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       # taz.de -- Atomkraft in Finnland: Wer ist hier egoistisch?
       
       > Während Deutschland aus der Atomkraft aussteigt, sind in Finnland selbst
       > die Grünen für den Bau neuer AKWs. Die Klimakrise hat Prioritäten
       > verschoben.
       
   IMG Bild: Am Kernkraftwerk Olkiluoto geht Montag der dritte Reaktorblock in den regulären Betrieb
       
       Das „Monument des Egoismus“ ist ein wenig in die Jahre gekommen. Ein
       mintgrünes Graffiti wurde über die rund zwei Meter hohe Steinplatte
       gesprüht, die Greenpeace 2010 in einem Park mitten in Helsinki aufgestellt
       hatte. Auch die eingravierten Namen sind leicht verwittert. Es sind die 129
       finnischen Parlamentarier:innen, die damals für einen Ausbau der
       Atomkraft gestimmt hatten, als Lesehilfe steht auch die jeweilige Partei
       dahinter. „Vihreät“ (Grüne) taucht nicht auf.
       
       Dafür der Fraktionschef der finnischen Grünen, Atte Harjanne. Er kommt auf
       einem der in Helsinki allgegenwärtigen gelben Leihfahrräder am Denkmal an.
       In seiner Verkehrsmittelwahl entspricht Harjanne, 38, also grünen Klischees
       – in seiner Haltung zur Kernenergie weniger. Ob er ein Problem damit hätte,
       wenn sein Name auf dem Denkmal stünde? Nein, sagt Harjanne und schiebt
       schnell hinterher, dass es natürlich auf das Projekt im Einzelnen ankomme.
       Aber er sei für den grundsätzlichen Ausbau. Diese Haltung habe er während
       seines Ingenieurstudiums herausgebildet, erzählt er.
       
       In seiner Partei ist Harjanne in der Atomkraftfrage kein Ausreißer. Von
       [1][den 13 Vihreät-Abgeordneten], die es [2][bei der Wahl am 2. April] ins
       finnische Parlament geschafft haben, stimmen 11 der Aussage zu, dass
       Kernkraft eine der wichtigsten Formen der finnischen Energieerzeugung
       bleiben soll.
       
       Das war nicht immer so: 2002 und 2014 verließen die Grünen die finnische
       Regierung, weil sie den Bau von neuen AKWs nicht mittragen wollten. Doch
       die Dringlichkeit der Erderhitzung hat die Prioritäten verschoben, hin zur
       emissionsarmen Kernkraft, und so änderte sich schrittweise die Position in
       der Partei: 2018, 2020 und 2022 wurde – nicht ohne hitzige Debatten –
       [3][das Parteiprogramm] in dieser Frage angepasst.
       
       ## Auch Kleinreaktoren sind im Gespräch
       
       Heute wird Atomkraft als nachhaltige Energieerzeugung eingestuft, die
       Laufzeiten von Reaktoren sollen verlängert und die Gesetzgebung für den Bau
       von Kleinreaktoren vereinfacht werden. Ein Treiber dieses Sinneswandels ist
       die vor 15 Jahren gegründete innerparteiliche Gruppierung Viite, die sich
       als pro Wissenschaft und Technologie definiert. 10 der 13 grünen
       Parlamentarier:innen sind Teil von Viite.
       
       Bestehende AKWs nicht abzuschalten, sie bis zum Ende des Kohlezeitalters
       quasi zu dulden, ist das eine. Aber sogar neue bauen zu wollen? Sollte das
       Ziel nicht eine komplette Versorgung mit Erneuerbaren sein? Atte Harjanne
       verweist hier auch auf die „Energiedichte“ von Atomkraftwerken. Für die
       gleiche Strommenge brauche man weniger Baumaterial und weniger Eingriff in
       die Natur als bei entsprechenden Windparks oder dann, wenn man Flüsse zu
       Seen aufstaue.
       
       Für Harjanne ist es ein Abwägen der Mittel gegen den Zweck, der
       Wahrscheinlichkeiten gegen die Risiken. Und wenn der Zweck eine möglichst
       intakte Natur bei gleichzeitiger Energiesicherheit sei, sei sein Mittel
       eben ein Mix aus Erneuerbaren und Atomkraft. Den deutschen Weg, länger und
       mehr Kohle zu verbrennen, um am Atomausstieg festzuhalten, sieht Harjanne
       als weniger geeignet an. Man könne sich schon fragen, ob es richtig sei,
       die Atmosphäre der gesamten Erde mit CO2 zu belasten, damit man im eigenen
       Land weniger Atommüll und -risiko habe, sagt er. Aber klar, er wolle den
       Deutschen nichts vorschreiben – würde sich aber dafür wünschen, dass
       Deutschland es umgekehrt auch nicht tue, etwa, was den Umgang mit Atomkraft
       auf EU-Ebene angeht.
       
       Bei der finnischen Parlamentswahl haben die Grünen vier Prozentpunkte und
       ein Drittel ihrer Sitze verloren. Ob das auch an der Energiepolitik liegen
       könnte? Atte Harjanne überlegt, aber nicht lange. Es möge schon sein, dass
       es Stimmen gekostet habe – aber es seien in dieser Frage an anderer Stelle
       welche gewonnen worden, da ist er sicher. Ein Wahlkampfthema war die
       Atomkraft ohnehin nicht, denn die Finnen sind sich ziemlich einig: 80
       Prozent sehen sie positiv, 60 Prozent befürworten sogar einen Ausbau – auch
       eine knappe Mehrheit unter den Grünen-Anhängern. Aktuell besteht die
       finnische Stromversorgung zu mehr als einem Drittel aus Atomstrom; der Rest
       ist vor allem Wind- und Wasserkraft.
       
       Die Begeisterung der Finnen für Atomkraft wird auch dadurch nicht
       geschmälert, dass das AKW-Projekt, das die Grünen 2014 aus der Regierung
       trieb, aufgrund der Beteiligung des russischen Staatskonzerns Rosatom
       inzwischen gestoppt wurde; oder dass sich die Inbetriebnahme [4][des
       dritten Reaktorblocks im AKW Olkiluoto] immer wieder verzögerte und
       Milliarden an Extrakosten verursachte. 2005 begann der Bau, 2009 sollte das
       AKW ans Netz gehen, doch erst in dieser Woche wurde ein erfolgreicher
       Abschluss des Testbetriebs vermeldet. In der Nacht zum Sonntag ging der
       neue Meiler [5][regulär ans Netz].
       
       ## Kein finnischer Sonderweg
       
       Für Atomkraftbefürworter in ganz Europa ist das ein positives Signal, denn
       Olkiluoto 3 ist der erste neue Reaktorblock in der EU seit über zwei
       Jahrzehnten. In der Slowakei ist ein weiterer im Testbetrieb, auch in
       einigen weiteren Ländern gibt es Ausbaupläne, und Polen will mit dem Bau
       von sechs Kraftwerken sogar ganz neu in die Atomstromerzeugung einsteigen.
       
       Allein ist Finnland auf seinem Weg also nicht. Und wird auch dadurch
       bestärkt, dass direkt neben dem AKW Olkiluoto gerade das [6][erste
       Atommüllendlager der Welt entsteht], 400 Meter unter einer Insel an der
       finnischen Westküste. Proteste dagegen? Fehlanzeige. Der finnische
       Naturschutzverband akzeptiert Kernkraftwerke als bestehende Realität, die
       finnische Sektion von Fridays for Future [7][ist für die Einstufung von
       Atomkraft als einer nachhaltigen Energieform]. Und auch für Greenpeace
       stellt sich die Atomfrage aktuell nicht. Ein „Monument des Egoismus“ würde
       man heute jedenfalls nicht noch einmal aufstellen.
       
       Vielleicht hat deswegen auch niemand das mintgrüne Graffiti entfernt. Es
       sagt: „Atomkraft ist das Beste!“
       
       16 Apr 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://tulos.vaalikone.fi/eduskunta2023/is/party?id=13
   DIR [2] /Linker-Politiker-ueber-Abwahl-Sanna-Marins/!5923242
   DIR [3] https://www.vihreat.fi/vihreiden-poliittinen-ohjelma-2023-2027/#tehdaan-reilu
   DIR [4] /Finnischer-Reaktor-geht-ans-Netz/!5829751
   DIR [5] /Atomkraft-in-Finnland/!5928157
   DIR [6] /Endlager-in-Finnland/!5907143
   DIR [7] https://www.fridaysforfuturefinland.fi/2021/12/22/ydinvoiman-puolesta-fossiilikaasua-vastaan/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Brake
       
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