibt in seiner „Ortsumgehung“ Autofiktion vom
       Zentrum aus – Mittelklasse, Mitte Deutschlands, seine Familie hat Teil
       sowohl an den Aufstiegs- wie Sicherheitsversprechen der Bundesrepublik. Und
       dabei lässt Andreas Maier immer wieder aufblitzen, wie brüchig und auf
       Verschwiegenem aufsitzend diese Mitte der Gesellschaft war.
       
       „Wir sind die Kinder von Schweigekindern“, lautet eine in dieser
       „Ortsumgehung“ einschlägige Formel. In den vorangegangenen Teilen hat
       Andreas Maier gezeigt, wie Konflikte innerhalb der Familie immer wieder
       nicht angesprochen, sondern unter vermeintlicher Normalität zugedeckt
       werden. In diesem Teil „Die Heimat“ kann man sehen, dass sich das mit der
       Gesamtgesellschaft trifft.
       
       Allmählich ändert sich schließlich aber in der Gesellschaft der Umgang mit
       der Nazivergangenheit, auch das beschreibt Maier. Statt sie weiter zu
       verschweigen, wird sie allpräsent in den Medien, an jedem Zeitungskiosk ist
       das Gesicht Adolf Hitlers zu sehen, außerdem, so Maier, „schrie Hitler aus
       allen Fernsehröhren“. Sich an vorgeschobener Normalität festhalten, das
       geht nun immerhin nicht mehr so einfach.
       
       ## Die 80er Jahre
       
       Maier: „Die achtziger Jahre müssen für meinen Vater ein Jahrzehnt
       zunehmender Verwirrung gewesen sein. Verlust der klaren Linien an fast
       allen Fronten.“ Doch das Schicksal der realen Jüdinnen und Juden bleibt
       ausgespart. Es ist weiterhin so, als hätte es sie nie in Friedberg gegeben.
       
       Und dann kommt die Wiedervereinigung. Der Ich-Erzähler läuft in den frühen
       Neunzigern durch die vernachlässigte Innenstadt Meißens, sie ist „in ihrer
       Substanz völlig erhalten und absolut vergammelt“. Irgendwann begreift er,
       dass die Generation seiner Großeltern tatsächlich in einem Staat
       aufgewachsen ist und nicht wie er selbst in einem geteilten Land.
       
       Um so ein Begreifen geht es insgesamt in diesem Roman. „Du setzt deiner
       Heimat ein schwarzes Denkmal“, hat Andreas Maier selbst gleich am Anfang
       des Romans formuliert. Und dieses Schwarze, Drückende der Heimat wird
       bleiben, bis zum Schluss.
       
       Und zugleich geht es um die Art und Weise, wie Andreas Maier das Erinnern
       in Szenen und das Erzählen davon nutzt, um sich das vermeintlich Eigene
       anzueignen, inklusive des Fremden und Fremdbleibenden daran. Wer wissen
       möchte, in was für einem Land wir leben, und wie man darüber Literatur
       schreiben kann, der lese dieses Buch.
       
       27 Apr 2023
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Dirk Knipphals
       
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